Papagei-Papageien – Erst sagt es der Experte, dann übernehmen es die Politiker, dann plappern es alle nach

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Ein Musterbeispiel dafür, wie vor allem die Wirtschaftsjournalisten völlig unbeeindruckt von Tatsachen und ohne Rücksicht auf die Logik ihrer Argumente gebetsmühlenhaft die ständig wiederholten Parolen nachplappern findet sich im Kölner Stadt-Anzeiger vom 3. September. Der „Kommentar“ von Günther M. Wiedemann ist ein Beispiel unter zahllosen anderen für den Niedergang des kritischen Sachverstands in der veröffentlichten Meinung und für die Selbstimmunisierung der gängigen Sachzwangrhetorik: „Ist die Medizin auch schädlich, so erhöhen wir halt die Dosis“.

Wir sagen auf den „NachDenkSeiten“ immer wieder, dass unsere Medien ihrer kritische Wächterrolle gegenüber der Politik nur noch unzulänglich nachkommen. Wir beklagen, dass viele Journalisten kritiklos nachplappern, was die Wirtschaftsverbände, die Berater und ihnen folgend die Politiker vorsagen.
Wir ärgern uns darüber, dass die gängigen Glaubenssätze nachgebetet werden, ohne die Aussagen auf ihre Wirksamkeit oder wenigstens auf ihre gedankliche Konsistenz zu überprüfen. Es ist als ob Papageien anderen Papageien nachkrähen.
Ein Beispiel unter zahllosen anderen findet sich in einem Kommentar von Günter M. Wiedemann im Kölner Stadt-Anzeiger vom Freitag, den 3. September.
Damit unsere Leser unsere allgemeine Kritik am Versagen der Medien an einem konkreten Beispiel nachvollziehen können, möchten wir uns mit diesem Kommentar eines „Papagei-Papageien“ (Tucholsky) einmal etwas detaillierter auseinandersetzen:

An dem besagten Freitag wird im Kölner Stadt-Anzeiger darüber berichtet, dass (obwohl schon 2003 1,3 Millionen Erwerbslose aus der Statistik gefallen sind) die „Arbeitslosigkeit auf höchstem August-Stand seit 1997“ angestiegen ist. Am selben Tag konnte man die – für die Konjunkturlage fast nach dramatischere – Nachricht lesen, dass die Zahl der Erwerbstätigen insgesamt um 0,3% zurückgegangen ist und dass die Lehrstellenlücke – trotz des „Ausbildungspaktes“ – mit 131 800 fehlenden Plätzen um 18 700 größer ist als zum gleichen Zeitpunkt im Vorjahr.
Auf der selben Seite, auf der die höhere „Flexibilität“ der Arbeitslosen gerühmt wird, untertariflich bezahlte Beschäftigung anzunehmen, findet man die Meldung, dass die jährlichen Vorstandsgehälter der 30 Dax-Unternehmen von 1,4 Millionen Euro im vergangenen Jahr um durchschnittlich 11 Prozent angestiegen sind.

An einem solchen Tag voller Meldungen über Misserfolge der herrschenden Agenda-Politik und voller Bestätigungen der These, dass mit dieser Politik die Armen ärmer und die Reichen reicher werden, schreibt der Wirtschafts-„Fachmann“ des Kölner-Stadt-Anzeigers Günther M. Wiedemann folgenden Kommentar:

Wunsch und Wirklichkeit

Die Kerndaten des Arbeitsmarktes für den Monat August bieten das bekannte trostlose Bild. Noch immer sind die Konjunkturimpulse zu schwach, als dass Arbeitslose wieder nennenswerte Chancen bekämen…“

Logischerweise würde man jetzt erwarten, dass Überlegungen angestellt würden, wie durch eine vernünftige Wirtschaftspolitik die Konjunktur wieder oder besser in Gang gebracht werden könnte. Aber nein, da stößt unser Autor offenbar an ein inzwischen allgemein verbreitetes Tabu. Er springt gedanklich um und schreibt:

Und dennoch gibt es Hoffnungsschimmer. Obwohl die mit „Hartz IV“ verbunden Reformen noch gar nicht in Kraft sind, zeigen sie Wirkung: Es wächst die Bereitschaft von Arbeitslosen, bislang abgelehnte Jobs anzunehmen, weil die alte Arbeitslosenhilfe wegfallen wird. Offenbar erkennen immer mehr, dass es besser ist, selbst eine Arbeit auszuwählen, als später womöglich zu einem „Ein-Euro-Job“ gezwungen zu werden. Eine erfreuliche Tendenz, die mehr Bewegung am Arbeitsmarkt bringt.“

Also nicht eine aktive Konjunkturpolitik, damit „Arbeitslosen wieder eine nennenswerte Chance bekämen“, sondern untertariflich bezahlte und unterwertige Arbeit durch die Drohung auf Verlust der Arbeitslosenhilfe oder der „Zwang“ zu „Ein-Euro-Jobs“ sind der „Hoffnungsschimmer“.
Wie soll aber mit Billigjobs die lahmende Nachfrage gesteigert und damit die Konjunktur in Gang kommen die wieder Arbeit nachfragen ließe?
Seit 1. Januar 2003 haben wir doch Hartz I und II. Seit eindreiviertel Jahren haben wir doch Ich-AGs, Bildungsgutscheine, Personal-Service-Agenturen, Mini-Jobs – und dennoch haben wir mehr Arbeitslose.
Kann man also den „Hoffnungsschimmer“ wirklich nur in noch mehr Ich-AGs oder Min-Jobs sehen?
In einem Punkt hat der Autor allerdings auf makabre Weise Recht: Der Arbeitsmarkt kommt schon in „Bewegung“. Aber was soll mit Billig- Niedriglohn- oder „Ein-Euro-Jobs“ anderes in Gang kommen als ein allgemeines Lohndumping, in dem tariflich abgesicherte normale Arbeitsverhältnisse in Niedriglohnverhältnisse umgewandelt werden.
Am Schluss seines Beitrags dämmert es dem Autor dann doch wieder, wenn er gesteht, dass mit Billig-Jobs wohl kaum neue Arbeitsplätze geschaffen werden:

Das allein ist aber nicht ausreichend. Es bedarf auch neuer Jobs, die dann kommen, wenn die Lohnzusatzkosten sinken. Die bisherigen Trippelschritte genügen nicht.“

Ist unserem Wirtschafts-Journalisten eigentlich völlig entgangen, dass er mit seiner Befürwortung der Billig-Jobs gerade der Erhöhung der Lohnnebenkosten das Wort redet? Denn die Billig- oder Mini-Jobber zahlen weder Steuern noch Sozialversicherungsbeiträge, sie müssen deshalb von den Arbeitgebern und Arbeitnehmern in einem tariflich bezahlten Job mitgetragen werden. Wie sollen also mit mehr Billig-Jobs die Lohn“zusatz“kosten sinken?

Aber solche Wirkungszusammenhänge übersieht unser „Wirtschafts“-Journalist geflissentlich, er macht einmal mehr einen Gedankensprung und greift ohne weitere Begründung die gängige Behauptung auf, dass unsere Arbeitslosigkeit darauf zurück zu führen sei, dass die Lohnnebenkosten zu hoch seien.

Dabei wird ausgeblendet, dass Lohn- und Lohnnebenkosten allenfalls ein Faktor unter vielen anderen dafür sind, ob Unternehmen ihre Produktion ausweiten oder investieren. Wichtiger oder jedenfalls mindestens so wichtig für die Entscheidungen in den Unternehmen sind etwa die Umsatz- und Absatzerwartungen, die Gewinne, die Zinsentwicklung, die Qualität und die Effizienz der Arbeit, die Steuerbelastungen, der Ölpreis oder der Dollarkurs usw.

Weil seit Jahrzehnten ständig behauptet wir, die Lohn- und die Lohnnebenkosten seien zu hoch, wird daraus immer noch kein ausschlaggebender Faktor zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit.
Einmal davon abgesehen, dass die Lohnkosten in den letzten 20 Jahren kontinuierlich gesunken und die Arbeitslosigkeit dennoch dramatisch gestiegen ist, müsste man sich doch vor Augen halten, dass der Lohnkostenanteil 2001 beim verarbeitenden Gewerbe bei 21 Prozent lag.
Die Lohn- und Lohnnebenkosten machen etwa beim neuen DaimlerChrysler-Werk in Thüringen gerade noch 6 – 8 Prozent des Gesamtaufwandes aus. Bei der Volkswagen AG beläuft sich der Personalaufwand auf insgesamt 17 Prozent der Gesamtaufwendungen des Konzerns; Löhne und Gehälter machen dabei 14 Prozent und die Lohnnebenkosten gerade mal 3 Prozent.
Selbst wenn also den Arbeitgebern durch die Gesundheits-, die Rentenreform oder durch die Reformen des Arbeitsmarktes – wie man heute beschönigend sagen soll – einige Prozentpunkte an den Lohnnebenkosten einsparen können, so macht das am gesamten Produktionsaufwand allenfalls Bruchteile von Prozentpunkten aus.
Und mit solch minimalen Einsparungen sollen also Millionen von neuen Arbeitsplätzen geschaffen werden?

Solche Fragen stellen sich für den Autor aber erst gar nicht mehr: Er endet schlicht mit einer weiteren gängigen Parole:

Die bisherigen Trippelschritte genügen nicht.“

Will sagen: Man muss in noch viel größeren Schritten die Arbeitgeberanteile an den sozialen Sicherungssystemen – und nichts anderes sind die Lohnnebenkosten – auf die Nettoeinkommen der Arbeitnehmer verlagern – sprich deren Nettoeinkommen schmälern – dann endlich wird es Arbeitsplätze vom Himmel regnen.
Es ist das gängige, inzwischen zwanzig Jahre erfolglos propagierte Rezept: Ist die Medizin auch schädlich, so erhöhen wir halt die Dosis.

Übrigens: Zu der Begeisterung über die Niedriglöhnen passt denn auch die Nachricht über die maßlose Steigerung der Managergehältern: Wenn man die ohnehin schon kleinen Kuchenstückchen der Lohnempfänger eben noch kleiner macht, können sich die Gewinn-Einkommensbezieher und deren Manager ein größeres Stück aus dem Kuchen herausschneiden. Aber auch das gehört ja inzwischen auch zu den üblich gewordenen Denktabus.

Quellenhinweis: Die hier angeführten Zahlen sind dem neuen Buch von Albrecht Müller, Die Reformlüge, 40 Denkfehler, Mythen und Legenden, mit denen Politik und Wirtschaft Deutschland ruinieren, entnommen.