Ein weiterer verzweifelter Versuch, den Mindestlohn schlechtzureden

Patrick Schreiner
Ein Artikel von Patrick Schreiner

Forscher rund um das ifo-Institut in Dresden versuchen in einer aktuellen Veröffentlichung, den allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn als Misserfolg und Arbeitsplatzbremser schlechtzureden. Sie behaupten, die etwas geringere Beschäftigungszunahme in Ostdeutschland sei darauf zurückzuführen, dass der Mindestlohn dort stärker zum Tragen komme. Doch die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Von Patrick Schreiner [*]

Mindestlohngegner haben es derzeit schwer. Ihre Prognosen hinsichtlich der Entwicklung am Arbeitsmarkt gingen dermaßen daneben, dass man fast schon Mitleid haben könnte: Einst behaupteten Sie, der Mindestlohn würge erstens die Konjunktur ab und vernichte zweitens bestehende Arbeitsplätze. Beides ist nicht eingetreten, im Gegenteil befinden sich Konjunktur und Arbeitsmarkt im stabilen Aufwärtstrend. Dennoch unternehmen die Mindestlohngegner immer wieder Versuche, einen angeblichen Verlust (oder „Minder-Gewinn“) von Arbeitsplätzen nachzuweisen. Auf einen früheren Fall hatten die Nachdenkseiten schon vor einem Jahr hingewiesen.

Nun haben auch Andreas Knabe (Wirtschafts-Professor in Magdeburg), Ronnie Schöb (Wirtschafts-Professor in Berlin und Forschungsdirektor am ifo-Institut Dresden), Marcel Thum (Geschäftsführer des ifo Dresden) und Michael Weber (Doktorand am ifo) einen solchen Versuch vorgelegt. Interessant ist diese aktuelle Ausarbeitung übrigens auch, weil einer ihrer Autoren – Schöb – in einem Interview mit dem Bayrischen Rundfunk vor einigen Wochen offen zugegeben hat, dass die Mindestlohngegner einst „Stimmungsmache“ betrieben haben. Ab etwa Minute 11:00 des Radioberichts sagt er im O-Ton:

Auf der einen Seite war es Stimmungsmache, weil die Stimmung so eindeutig für den Mindestlohn war, dass wir es für notwendig erachtet haben, auch mal eine kritische Gegenstimme in die Öffentlichkeit zu tragen.

Die „andere Seite“ kommt nicht mehr zur Sprache. Doch zurück zur aktuellen Veröffentlichung von Knabe/Schöb/Thum/Weber. Ihre zentrale Aussage lautet: In Ostdeutschland seien deutlich mehr Menschen vom Mindestlohn betroffen als in Westdeutschland. Vergleicht man nun Ost und West, so habe sich der Arbeitsmarkt in Ostdeutschland ab etwa dem zweiten Halbjahr 2014 weniger gut entwickelt als der Arbeitsmarkt in Westdeutschland. Zum 1. Januar 2015 war der Mindestlohn eingeführt worden. Ergo, so schlussfolgern sie, wirke sich dieser hier negativ auf die Beschäftigungsentwicklung aus.

[…] ist, wie Abbildung 1(a) verdeutlicht, die Beschäftigungsdynamik in Ostdeutschland seit der Verabschiedung des Mindestlohngesetzes durch den Deutschen Bundestag deutlich hinter jene Westdeutschlands zurückgefallen. […] Die Tatsache, dass sich der Beschäftigungsaufbau insgesamt in Ostdeutschland gegenüber Westdeutschland verlangsamt hat, könnte ein erstes Anzeichen für die Bremswirkung des Mindestlohns sein.

Zwar trifft zu, dass die Beschäftigungsentwicklung in Ostdeutschland rund um die Einführung des Mindestlohns schlechter war als in Westdeutschland. So stieg die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Westen zwischen September 2013 und September 2015 um 5,2 Prozent, im Osten hingegen nur um 4,6 Prozent. Es ergibt sich aber ein völlig anderes Bild, wenn man sich die Beschäftigungsentwicklung in einzelnen Branchen ansieht. Schließlich sind diese ja in unterschiedlichem Ausmaß vom Mindestlohn betroffen.

Wenn Knabe/Schöb/Thum/Weber Recht hätten, müsste die Beschäftigungsentwicklung in besonders Mindestlohn-intensiven Branchen in Ostdeutschland schlechter verlaufen sein als am ostdeutschen Arbeitsmarkt insgesamt. Als Branchen, die vom Mindestlohn besonders betroffen sind, können im Wesentlichen die folgenden gelten:

  • Landwirtschaft
  • Herstellung von Nahrungs- und Futtermitteln
  • Einzelhandel
  • Landverkehr und Transport in Rohrfernleitungen (unter anderem Taxiunternehmen)
  • Lagerei und Erbringung von sonstigen Dienstleistungen für den Verkehr
  • Post-, Kurier- und Expressdienste
  • Beherbergung
  • Gastronomie
  • Hausmeisterdienste
  • Dienstleistungen für Unternehmen und Privatpersonen (unter anderem Callcenter)

Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze in diesen Branchen ist im Zeitraum zwischen September 2013 und September 2015 in Ostdeutschland um durchschnittlich 5,5 Prozent (gegenüber 4,6 Prozent in allen Branchen) angestiegen. Mit anderen Worten: Gerade in den Branchen, die vom Mindestlohn besonders betroffen sind, sind überdurchschnittlich viele neue Arbeitsplätze entstanden. Das gilt übrigens mit durchschnittlich 5,3 Prozent (gegenüber 5,2 Prozent in allen Branchen) auch für Westdeutschland, wenngleich der Effekt dort weniger stark ausfällt. Damit sind in den Mindestlohn-intensiven Branchen im Osten sogar relativ mehr Arbeitsplätze entstanden als im Westen.

Gebremst wurde der Arbeitsplatzaufbau in Ostdeutschland folglich anderswo. Sieht man sich nur die nach Zahl der Beschäftigten größten Branchen an, so findet man einige Hinweise: Im Maschinenbau ist die Zahl der Arbeitsplätze im Osten um 0,6 Prozent zurückgegangen, im Bauwesen um 0,7 Prozent, im Bereich der öffentlichen Verwaltung / Verteidigung / Sozialversicherung um 2,0 Prozent und in der Finanzbranche sogar um 3,1 Prozent. Mit dem Mindestlohn haben diese Branchen – von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen – nichts zu tun. Die einzige Mindestlohn-intensive Branche, die im Osten einen Beschäftigungsrückgang erfuhr, ist die Landwirtschaft, wo die Beschäftigung um 0,8 Prozent sank.

Übrigens: Die Autoren dieser Studie behaupten auch, dass die insgesamt positive Situation am Arbeitsmarkt in Deutschland nicht als Beleg für die positive Wirkung des Mindestlohns herangezogen werden könne. Schließlich hätten die Mindestlohngegner nie behauptet, der Mindestlohn führe zur Vernichtung bestehender Arbeitsplätze, sie hätten vielmehr immer nur gesagt, dass sich der Arbeitsmarkt mit Mindestlohn schlechter entwickle als ohne:

Diese positiven Zahlen können aber nicht als Beleg für die positive Wirkung des Mindestlohns herangezogen werden. Vielmehr überlagert die aktuell gute konjunkturelle Lage in Deutschland die möglichen negativen Konsequenzen des Mindestlohns für die Beschäftigung. Denn der relevante Vergleich ist nicht, ob die Einkommen oder die Beschäftigung von 2014 auf 2015 gesunken oder gestiegen sind. Die relevante Frage ist vielmehr, wie sich der Arbeitsmarkt langfristig mit und ohne Mindestlohn entwickelt hätte. Auf diese langfristige Perspektive, bei der alle anderen Einflussfaktoren bis auf die Arbeitsmarktregulierung konstant gehalten werden, bezogen sich die warnenden Stimmen vieler Ökonomen. Auch wir hatten im Jahr 2014 vor den langfristig negativen Folgen des Mindestlohns gewarnt und – im Vergleich zum Trend – eine Einbuße von 400.000 bis 900.000 Beschäftigungsverhältnissen prognostiziert.

Mit anderen Worten: Ohne Mindestlohn wären sehr viel mehr Arbeitsplätze entstanden. Aus Sicht der Mindestlohngegner ist diese Behauptung praktisch. Denn dass sich der Arbeitsmarkt ohne Mindestlohn noch besser entwickelt hätte als mit Mindestlohn, ist kaum zu beweisen. Es gibt ihn ja.

Dennoch bleibt es eine falsche Schutzbehauptung, dass „viele Ökonomen“ nie behauptet hätten, der Mindestlohn vernichte bestehende Arbeitsplätze. Hier nachfolgend einige Zitate, die eine ganz andere Sprache sprechen, als Knabe / Schöb / Thum / Weber behaupten. Die ersten beiden stammen sogar von Knabe / Schöb / Thum selbst – sie sprechen hier eindeutig vom Wegfall bestehender Arbeitsplätze:

Diejenigen Arbeitnehmer, die am bedürftigsten sind und derzeit auf ergänzendes ALG II angewiesen sind, werden, wenn sie ihren Arbeitsplatz behalten, […]

Zu den Verlierern gehören diejenigen, die ihren Arbeitsplatz verlieren […]

Knabe / Schöb / Thum sprechen außerdem von „Absolute[n] Beschäftigungsverluste[n]“. Und in der begleitenden Pressemitteilung hieß es:

Die Einführung des Mindestlohns von 8,50 Euro erhöht das Einkommen bedürftiger Arbeitnehmer kaum, gefährdet aber bis zu 900.000 Arbeitsplätze. „Besonders stark negativ betroffen sind die heutigen Aufstocker“, sagt ifo-Forschungsprofessor Ronnie Schöb.

Wenn bis zu 900.000 Arbeitsplätze gefährdet und dabei „heutige Aufstocker“ besonders gefährdet sind, dann spricht Schöb hier sehr wohl vom Verlust bestehender Arbeitsplätze – nicht davon, dass mit Mindestlohn bis zu 900.000 Arbeitsplätze weniger entstehen, als ohne Mindestlohn entstehen würden.

Schon 2010 hieß es in einer Pressemeldung des ifo:

Bei einem Mindestlohn von 8,50 Euro würden in Deutschland 1,22 Mill. Arbeitsplätze abgebaut, davon rund 300 Tausend in Ostdeutschland.

Der frühere ifo-Chef Hans-Werner Sinn ließ sich 2007 zitieren mit den Worten:

Mindestlöhne vernichten massenhaft Arbeitsplätze.

Und die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ sprach unter Berufung auf Schöb und Knabe vom „Wegfall“ von Arbeitsplätzen:

Zwischen 250.000 und 570.000 Arbeitsplätze werden nach neuesten Berechnungen durch den gesetzlichen Mindestlohn ab 1. Januar 2015 in Deutschland wegfallen.

Auch wenn Mindestlohngegner angesichts des Scheiterns ihrer Prognosen nun behaupten, ihre Vorhersagen seien doch wahr, da ohne Mindestlohn die Entwicklung der Beschäftigung noch positiver gewesen wäre – mehr als eine fragwürdige und unbeweisbare Schutzbehauptung ist das nicht. Da sind die Formulierungen in den Mindestlohn-kritischen Studien und Pressemeldungen, die vor der Einführung des Mindestlohns veröffentlicht wurden, zu eindeutig, zu reißerisch und zu falsch. Stimmungsmache eben.


[«*] Patrick Schreiner lebt und arbeitet als hauptamtlicher Gewerkschafter in Berlin. Er schreibt regelmäßig für die NachDenkSeiten zu wirtschafts-, sozial- und verteilungspolitischen Themen.

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