Das reich gewordene Irland lebt immer noch in den Infrastrukturen eines staatlichen Armenhauses

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Irland ist für die neoliberalen Reformer ein Vorzeigeland, hohe Wachstumsraten, relativ niedrige Arbeitslosigkeit, keine Staatsverschuldung, niedrige Unternehmenssteuern. Die OECD stuft Irland als eines der reichsten Länder ein. Doch nicht alles ist Gold, was glänzt, so schreibt jedenfalls Marion van Rentgerheim in Le Monde. Gerhard Kilper hat uns den Beitrag ins Deutsche übertragen.

Zusammenfassung eines in der Pariser Tageszeitung Le Monde vom 21.9.2007 erschienenen Artikels mit dem Titel „L’Irlande, enrichie, a conservé les infrastructures d’un Etat pauvre“. Autorin: Marion van Rentgerheim

Der irische Ministerpräsident Bertie Ahern weilte anlässlich der in Frankreich ausgetragenen Rugby-Weltmeisterschaft in der französischen Hauptstadt und traf sich hier mit dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy. Sarkozy hatte den Franzosen in seinem Wahlprogramm einen „radikalen Bruch“ mit der „alten“ Wirtschafts- und Finanzpolitik angekündigt. Eine neue Politik forcierter ökonomischer Liberalisierung solle Frankreich endlich von seinen Wachstumsbremsen befreien.
Europäisches Vorbild für eine erfolgreiche ökonomische Liberalisierung ist die Republik Irland, Irland gilt als „das“ Vorzeigeland mit sagenhafter ökonomischer Bilanz. Nach Ahern bescherte eine auf der einfachen Zauberformel „Steuersenkungen schaffen mehr wirtschaftliche Aktivität und daher am Ende auch mehr Einnahmen“ beruhende Finanzpolitik seinem Land innerhalb eines Vierteljahrhunderts den Wandel vom Armenhaus Europas zum – gemessen am Sozialprodukt pro Kopf – nach Luxemburg reichsten europäischen Land.

Die Autorin Rentgerheim schreibt, die irische Wachstumsrate von rund 5% sei doppelt so hoch wie die Frankreichs, Irlands Arbeitslosenquote betrage nur 4,2 % und der irische Staatshaushalt sei mit null Schulden vollkommen ausgeglichen. Doch leider störe die soziale Wirklichkeit Irlands den allzu schönen Schein der Zahlen. In Balbriggan etwa, einer nördlichen Vorstadt Dublins, sei im Zuge der politisch gewollten Gastarbeiterzuwanderung ein Afrikaner-Viertel aufgebaut worden. Und hier konnten zu Beginn des neuen Schuljahrs rund 100 ABC-Schützen wegen fehlender Klassenräume nicht eingeschult werden!

Der irische Staat habe zwar beim Bau neuer Stadtviertel geholfen, aber schlicht die gleichzeitige Entwicklung einer entsprechenden Dienstleistungs-Infrastruktur – vom öffentlichen Transport- und Verkehrswesen, Kindergärten, Schulen und Krankenhäusern bis zur Ansiedlung von Einkaufszentren – schlicht vergessen.
Da im katholischen Irland das Schulwesen zu 98% in der Hand der katholischen Kirche liege und da in diese konfessionellen Schulen bevorzugt katholische Schüler aufgenommen würden, seien für die Einschulung schwarzer Erstklässler eben keine Plätze mehr übrig gewesen (44 laizistischen Grundschulen stehen 3200 konfessionell-katholische gegenüber).

Nach Rentgerheim rechtfertigt der irische Ministerpräsident seine Politik mit dem Argument, die starke Zunahme der Immigration habe die Regierung überrascht (9% der irischen Arbeitnehmer sind heute Immigranten, die Regierung ging von höchstens 5% im Jahr 2010 aus). Ahern verweist auf die Anstrengungen seiner Regierung zur Reduzierung des irischen Nachhinkens im Infrastrukturbereich – tatsächlich waren die öffentlichen Infrastruktur-Investitionen Irlands mit 5,4 % des Bruttosozialprodukts immer noch doppelt so hoch wie im EU-Durchschnitt.

Rentgerheim fährt fort, trotz dieser Investitionen führe der nur sehr gering entwickelte städtische Personennahverkehr zeitweise nicht nur zu einem Monsterverkehr auf den Straßen, sondern auch zu einem unglaublich hohen Fußgänger-Aufkommen auf den Bürgersteigen Dublins. Ein anderes Beispiel für Mängel in der irischen Infrastruktur bilde Galway, neben Dublin eine der wichtigsten Großstädte des Landes: hier habe es ein halbes Jahr lang kein Trinkwasser gegeben. Und in den ausschließlich privat organisierten Krippen Irlands seien die Krippenlätze so teuer, dass sich Alleinerziehende keinen Krippenplatz leisten könnten. So nehme Irland beim Verhältnis der staatlichen Ausgaben für Erziehung und Gesundheit/Kopf zum Sozialprodukt/Kopf innerhalb der EU einen unteren Rang ein. Und dies obwohl gesunde Staatsfinanzen eine staatliche Kreditaufnahme zur Finanzierung dringender Infrastrukturmaßnahmen ohne weiteres ermöglichen würden.

Rentgerheim zitiert den angesehenen Herausgeber der Irish Times Finton O’toole, der meint, die Regierung lasse sich immer noch vom alten Glauben leiten, hohe Wachstumsziffern allein könnten aus sich heraus alle gesellschaftlichen Probleme lösen… Zwar besäßen die Iren heute schöne Autos, doch wenn man in Irland krank werde, müsse man sich zunächst zwei Tage lang von medizinischen Notdiensten versorgen lassen, bevor man angemessen behandelt werde. Den Iren bleibe zwar von ihrem neuen Wohlstand, dass sie individuell reich geworden seien – aber in einem Land, das diesen Eindruck nicht vermitteln könne. Irland habe das Glück, über die erforderlichen Ressourcen zu verfügen und müsse dringend seine Fähigkeiten zu (politisch-sozialer) Phantasie und zu strategisch-langfristiger Planung unter Beweis stellen.
Bis dahin aber, merkt die Autorin Rentgerheim ironisch an, lebten die Iren wohl weiter ihr schönstes Leben aller Zeiten.