ZDF zum neuen Labour-Chef: „Er gilt nicht nur Konservativen als linker Spinner“

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Diese Einlassung finden Sie bei Minute 9:52 der Sendung heute vom 12.9.2015. Weitere Angaben zur Vorsitzendenwahl in Großbritannien finden Sie zum Beispiel auf der Onlineseite von Heute.de: „Großbritannien: Corbyn neuer Labour-Chef“ Und damit Sie auch einen Originalton des mit 59,5% gewählten Jeremy Corbyn hören und sehen können, verweisen wir auf die erste Rede: „Jeremy Corbyn’s first speech as Leader of the Labour Party“. Diese Rede hat er natürlich auf Englisch gehalten. Sobald sich eine Übersetzung findet, tragen wir das nach. – Was ist von dem Etikett „linker Spinner“ zu halten? Und ist Labour mit dem neuen Vorsitzenden so chancenlos, wie es allerorten heißt? Albrecht Müller

  1. Linker Spinner? Was ist das? Ein Mensch mit selbstverständlichen und sachlich begründeten Forderungen

    Typisch bei der Einlassung über den „linken Spinner“ Jeremy Corbyn ist, dass sich das ZDF wie auch andere Medien bei der dort geläufigen Etikettierung auf Hörensagen, also auf andere Quellen berufen: „Er gilt nicht nur bei Konservativen als linker Spinner“. Wir kennen diese Methode der Denunziation, zuletzt eindrucksvoll praktiziert von Wolfgang Storz in seiner Querfront-„Studie“ für die Otto Brenner Stiftung. Weder werden fundierte Quellen genannt noch wird das Urteil des Etiketts begründet. In Bezug auf den neuen Vorsitzenden der Labour Party heißt es typisch: „Kritiker sprechen“ vom „weit links stehenden neuen Vorsitzenden, er komme „vom linken Rand“. Er sei ein „Parteispalter“. Er sei „rückwärtsgewandt und radikal“. – Offenbar haben Journalisten keine Zeit für eigene Recherchen oder sie wollen diese gar nicht. Deshalb diese hilfreiche Methode, angebliche Kritiker zu zitieren. Siehe dazu das verlinkte heute.de.

    Im Falle Jeremy Corbyns ist das Etikett äußerst fad und unbegründet:

    • Linker Spinner ist, wer die fatale Privatisierung der britischen Eisenbahn, die kein vernünftiger Mensch mehr rechtfertigt, rückgängig macht.
    • Ein linker Spinner ist, wer gegen die Kriege antritt, die seit 15 Jahren die weite Region des Nahen Ostens, Mittleren Ostens und Nordafrikas destabilisiert haben und von Afghanistan bis Libyen Millionen Menschen getötet, verletzt und in die Flucht getrieben haben.
    • Ein linker Spinner ist, wer die skandalös ungerechte Einkommens- und Vermögensverteilung, die in nahezu allen Ländern durchgesetzt wurde, korrigieren will.
    • Ein linker Spinner ist, wer glaubt, die herrschende Armut lasse sich bekämpfen.

    Corbyn tritt für eine bessere, eine gerechtere Gesellschaft ein, er will eine „decent society“, so sagt er. D.h., „decent“ übersetzt ungefähr: eine anständige Gesellschaft, weitere Bedeutungen des Wortes decent sind: vernünftig, ordentlich, korrekt, honorig, sittsam.

    Wenn ein Politiker solche ganz normalen Werte des Anstandes, man könnte auch sagen im guten Sinne konservative Werte, zum Maßstab seines Handels machen will, dann jagt das den Konservativen außerhalb und in seiner Partei Angst und Schrecken ein. Sie brauchen korrupte Politiker, unanständige, unvernünftige, unkorrekte. Und auch dem ZDF wird richtig gruselig zumute, wenn einer nicht zu kaufen ist. Das ist dann ein Spinner. Ein linker Spinner.

    Wer sich genauer informieren will, BBC hat am 14.8.2015 eine Übersicht unter dem Titel „What is Jeremy Corbyn’s programme for government?“ veröffentlicht. Dieser Text ist zwar auch von leichter Feindseligkeit geprägt, aber immerhin informiert er. Da der Text auf Englisch geschrieben ist, nenne ich einige weitere Punkte aus Corbyns Programm. Er setzt sich ein dafür,

    • Steuervermeidung und Steueroasen zu bekämpfen,
    • politische Lösungen für die Konflikte im Nahen Osten zu finden und dazu auch mit allen Beteiligten zu sprechen,
    • den Austritt aus der NATO zu erwägen. (Das halte ich angesichts der Entwicklung der NATO vom vereinbarten Verteidigungsbündnis zu einem Interventionsbündnis und sogar Angriffsbündnis für sinnvoll und notwendig.)
    • dass Großbritannien in der EU bleibt, allerdings man die EU deutlich verbessern muss. Was ist daran links? Das ist dringend notwendig.
    • gegen TTIP einzutreten.
    • dringend eine Schulreform zu machen, bei der die lokalen Behörden wieder die Kontrolle über die Schulen ausüben. Außerdem soll die Gemeinnützigkeit der privaten Schulen, die in Großbritannien – großartig manipulierend – Public Schools heißen, gestrichen wird.
    • Großbritannien als Königreich bestehen zu lassen, obwohl er Republikaner ist, also für eine Republik eintritt und gegen königliche Hoheiten. Aber Corbyn will sich da nicht verkämpfen.
    • die Energiekonzerne zu verstaatlichen.
    • Fracking kritisch zu überprüfen.

    Aus dem Blickwinkel der herrschenden neoliberalen Ideologie sehen diese ganz normalen und selbst verständlichen Forderungen radikal aus, oder wie das ZDF meint: spinnert.

  2. Eine – linke – Alternative zur herrschenden neoliberalen Lehre und ihren politischen Vertretern kann nur gewinnen, wenn sie auf die Mobilisierung von Menschen setzt. Sie sind als Multiplikatoren im Zweifel stärker und einflussreicher als die Massenmedien.

    Wenn die Medien mehrheitlich Stimmung machen gegen PolitikerInnen, die dem Glauben nicht mehr folgen, die neoliberale Ideologie sei alternativlos, dann muss man sich von diesen Medien ablösen. Dann muss man sich als PolitikerIn und als politische Bewegung von den Medien weitgehend unabhängig machen. Das wird auch im Falle des neuen Vorsitzenden der Labour-Partei am Ende die letzte und einzige Möglichkeit sein, wenn er die nächsten Wahlen gewinnen will.

    Die Wortkombination „linker Spinner“ könnte, so meinen die konservativen Beobachter, tödlich sein. In der Tagesschau vom 12.9.2015 verkündete die Korrespondentin der ARD in Großbritannien, Frau Hüsch, als Gewissheit, was ihresgleichen und auch die konservativen Parteifreunde des neuen Vorsitzenden in Großbritannien wie hier in Deutschland denken: Der Sieg Corbyns hilft den Konservativen. Aber muss das so sein?

    Wenn sich Politiker vom Urteil der Medien zu lösen vermögen, dann können Sie gewinnen. Der neue Labourchef hat in seiner politischen Kampagne für den Vorsitz auf Menschen als Multiplikatoren und nicht auf Medien gesetzt. 16.000 Freiwillige, Volunteers, haben seine Veranstaltungen organisiert. 99 dieser „Events“ waren es im ganzen Land. 400.000 Menschen sind der Labour Party neu beigetreten. Hunderttausende haben in dieser Kampagne ihre Stimme erhoben. Corbyn hat sich damit von den Medien weitgehend unabhängig gemacht.

    In Griechenland war das sowohl bei der Wahl im Januar als auch beim Referendum am 5. Juli nicht anders. Dass diese Siege unter dem Druck der Institutionen/Troika nicht genutzt werden konnten, steht auf einem anderen Blatt. Hier geht es nur um die Frage, wie sich eine Alternative zur herrschenden Lehre bei Wahlen durchsetzen kann – mit Medien, wie es zum Beispiel die SPD hierzulande versucht, oder mithilfe von vielen Menschen, wie es die Syriza in Griechenland und Corbyn in Großbritannien in einer parteiinternen Wahl erfolgreich versucht haben und Podemos in Spanien versuchen wird.

    Corbyn hat die Medien bei seiner Dankesrede am 12. September trotz ihrer feindseligen Haltung nicht beschimpft. Er hat sich mit ihrer Kampagne beschäftigt.

    Nach Meinung des neuen Vorsitzenden, haben die Medien die jungen Leute abgeschrieben. Er hat sie einbezogen und vor allem sie haben seine Kampagne getragen. Vor allem sie sind der Labourparty beigetreten und haben so seinen eindeutigen Sieg gefördert.

  3. Die eigentliche Gefahr für den Wahlsieg wie auch für die Umsetzung eines Sieges in eine wirkliche Alternative zum neoliberalen Block folgt aus der schon weitgehenden Aushöhlung der potentiellen Alternativen, also in der Regel der sozialdemokratischen Parteien

    Werfen wir zunächst einen Blick auf die Reaktion dieser artverwandten Gruppierungen auf den Sieg von Jeremy Corbyn. Bis jetzt (Stand: 12:00 Uhr am 13.9.2015) hat der Vorsitzende der Linkspartei Bernd Riexinger zum Sieg Corbyns gratuliert und der SPD zugleich eine ähnliche Spitzenperson gewünscht, Aber von der SPD hört man nichts; auf ihrer Internetseite findet man keine Gratulation Gabriels und auch nicht der Generalsekretärin und nicht einmal eine Pressemitteilung. Zu Wort gemeldet hat sich der baden-württembergische SPD-Landesvorsitzende Nils Schmid. Hier ist folgendes zu lesen, man muss es zitieren, weil es eine wirklich bemerkenswerte Einlassung ist:

    „Der Landesvorsitzende der SPD in Baden-Württemberg, Nils Schmid, nannte Corbyns Wahl auf Twitter »schlechte Nachrichten« und »eine Flucht vor der Realität«. Er hoffe, Labour werde nun »nicht für viele Jahre bedeutungslos«.“

    Dieser Landesvorsitzende Schmid hat die SPD Baden-Württembergs konsequent weiter in eine Minderheitsposition geführt. Sie lag 2011 mit 23,1 % hinter den Grünen mit 24,2 %. Nach einer Umfrage vom 11.9.2015 würden bei der nächsten Landtagswahl (13.3.2016) gerade mal 20 % die SPD wählen, die Grünen 24 %, die CDU 40,5 %. Und da wirft dieser Vertreter der SPD den britischen Genossen vor, sie seien auf der Flucht vor der Realität und in der Gefahr, in die Bedeutungslosigkeit zu versinken.

    Personen vom Typ Nils Schmid, deren Ausstrahlungskraft an einen Eisklotz erinnert und deren Programm sich nur unwesentlich von jenem der Union unterscheidet, sind ein erstes großes Problem jener Partei, die mit dafür sorgen müsste, dass es für uns in Deutschland wie in anderen Ländern wieder eine politische Alternative gibt. (Ich verweise in diesem Zusammenhang auf den NDS-Beitrag vom 7. September „Partei ohne Kompass! Zum sogenannten Impulspapier der SPD.“)

    Das zweite große Problem besteht darin, dass die sozialdemokratische Konkurrenz der neoliberal gefärbten Parteien vermutlich durchgehend von Einflussagenten unterwandert sind. Wer das für eine Verschwörungstheorie hält, ist in der Realität noch nicht angekommen. Die Realität sieht nämlich so aus, wie wir das beispielhaft 2008 in Hessen erlebt haben: die SPD hatte mit Andrea Ypsilanti an der Spitze und zusammen mit den Grünen bei Tolerierung durch die Linkspartei die Mehrheit zur Ablösung von Roland Koch (CDU) erreicht, aber Abgeordnete der SPD kündigten an, ihre eigene Frontfrau nicht zur Ministerpräsidentin zu wählen; siehe hier. Typisch auch, dass sich die Wirtschaft über diesen Coup freute und die Aktienkurse anzogen. Siehe hier.

    Übrigens gibt es ja nicht nur den Fall Hessen sondern auch die Bundespolitik. Es gab 2013 keinen Zwang zur großen Koalition. Es hätte eine Alternative zu Frau Merkel und ihrer Politik gegeben, wenn die SPD gewollt hätte. Aber einige ihrer Spitzenvertreter wollen das nicht. Aus eigenem Antrieb oder unter dem Einfluss außenstehender Kräfte.

    Mit der Illoyalität des rechten Flügels oder auch nur einiger Einzelner von außen beeinflusster Abgeordneter muss auch der neue Vorsitzende der Labour Party rechnen. Und so wird es allen Parteien gehen, die eine Alternative auf die Beine zu stellen versuchen. Das ist das eigentliche Problem. Wir können uns gegen diese undemokratische und antidemokratische Verfahrensweise nur wehren, indem wir daraus ein großes öffentliches Thema machen. Die Infiltration der potentiellen Alternativen muss ein Thema der öffentlichen Debatte werden. Und es sollte bei der Auswahl von Kandidaten für Parlamente immer mit auf der Tagesordnung stehen. Sozusagen als Suchraster.

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