Das Sommermärchen des Bundespräsidenten

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Ein Bundespräsident darf und soll auch seine politischen Überzeugungen vertreten, er darf sogar einer wirtschaftspolitischen Ideologie anhängen, was man aber vom obersten Repräsentanten unseres Staates und seiner Bürgerinnen und Bürger erwarten darf und muss, das ist, dass er wenigstens die Meinungen, ja noch mehr die Sorgen der Mehrheit der Menschen zur Kenntnis nimmt und sich damit auseinandersetzt.
Köhler redet im Sommerinterview des ZDF zwar darüber, „dass sich jeder Gedanken machen sollte, wie wir dieser Entfremdung zwischen Politik und Bürgern etwas entgegensetzen“, er spricht davon, dass sich die Leute danach „sehnen“, „dass sie ernst genommen werden“, er fordert sogar, die „Politiker sollten den Bürgern zuhören“, doch er tut genau das Gegenteil. Er übernimmt die Rolle des rigorosesten Propagandisten der „Reform“-Politik und plappert fast wortwörtlich die Apologetik des Neoliberalismus der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft nach. Wolfgang Lieb.

Gleich dreimal verkündet Köhler in dem Interview auf Usedom den „Erfolg der Reformen“:

1. Das Wichtigste ist, dass die Bundesagentur für Arbeit jetzt in der Lage ist, weniger Arbeitslosengeld auszuzahlen, weil die Beschäftigung zunimmt und die Arbeitslosigkeit abnimmt. Das ist der Erfolg nicht nur der guten Wirtschaftskonjunktur, sondern auch der Reformen.

Hat Köhler nie davon gehört, dass unter den westeuropäischen Ländern Deutschland vor Griechenland den vorletzten Platz bei den Langzeitarbeitslosen einnimmt? Ignoriert er einfach, dass die Zahl der von ALG II Betroffenen im Juni erstmals seit Monaten wieder angestiegen ist und dass jeder zweite Bezieher von Arbeitslosengeld in der Statistik zum Nichtarbeitslosen eingestuft wurde? Interessiert ihn nicht, dass es über 3,2 Millionen „Aufstocker“ gibt, also Arbeitnehmer, die so wenig verdienen, dass sie Leistungen aus dem Arbeitslosengeld beanspruchen müssen?
Für Köhler gilt offenbar die Devise: „Arbeit, egal zu welchem Preis“? Sonst müsste er wenigstens anmerken, dass die Hälfte aller aus der Arbeitslosenstatistik Gefallenen, als Minijobber oder in einer Arbeitsgelegenheit oder in eines der inzwischen auf 600.000 hochgeschnellten Leiharbeitsverhältnissen gelandet ist.
Sind ihm die Zahlen aus dem Finanzministerium eigentlich nicht bekannt, wonach die Ausgaben für das Alg II über 7 Milliarden über der Finanzplanung liegen? Hat der Bundespräsident nie etwas von der Kritik gehört, dass die Bundesagentur ihre Überschüsse damit erzielt, dass sie die Alg II-Bezieher vernachlässigt und in den Bundeshaushalt verschiebt und sich vor allem um die leichter vermittelbaren Alg I- Empfänger kümmert? Ist ihm nicht bekannt, dass die BA einen weiteren erheblichen Teil der Überschüsse durch eine ziemlich radikale Einsparung bei den sog. arbeitsmarktpolitischen Instrumenten erwirtschaftet?
Und vor allem: Hat Köhler auch nur ein einziges nur einigermaßen plausibles Argument für einen Zusammenhang zwischen den Arbeitsmarkt-„Reformen“ und einer Zunahme der Beschäftigung genannt?
Niemand in der Regierung, weder Merkel, Müntefering oder Glos, noch irgendjemand in den Regierungsparteien hat es bisher gewagt, in so plumper Weise die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt „den Reformen“ zuzuschreiben. Denn alle wissen, dass es letztlich vor allem an der konjunkturellen Entwicklung lag, an der wiederum die Politik den geringsten Anteil hatte. Im Gegenteil: Gerade in Deutschland wurde im Vergleich zu anderen Ländern der Aufschwung eher abgebremst, indem nahezu alle politische Energie auf die Verwaltung der Arbeitslosigkeit, statt auf eine wachstumsfördernde Wirtschaftspolitik gelenkt wurde.

2. Ich denke auch, wenn die Regierung weniger öffentlich streiten würde, dann würde der Erfolg, den wir in der wirtschaftlichen Entwicklung und am Arbeitsmarkt sehen und damit auch im Erfolg der Reformen, dann würden das die Leute auch mehr schätzen und sich weniger an den Streitigkeiten aufhalten. Die Regierung vergibt die eigenen Möglichkeiten, den Erfolg zu ihren Gunsten zu reklamieren.

Für Köhler ist es also der Streit innerhalb der Regierung, der den „Erfolg der Reformen“ verdeckt. Da redet der Bundespräsident davon, dass die Politiker den Bürgern zuhören sollen, dass sie ernst genommen werden wollen. Welchen Bürgern hört Köhler eigentlich zu?
Hat er noch nie jemand aus der übergroßen Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger zugehört, die gegen die Rente mit 67, gegen die Mehrwertsteuererhöhung, gegen die Senkung der Pendlerpauschale, gegen die Kürzung des Sparerfreibetrags, gegen die Einschnitte bei den Sonntags-, Feiertags- und Nachtzuschlägen, gegen die Besteuerung der Renten usw. usf. ist. Würde er die Bürger wirklich ernst nehmen, dann müsste er ihnen eine Erklärung liefern, warum die Reformen vor allem in die Taschen der Niedrig- und Normaleinkommensbezieher greifen und was dieser Griff in die Taschen etwas mit dem Erfolg in der wirtschaftlichen Entwicklung und am Arbeitsmarkt zu tun haben soll.
An diese Diskrepanz zwischen Reformgerede und den negativen Auswirkungen für die Bürger denkt Köhler natürlich nicht, wenn er über die „Entfremdung zwischen Politik und Bürgern“ lamentiert.

3. Wir sind weitergekommen mit dem Reformweg, den, das muss ich fairerweise sagen, Gerhard Schröder eingeschlagen hat. Der Reformweg zahlt sich jetzt aus. Ganz wichtig ist, dass man darauf hinweist, dass sich Reformen eben auszahlen.

(Lassen wir mal außen vor, was Köhler damit meint, wenn er einfügt, man müsse „fairerweise“ Gerhard Schröder für den eingeschlagenen Reformweg loben. Das hört sich so ganz nach einem notgedrungenen Lob an einen politischen Gegner an.)

Dieses Loblied auf die sich auszahlenden Reformen ist geradezu zynisch: Für wen hat sich denn der Reformweg ausgezahlt?
Die Anteile der Arbeitseinkommen am Bruttoinlandsprodukt sind in den letzten Jahren mit minus fünf Prozent in Deutschland im Verhältnis zu allen westeuropäischen Staaten am weitesten zurückgegangen. Der Anteil der Arbeitnehmerentgelte am gesamtwirtschaftlichen Einkommen, der im Jahr 2006 noch bei 66,2 % lag ist seit dem Jahr 2000 rückläufig (wie selbst die CDU eingesteht). In den Jahren von 2001 bis 2006 sind die Unternehmens- und Vermögenseinkommen um 32,5 Prozent gestiegen, während die Arbeitnehmereinkommen nur einen Zuwachs von 2,1 Prozent verzeichneten. Auf dem Reformweg ging es für die Ärmeren abwärts und für die Reicheren aufwärts.
Angesichts dieser Fakten ist es geradezu grotesk, wenn Köhler zu den sich auszahlenden Reformen hinzufügt:
„Wenn das noch mehr wahrgenommen wird, hat man eine wichtige Voraussetzung geschaffen, dass die Bürger weiter mitmachen, es sogar wollen, dass wir jetzt nicht auf halber Strecke stehen bleiben. Denn es gibt noch viele unerledigte Aufgaben.“
Eine solche Scharfmacherei zur Erhöhung der Reformdosis hört man eigentlich nur noch aus der Ecke der Arbeitgeberverbände.
Wer die Menschen für so realitätsblind hält, dass sich nicht mehr nachhalten könnten, dass die Mehrzahl unter ihnen zu den Verlierern dieser „Reformen“ zählt, beantwortet die Frage von selbst, „wieso… das Vertrauen der Bürger in die Politik und in das demokratische System so wenig ausgeprägt“ ist.

Da stellt der – wie üblich – unterwürfige Hofberichterstatter Peter Hahne dann mal eine kecke Frage: „Das Etikett Köhler ist neoliberal. Stecken Sie das weg?“
So als hätte der Bundespräsident, die Kampagne der INSM auswendig gelernt, versucht er das inzwischen zunehmend an den negativen Erfahrungen der Mehrheit gescheiterte wirtschaftspolitische Credo wie die Arbeitgeber-PR-Agentur INSM offensiv zu wenden und den Begriff „neoliberal“ mit historischen Reminiszenzen positiv zu besetzen.
Platter kann man eigentlich seine ideologische Nähe zu dieser neoliberalen Propaganda nicht preisgeben.

Typisch für Köhlers neoliberales Credo ist auch, dass es in seiner Vorstellung einer „dynamischen“ Ökonomie ausschließlich auf die „Investitionen“ und auf die „Rahmenbedingungen für die Wirtschaft“ ankommt. Es geht also nur um die Angebotsseite, die Nachfrageseite ist für ihn vernachlässigbar, ja sogar eher eine Belastung für die Zukunft:
„Wir müssen investieren. Wir konsumieren (Das ZDF schreibt pikanterweise „konsolidieren“) heute immer noch zu viel im Vergleich zu dem, was wir für eine gute Zukunft unserer Kinder und Enkelkinder brauchen. Investieren heißt vor allem: Arbeit schaffen und die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft weiter verbessern, so dass die Investitionsquote steigt.“
Ein Ökonom, für den sich ja Köhler hält, müsste doch neben den geringen Anlageinvestitionen doch wenigstens auch zur Kenntnis nehmen, dass der private Konsum in Deutschland mit etwa 0,4 Prozent nur einen ganz geringen Beitrag zum Anstieg des Bruttoinlandproduktes im Vergleich zu seinen westeuropäischen Nachbarn beiträgt. Der Zuwachs des privaten Verbrauchs ist rückläufig und jedenfalls geringer als fast überall in Westeuropa.
Den privaten Verbrauch kann Köhler also wohl kaum gemeint haben, wenn er beklagt, dass „wir“ immer noch zu viel konsumieren.
Sollte unser marktliberaler Präsident dabei aber an die Staatsquote gedacht haben, so sollte er wenigstens zur Kenntnis nehmen, dass in der Eurozone nur noch Irland, Spanien und Luxemburg niedrigere Quoten haben
Die Staatsquote ist mit 45,6 auf den niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung gesunken.
Peter Hahne rühmte den Bundespräsidenten: „Auf den Tag genau vor 17 Jahren konnte man hier im Osten mit der D-Mark 1:1 bezahlen. Sie haben mit Theo Waigel die Währungsunion auf den Weg gebracht.“
Oh hätte er dem heutigen Bundespräsidenten doch dazu die Frage gestellt, warum gerade mit seiner damaligen Amtszeit die Staatsquote so stark angestiegen ist und warum gerade durch die falsche Finanzierung der Einheit die Sozialsysteme überfordert worden sind.
Aber solch kritische Fragen wären für Peter Hahne und das ZDF wohl eine Majestätsbeleidigung.