Die Demagogie in Sachen Demographie geht auch im neuen Jahr weiter.

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Zwei Beispiele: Das Statistische Bundesamt kam heute mit einer Pressemitteilung: „2006: Bevölkerungsrückgang hält an.“ Und der Deutschlandfunk fragte:

“Deutschland vor dem Alterskollaps?
Den demographischen Wandel gestalten
Herausforderungen für 2007”

Quelle 1: Deutschlandfunk – Programmtipp
Quelle 2: Deutschlandfunk – Sendung als Podcast

Die Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes enthält nur die halbe Wahrheit. Die Sendung des Deutschlandfunks war einseitig besetzt. Albrecht Müller.

Zur Presseerklärung des Statistischen Bundesamtes:

Die Überschrift lautet ja: „2006: Bevölkerungsrückgang hält an“. Wenn Sie beim Statistischen Bundesamt nach der
“Bevölkerungsentwicklung von 1991-2005“ [PDF – 64 KB] suchen, dann finden Sie – die neue Schätzung für das Jahr 2006 eingerechnet – unter den letzten 16 Jahren fünf Jahre mit Bevölkerungsabnahme und ansonsten eine sehr viel stärkere Zunahme, bedingt durch Zuwanderungen.
In der Grafik kann man auch sehr schön sehen, welche Bedeutung die wirtschaftliche Entwicklung für die Bevölkerungsentwicklung hat. Die kleine konjunkturelle Erholung zwischen 1998 und 2000 schlägt sich z.B. im veränderten Zuwanderungsverhalten nieder (übrigens auch in der Bereitschaft, Kinder zu bekommen).
Das Statistische Bundesamt macht mit solchen Presseerklärungen Stimmung. Zur ganzen Wahrheit würde gehören darüber zu informieren, dass erstens die Bevölkerungszahl mit 82,31 Millionen Menschen immer noch höher liegt als vor 10 Jahren (1996: 82,012), dass sie um fast zwei Millionen höher liegt als vor 15 Jahren (1991: 80,97) und um fast 5 Millionen höher liegt als vor 20 Jahren.

Manchmal ist es hilfreich, sich einfach eine Tabelle anzuschauen [PDF – 55 KB]. Sie finden am Ende dieses Textes eine Tabelle der Bevölkerungsentwicklung ab 1871. Dort können Sie zum Beispiel sehen, dass wir im Jahre 1950 nur 69,34 Millionen Menschen hier im Land hatten. Und Sie können zum Beispiel auch herausfinden, dass in den ersten vier Jahren der Regierung Kohl 1982 ff. die Bevölkerung in Deutschland um über 500.000 Menschen schrumpfte. Schrecklich. Dieser Bevölkerungsrückgang ist weit höher als in den letzten vier Jahren. Wo blieben damals die Schreckensmeldungen des Statistischen Bundesamtes?
Übrigens veröffentlicht das Statistische Bundesamt solche Pressemitteilungen auf der Basis von Schätzungen der Bevölkerungsentwicklung des letzten Jahres zum Jahresanfang erst das dritte Mal, also seit zwei Jahren. Das geschehe auf eine Anregung von Medien hin, hat mir der sachlich zuständige Mitarbeiter gesagt.

Zur ganzen Wahrheit würde zweitens gehören, darauf hinzuweisen, dass sich die Bevölkerungsentwicklung mit einer kräftigen wirtschaftlichen Erholung vermutlich wieder umkehren wird. Vermutlich wird dann demnächst die volle Freizügigkeit innerhalb des erweiterten Europas die Statistik deutlich verändern.

Und nun noch zur Sendung des Deutschlandfunks von 05.01.2007 · 10:10 Uhr

“Deutschland vor dem Alterskollaps?
Den demographischen Wandel gestalten
Herausforderungen für 2007”

Quelle 1: Deutschlandfunk – Programmtipp
Quelle 2: Deutschlandfunk – Sendung als Podcast

Martin Betzwieser, einer unserer aufmerksamen Leser hat die Sendung angehört und folgendes an die Redaktion geschrieben. Wier geben diesen Text wieder, weil darin die nötige Information enthalten ist:

Sehr geehrte Damen und Herren,

an Ihrer eben gelaufenen Sendung zum Thema „Demografischer Wandel“ wollte ich mich beteiligen, rief an, schaffte es leider nicht in die Sendung, möchte aber doch noch einige Anmerkungen auch zum Sendeformat prinzipiell machen

Wir brauchen nicht mehr Kinder sondern mehr Arbeitsplätze; dann werden sämtliche Sozialversicherungszweige hervorragend finanzierbar sein.

Bei der derzeitigen Situation am Arbeitsmarkt kann niemandem für die Entscheidung, keine Kinder zu bekommen, ein Vorwurf gemacht werden. Bei steigender Kinderarmut, Zunahme von befristeten und prekären Beschäftigungsverhältnissen und Leiharbeit und der Situation im Ausbildungsbereich ist es durchaus nachvollziehbar, dass viele lieber auf Kinder verzichten.

Zu den Prognosen der demografischen Entwicklung über 50 Jahre möchte ich Sie animieren, darüber nachzudenken, wie glaubwürdig das ist.

Stellen Sie sich vor, eine solche Prognose wäre 1970 gemacht worden und beurteilen Sie, was alles dazwischen kam: Frühverrentungswelle, Aussiedlerzuzug, Wiedervereinigung, Zusammenbruch des Ostblocks, also Vorgänge, die Einfluss auf die demografische Zusammensetzung der Bevölkerung hatten und in hohem Umfang die Rentenversicherungsträger mit versicherungsfremden Leistungen belasteten.

Stellen Sie sich vor, eine solche Prognose wäre 1900 gemacht worden und beurteilen Sie, was alles dazwischen kam: Da nenne ich nur zwei Weltkriege, welche zweifellos einen enormen Einfluss auf die demografische Entwicklung in ganz Europa hatten.

Beurteilen Sie jetzt selbst, wie seriös solche Prognosen sind. Die vorletzten neun Prognosen des Statistischen Bundesamtes zur demografischen Entwicklung hielten sich im Schnitt vier Jahre und mussten dann jeweils korrigiert werden. Und das Statistische Bundesamt weist immer darauf hin dass solche langfristigen Berechnungen Modellcharakter haben, also auf Basis von Annahmen modellhaft berechnet werden und sich stets ändern können. Solche Hinweise fehlen fast immer in der öffentlichen Berichterstattung.

Zu den Prognosen anderer Forschungsinstitute bzw. Experten müsste jeweils recherchiert werden, von wem diese Forschungen finanziert werden, um die Seriosität beurteilen zu können. Nennen Sie mir einen Namen und ich kann ihnen in ½ Stunde im Internet raussuchen, von welchem Arbeitgeberverband oder Versicherungskonzern die Arbeit finanziert wird.
Beispiele:

  • Professor Bert Rürup, Vorsitzender des Sachverständigenrates, macht Werbung für private Altersversorgung und wird dafür vom Finanz- und Versicherungsdienstleistungsunternehmen MLP bezahlt.
  • Professor Bernd Raffelhüschen vertritt die Gruppierung „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“, die vom Arbeitgeberverband Gesamtmetall mit bis zu 10 Millionen € finanziert wird und ist Aufsichtsratsmitglied beim ERGO-Versicherungskonzern, wo er für seine Tätigkeit u.A. Erfolgsprämien erhält.
  • Das Mannheimer Forschungsinstitut für Ökonomie und demografischen Wandel wird u.A. vom Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft finanziert.

Dann möchte ich noch ein paar Bemerkungen zur Zusammensetzung der Studiorunde machen:
Leider muss ich immer wieder feststellen, dass solche Diskussionsrunden beim Deutschlandradio sehr einseitig besetzt sind.

Die Bertelsmann-Stiftung u. A. in der Benchmarking Gruppe des Bündnisses für Arbeit im Frühstadium der Regierung Schröder an der Vorbereitung der späteren Hartz-Reformen beteiligt, die man alle als gescheitert bezeichnen kann und durch die Hunderttausende von Familien in die Armut gebracht wurden. Die Bertelsmann-Stiftung hat maßgeblichen Einfluss auf die Bildungsreformen, auf die demographische Debatte, auf die Meinungsbildung zur Altersvorsorge und auf die gesellschaftspolitische Debatte insgesamt.

Die Bertelsmann-Stiftung propagiert die private Altersversorgung. Inzwischen haben der Buchclub-Bertelsmann und der AXA-Versicherungskonzern eine Vertriebskooperation für private Altersvorsorgeprodukte. Die Zusammenarbeit sieht vor, dass Mitglieder des Medienclubs umfangreiche Versicherungsleistungen zu speziellen Vorteilskonditionen nutzen können. Wir können alle davon ausgehen, dass Bertelsmann daran verdient.

Wenn ich mir die Brigitte-Kollumne von Till Raether im Internet anschaue, finde ich u.A. seine Erlebnisse beim Zahnarzt, im Urlaub, beim Rauchen und Nichtrauchen, einen Kommentar zum neuen James-Bond-Film und ein Weihnachtsrätsel, also eher trivial. Welche Qualifikation Herr Raether zum Thema demografischer Wandel hat, kann ich nicht erkennen, außer, dass die Zeitschrift Brigitte ebenfalls zum Bertelsmann-Konzern gehört.

Die baden-württembergische Staatsministerin vertritt die identische Meinung zum Thema mehr Kinder, private Altersvorsorge, Rente mit 67

Studiogäste mit einer anderen kritischen Meinung fehlten.

Es würde noch Philip Missfelder fehlen, der vor einigen Jahren Hüftoperationen für über 80jährige in Frage stellte und zum Thema Demografie schon mehrfach dabei war.

Umverteilung von gesetzlicher auf private Rente ändert nichts an der demografischen Situation, am Verhältnis zwischen Arbeitenden und Rentnern, auch nichts Positives an den Finanzierungsproblemen. Im Gegenteil: Private Renten kosten mehr an Vertrieb und Verwaltung und Prämien. Private Rentenversicherungsunternehmen in anderen Ländern gingen oft bankrott (Chile, Großbritannien, USA, Argentinien), mit dem Ergebnis von vielen Milliarden vernichteten Kapitals und Altersarmut.

Leider muss ich auch sagen, dass das Deutschlandradio solche Interessenverflechtungen wie beim Bertelsmann-Konzern nicht aufdeckt und als öffentlich-rechtlicher Sender seiner Informationspflicht nicht ausreichend nachkommt.

Mit freundlichen Grüßen
Martin Betzwieser
Frankfurt am Main

Weitere Anmerkungen von Martin Betzwieser zur Sendung:

Während der Diskussion wurden die Aussagen mehrerer Schüler/innen einer 11. Klasse eingespielt, die alle Sorgen vor finanziellen Engpässen im Alter haben und denen allen klar ist, dass sie private Altersvorsorge betreiben müssen.

Von den vier oder fünf Hörern/innen, die zu Wort kamen, vertraten fast alle die übliche Denkweise. Nur ein sechsfacher Vater fand es interessanterweise nicht so schlimm, dass die deutsche Bevölkerung schrumpft; die Weltbevölkerung explodiert immerhin.

Anhang: Statistisches Bundesamt: Bevölkerung im früheren Bundesgebiet, neue Länder und Deutschland ab 1871 [PDF – 55 KB]