Aufruf: Für eine Tagung “Öffentlichkeit und Demokratie”

Ein Artikel von:

Eine wache und kritische politische Öffentlichkeit ist eine zentrale Voraussetzung für eine lebendige Demokratie. In welchem Zustand befindet sich die politische Öffentlichkeit in Deutschland? Und falls dieser Zustand beklagenswert ist, wovon wir ausgehen – was kann dagegen getan werden? Dies sind die beiden Leitfragen für einen im Herbst 2009 geplanten Kongress in Berlin und damit in Verbindung stehenden weiteren Aktivitäten.

  1. “Unterschlagene Wirklichkeit”

    In seinem „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ hat Jürgen Habermas vor mehr als 40 Jahren demokratiebedrohende Rückbildungen und Zerfallsprozesse einer freilich teilweise idealisierten “bürgerlichen” Öffentlichkeit konstatiert. Vieles spricht dafür, dass dieser Strukturwandel – trotz mutmachender Gegenbewegungen – anhält und neue Qualitäten gewonnen hat. Es mehren sich die Zeichen für eine Vergrößerung des Raums “unterschlagener Wirklichkeit” (Oskar Negt).

    Ein Stichwort lautete Vermachtung der Öffentlichkeit. Einflussreiche – vor allem kommerzielle Akteursgruppen, aber auch die großen Parteien und Verbände – beherrschen das Feld der veröffentlichten Meinung und lassen abweichenden Sichtweisen wenig Raum. Selbst die öffentlich-rechtlichen Medien folgen unter dem Druck der privaten Konkurrenz diesem macht- und prominenzgesteuerten Prozess. Dieser ist in einer Weise fortgeschritten, die man zu Zeiten der „Enteignet Springer!“- Kampagne im Jahr 1968 kaum vorhersehen konnte. Die auch via Medien betriebene Durchsetzung der Hartz-„Reformen“ war ein eindrucksvolles Beispiel für das erreichbare Ausmaß manipulativer Problemdeutungen. Ein weiteres ist die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“, die, obgleich von einem Unternehmerverband gesponsert, sich als zivilgesellschaftliches Engagement verkleidet. Das Geschäft der professionellen Meinungsmache blüht. spin doctors und PR-Strategen arbeiten alerten Parteipolitikern zu, die sich rühmen, beliebige politische Inhalte verkaufen zu können. Dem entspricht ein wachsendes Defizit innerparteilicher Demokratie insbesondere bei den großen Parteien – auch hier war Schröders Agenda äußerst eindrucksvoll. Die Selbstrepräsentation der Führungsriegen soll nicht gestört werde. Berlusconi und Sarkozy sind bislang in Deutschland unerreichte Varianten der neofeudalen öffentlichen Hofhaltung und medialen Narkotisierung des Publikums. Kriege mit deutscher Beteiligung belegen, wie mediale Legitimationsbeschaffung selbst gegen Mehrheiten funktioniert (die Ausgrenzung des kleinen „linken“ Häufleins inklusive – von den notorischen Kriegslügen in den USA und hierzulande einmal abgesehen).

    Schien das System der öffentlich-rechtlichen Medien in der Bundesrepublik einst ein zwar biederes, aber doch demokratisches Gegenwicht zu bilden, so mehren sich nach vielen Widerständen (einst gegen das private „Adenauer-Fernsehen“) die Anzeichen, dass die öffentliche Medienpolitik den beschriebenen Tendenzen stärker zuarbeitet, statt sie korrigieren. Wie sieht die deutsche Variante einer neoliberalen Medienpolitik – mit einem noch immer vergleichsweise großen öffentlichen Sektor – eigentlich genau aus?

    Die demokratische Alternativen unsichtbar machende Abstimmung zwischen Medien und Politik wird begünstigt durch die enorme Veränderung der medialen Produktionsverhältnisse in den letzten Jahrzehnten. Die Globalisierung des Mediengeschehens mit weltweit operierenden Akteuren (wie CNN, Murdock) hat bislang kaum zur weltpolitischen Aufklärung beigetragen, sondern eher Stereotypen und das Schreckgespenst von Kulturkämpfen befördert. Die Machtansammlung der großen westlich geprägten (Medien-)konzerne hat dabei ein Ausmaß erreicht, dass z.B. UNEP auf Gefahren für die Demokratie durch diesen Konzentrationsprozess und seinen Einfluss auf Wahlen hervorhebt. So soll z.B. indisches Wahlkampfgeld überwiegend von interessierten ausländischen Investoren kommen.

    Konzentrationsprozesse in den Medien schreiten voran; in vielen Regionen haben sich Monopole der Printpresse etabliert. Hinzu kommen das subtile oder auch offene politische Wirken von operativen Stiftungs-Konzernen wie Bertelsmann, der Druck von Anzeigenkunden auf die Redaktionen, die Unterwanderung redaktioneller Teile durch Werbebotschaften, die teilweise repressiver gewordenen Produktionsbedingungen, welche die innere Pressefreiheit einschränken, die Zusammenfassung vormals unabhängiger Redaktionen zu größeren Einheiten, die Tendenz zu einem mit vorgefassten Meinungen operierenden Thesenjournalismus, die Verringerung der Kapazitäten für intensive Recherche, die wachsende Übertragung von Aufgaben an freie Mitarbeiter, Volontäre und Praktikanten, die prekären Arbeitsbedingungen unterliegen.

    Eine weitere Tendenz, auf die bereits in den 1960er Jahren aufmerksam gemacht wurde, ist die der Intimisierung von Öffentlichkeit, d.h. die Erweiterung und Zurschaustellung vormals privater und intimer Angelegenheiten. Politik wird personalisiert. Selbst das Sexualleben von Politikern wird öffentlich abgehandelt. Talk Shows suggerieren, man sei ganz unter sich, um gleichzeitig quotengerecht aufbereitet und bei sinkender Quote flotter gestaltet zu werden. Infotainment ist angesagt; und auch innerhalb dieser Kategorie verschieben sich die Gewichte in Richtung Unterhaltung und Zerstreuung. Container-Shows und Dschungel-Camps sind Formate, die auch die politische Berichterstattung und mediale Inszenierung von Politik nicht unberührt lassen.

    Eine komplementäre Entwicklung zur Intimisierung von Öffentlichkeit ist die Ausbreitung von Geheimbereichen, die wachsende Datensammelwut staatlicher Organe und der extrem ungleiche Zugang zu Daten – trotz informationellen Selbstbestimmungsrechts und Informationsfreiheitsgesetzen. Gerade an der damit verbundenen Praxis ließe sich eine Verlustgeschichte an Publizität bei einer zugleich wachsenden Informationsflut aufzeigen.

    In ihrer Summenwirkung führen diese Prozesse in Richtung einer gesteuerten Demokratie, die bereits Gegenstand eines eigenen Kongresses im Jahr 2004 war. Medienkritische Organisationen wie in den USA (z.B. Mediawatch) und Frankreich (z.B. Action Critique Médias) sind in Deutschland kaum vorhanden. Wenngleich insgesamt zu Optimismus wenig Anlass zu besteht, so deutet doch nicht alles in Richtung eines Zerfallsgeschichte politischer Öffentlichkeit.

  2. Wo bleibt das Positive?

    Es ist wichtig, die vielfältigen Gegenbewegungen einer „alternativen” Öffentlichkeit zu erinnern und ihre heutigen – technologisch enorm erweiterten – Möglichkeiten und Grenzen zu bilanzieren. Sind sie Nachfolger der einstigen proletarischen Öffentlichkeit? Sind sie ein Nischenphänomen, verbleiben sie in einer Parallelwelt? Wachsen oder schrumpfen sie? Passen sie sich der etablierten Öffentlichkeit zunehmend an? Ist die Gegenüberstellung von Gegenöffentlichkeit und bürgerlicher bzw. etablierter Öffentlichkeit zu schlicht? Sind wir nicht mit einem Plural von Öffentlichkeiten und – damit verbunden – einer Fragmentierung von Öffentlichkeit konfrontiert?

    Jedenfalls haben sich auch hier enorme Formwandlungen vollzogen – z.B. von den Alternativblättchen und „Stattzeitungen“ zu den Stadtillustrierten. Eine schlichte Verlustanzeige, illustriert durch das Verschwinden des “Informationsdienstes zur Verbreitung unterdrückter Nachrichten” in Deutschland oder der US-Zeitschrift “Lies of our times” wird diesem Strukturwandel alternativer Öffentlichkeit nicht gerecht. Gerade mit den globalisierungskritischen Bewegungen sind Ansätze zu transnationalen Öffentlichkeiten entstanden. Zum Beispiel hat sich ein weltweites Netz von indymedia-Gruppen herausgebildet, sind Videokollektive und Freie Radios entstanden, welche kleine und große Protestkampagnen begleiten und ein kritisches, wenngleich zumeist auf das linksalternative Milieu beschränkt bleibendes Korrektiv zu den “etablierten” Massenmedien darstellen.

    Wie reagieren diese Gruppen und das weitere Feld von zivilgesellschaftlichen Akteuren auf die Mediatisierung von Politik? Entstehen mit dem Internet und damit verbundener Entwicklungen (z.B. Blogs und Massennewsletters von Organisationen wie avaaz, moveon, getup, campact) tatsächlich neue Möglichkeiten selbst für marginale Akteure, mit ihren Positionen ein großes Publikum zu erreichen? Sind es primär das Internet und insbesondere die angeblich revolutionären Entwicklungen von web 2.0, die transnationale Mobilisierungen der heutigen Größenordnung erlauben? Immerhin sind auch in jüngster Zeit neue „Produktionsöffentlichkeiten“ wie z.B. die Sozialforen entstanden, die auch in der etablierten Öffentlichkeit Spuren hinterlassen konnten. Zudem gibt es auch innerhalb der “etablierten” Medien Initiativen (z.B. die Journalistengewerkschaft dju, das Netzwerk Recherche), die kritische Positionen beziehen und Struktur- und Qualitätsverbesserungen im Sinne einer demokratischen Öffentlichkeit anmahnen.

  3. Aufruf zum Engagement

    Es gibt weitaus mehr Fragen als Gewissheiten. Welche Trends sich durchsetzen, ist immer auch eine Frage der Kräfteverhältnisse und somit auch des Engagements kritischer Einzelpersonen, Initiativen und Bewegungen. Was sie im Einzelnen auch vorbringen und fordern – ihre Chancen sind strukturell vom Zustand der herrschenden Öffentlichkeit und dem Zustand autonomer Öffentlichkeiten abhängig. Die etablierte Öffentlichkeit und insbesondere die kommerziell ausgerichteten Massenmedien tragen eher zur Apathie als zur Aktivierung großer Bevölkerungsteile bei. Die dabei wirksamen Hintergrundfaktoren wie auch die konkreten Mechanismen der Nachrichtenselektion und Meinungsbildung gilt es aufzuhellen; die auf eine demokratische Öffentlichkeit zielenden Strukturen und Initiativen gilt es zu stärken. Ein diesen Anliegen gewidmeter Kongress kann dafür einen Impuls geben. Aber nur ein längerer, vielgestaltiger, in vielen Foren stattfindender und von vielen Akteuren getragener Prozess wird die Dinge zum Besseren wenden können.

    Alle Interessierten – politische Aktivisten, politische Organisationen, Gewerkschaften, Bildungseinrichtungen, Stiftungen, Fachverbände, Medienschaffende, MedienwissenschaftlerInnen – sind aufgerufen, sich an der Vorbereitung und Durchführung des Kongresses “Öffentlichkeit und Demokratie” und der ihn begleitenden Aktivitäten zu beteiligen. Die Möglichkeiten dazu sind vielfältig. So können sich bereits im Vorfeld des Kongresses themen- oder medienspezifische Gruppen bilden, kann nach dem Vorbild von Wikipedia eine netzgestütztes Informations- und Datenbank zum Themenbereich “Öffentlichkeit und Demokratie” entstehen, können im Gefolge des Kongresses weiterführende Aktivitäten zustande kommen…

    An alle an einer demokratischen Öffentlichkeit Interessierten,

    im Herbst 2010 soll in Berlin ein Kongress zum Thema “Öffentlichkeit und Demokratie” stattfinden, um die Lage in der Bundesrepublik zu bilanzieren und Möglichkeiten ihrer Verbesserung auszuloten. Zu den ersten vorbereitenden Schritten hatte sich eine kleine informelle Gruppe mehrfach getroffen, Ideen zur Ausrichtung und Struktur des Kongresses gesammelt und den beiliegenden Aufruf entworfen und diskutiert.

    Im nächsten Schritt soll nun dieser Kreis weit geöffnet werden, um in größerem Rahmen ein Konzept für den Kongress in Grundzügen zu entwerfen, einen Koordinationskreis zu bilden und konkrete organisatorische Aufgaben abzusprechen.

    Zu diesem Zweck findet ein Treffen statt:

    am Freitag, 9. Januar 2009 um 14:00 Uhr (bis ca. 16:30 Uhr)in Berlin

    Haus der Demokratie und Menschenrechte (Robert-Havemann-Saal)

    Greifswalder Straße 4
    10405 Berlin

    Der im Wesentlichen deutschsprachige Kongress soll einerseits aus plenaren Veranstaltungen, andererseits aus parallel stattfindenden Workshops, Diskussionsforen, Vorträgen, Vorführungen etc. bestehen. Die plenaren Veranstaltungen sollten durch einen Koordinationskreis bzw. Untergruppen vorbereitet werden. Die Ausrichtung der parallelen Aktivitäten kann nach Themen (z.B. Pressekonzentration), bestimmten Mediengattungen (z.B. Freie Radios), im Hinblick auf vorgesehene Kampagnen usw. erfolgen und sollte möglichst dezentral geplant werden.

    Zu dem oben bezeichneten Vorbereitungstreffen laden wir alle Interessierten, seien es Einzelpersonen oder Vertreter von Gruppen bzw. Organisationen, herzlich ein. Jede Form von Anregung und Unterstützung ist willkommen. Dies gilt nicht zuletzt für die Weitergabe dieser Einladung an interessierte Personen, Organisationen und Initiativen. Gesucht werden in der jetzigen Phase insbesondere Personen und Organisationen, die sich an der generellen Vorbereitung des Kongresses bzw. an dem Kongress vorausgehenden oder nachfolgenden Aktivitäten beteiligen wollen und/oder im Rahmen des Kongresses selbständig eine Veranstaltung organisieren wollen.

    Wir bitten um eine Anmeldung zum Vorbereitungstreffen bis zum 2. Januar 2009 ([email protected]). Auch schriftliche Anregungen bzw. Angebote zum Kongress sind willkommen.

    Mit besten Grüßen,

    Dieter Rucht & Roland Roth

    Kontakt: Dieter Rucht ([email protected]; Tel. 030/25491-306)

Die NachDenkSeiten sind für eine kritische Meinungsbildung wichtig, das sagen uns sehr, sehr viele - aber sie kosten auch Geld und deshalb bitten wir Sie, liebe Leser, um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank!