Das Scheitern der Wettbewerbsideologie bei einer zukunftsfähigen Entwicklung der Bildungs- und Hochschullandschaft

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Chaos bei der Hochschulzulassung, keine Einigung beim Hochschulpakt, bei Stipendien oder bei der Exzellenzinitiative, Abwerbung von Lehrern durch die reicheren Länder; kaum eine Woche vergeht, in der wir nicht das Scheitern des Wettbewerbsföderalismus in der Bildungspolitik erleben müssen. Wolfgang Lieb

In Deutschland wurde die Verheißung von der Weisheit der Märkte und der Überflüssigkeit des Staates in den letzten zwei Jahrzehnten zur absolut herrschenden Lehre und zum politischen Leitbild, das sämtliche Reformen der letzten Jahre prägte. Immer lautete die Botschaft Wettbewerb, Deregulierung, Privatisierung, Beschneidung der Arbeitnehmerrechte, Abbau der Mitbestimmung und der Selbstverwaltungsrechte und weniger Staat.

Der Wettbewerb wurde zur Lebensform, schrieb Susanne Gaschke in der ZEIT:

„Effizienz. Rendite. Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Wer anders dachte, geriet schnell in die Defensive.“

Die Finanzmarktkrise sollte allen die Augen geöffnet haben, dass Wettbewerb und freier Markt keineswegs Garanten für Effizienz und optimale Ergebnisse sind, sondern dass Deregulierung und Entstaatlichung auch geradewegs in die Katastrophe führen können.

Das zeigt sich gerade bei einem nicht unmittelbar marktgängigen „Produkt“ wie der Bildung und der Wissenschaft.

Damit kein Missverständnis aufkommt, ich rede nicht gegen einen Wettbewerb um die besten Forschungsleistungen. Einen solchen Wettbewerb unter Wissenschaftlern hat es immer gegeben. Wissenschaft ist genuin auf den Wettstreit um die richtige Antwort, pathetisch gesagt, auf den Wettstreit um Wahrheit angelegt.

Die Frage ist, ob der Wettbewerb unter den Hochschulen auf dem Ausbildungs- und Drittmittel-„Markt“ und der Wettbewerb unter den Ländern in der Bildungspolitik geeignete Steuerungsinstrumente für die Entwicklung der Schul- und Hochschullandschaft sein können.

Sie erinnern sich sicherlich noch gut daran: Erst vor vier Jahren, Ende 2005, wurde die „Mutter aller Reformen“, die Föderalismusreform, verabschiedet. Ein wichtiger Bestandteil dieser Reform, war, dass die Rahmengesetzgebungs-Kompetenz des Bundes im Hochschulwesen zugunsten der Länderzuständigkeit weitgehend abgeschafft wurde. Es war der Systemwechsel vom kooperativen Föderalismus zum Wettbewerbsföderalismus.

Als Begründung für die Vermehrung der Länderzuständigkeiten hörte man landauf landab, dass die größere Autonomie mehr Wettbewerb zwischen den Ländern und zwischen den Hochschulen ermögliche und dass dies unser Land – endlich – voranbrächte.

Schon vier Jahre später muss man aber nun erkennen, dass der Wettbewerb zu Partikularismus und Kleinstaaterei führte, z.B. zu einem Verlust der Vergleichbarkeit der Abschlüsse und zu einem Chaos bei den Zugangsbedingungen. Man beginnt zu begreifen, dass nationale Standards und Rahmensetzungen unumgänglich sind.

Ende Oktober 2008 fand in Dresden der sog. Bildungsgipfel statt. Neben dem wichtigen Thema einer erhöhten „gemeinsamen Bildungsfinanzierung“ standen „gemeinsame Leitlinien“ von Bund und Ländern im Bereich der Bildung an erster Stelle der Agenda. Also etwa die Forderung nach nationalen Bildungsstandards, nach vergleichbaren Zugangsregeln zu den Hochschulen, nach einem bundesweiten Stipendiensystem, nach der Fortentwicklung des nationalen Hochschulpakts.

Kurz: Es hat sich offenbar ein dringender Bedarf nach Gemeinsamkeit und länderübergreifenden staatlichen Rahmensetzungen herausgestellt.

Es ist geradezu ein Schildbürgerstreich: Zuerst mauern die Länder die Tür zum Bund zu und jetzt will der Bund z.B. im Rahmen des Konjunkturprogramms Geld auch in Bildung investieren. Aber das darf er eigentlich gar nicht. Also muss man die so dringend notwendigen Investitionsmittel in Schulen und Hochschulen als „energetische“ Sanierung umdefinieren. Das ist zwar nicht schlecht, aber die Hochschulen brauchen mehr und anderes als Fassadendämmung und wärmeisolierte Fenster.

Es ist schon ziemlich grotesk: Da bietet der Bund auf dem Bildungsgipfel im letzten Herbst für die Fortführung des Hochschulpakts Milliarden für den Ausbau der Hochschulen um 275 000 Studienplätze an, damit der demografisch bedingte Anstieg der Studierendenzahlen und die doppelten Abiturjahrgänge aufgefangen werden können.

Doch die im Wettbewerb stehenden Länder haben zwischenzeitlich kein Konzept zustandegebracht, wie sie die Mittel verteilen wollen.

„Wir erleben mittlerweile im Wochentakt, wie sich Bund und Länder in Bildungsfragen nicht einigen können und am Ende mit einer schlichten Vertagung der kritischen Punkte verbleiben“ sagt Florian Keller vom freien Zusammenschluss von Studentinnenschaften.

Die Gemeinsame Wissenschaftskonferenz (GWK) von Bund und Ländern hat diese Woche sämtliche wichtigen Beschlussfassungen verschoben. Vertagt wurde nicht nur der Hochschulpakt, sondern auch die Fortführung der so genannten Exzellenzinitiative. Auch der Versuch der Wissenschaftsminister aus Bund und Ländern, sich auf ein einheitliches Stipendien-Fördersystem zu verständigen, ist diese Woche kläglich gescheitert.

Oder ein Beispiel aus der Schulpolitik: Früher gab es bundesweit eine weitgehend einheitliche Besoldung. Dann wurde beschlossen, dass die Länder die Höhe der Vergütung jeweils selber festlegen sollen. Reiche Bundesländer können aber mehr zahlen als arme Länder. Deshalb werden jetzt in Zeiten des Lehrermangels die Lehrerinnen und Lehrer mit Geld und sonstigen Vergünstigungen wie etwa der Möglichkeit, später ins Beamtenverhältnis eintreten zu können, aus den armen Ländern weggelockt.

Jetzt gibt es in den armen Ländern noch weniger Lehrerinnen und Lehrer. Das ist Wettbewerb auf dem Rücken der Schulkinder.

Geradezu ein bildungspolitischer Skandal ist das Chaos bei der Hochschulzulassung: Obwohl fast zwei Drittel der neuen BA/MA-Studiengänge zulassungsbeschränkt sind, blieb jeder fünfte dieser Studienplätze frei, weil sich die Hochschulrektoren einem angeblichen „Zulassungszentralismus“ verweigern. Nach einer Umfrage des Handelsblatts blieben z.B. an der Goethe-Universität Frankfurt im Wintersemester 807 Plätze in zulassungsbeschränkten Fächern unbesetzt – das waren rund 19 Prozent ihrer Kapazität. Sogar mehr als 30 Prozent blieben z.B. in den Fächern Wirtschaftspädagogik oder Biologie unbesetzt. An der TU Dresden sind die Erstsemesterplätze lediglich zu 82 Prozent ausgelastet. An der Elite-Uni FU Berlin und an der Universität Duisburg-Essen blieben im Winter fünf Prozent der an beiden Universitäten zusammen fast 8.000 Erstsemester-Studienplätze unausgelastet, weil zu viele Bewerber sich letztlich für einen anderen Studienplatz entschieden und die Zulassungsbeschränkungen offensichtlich zu hoch angesetzt waren.

Durch unausgeschöpfte Kapazitäten werden nicht nur Steuergelder vergeudet, sondern es werden tausende von studierwilligen jungen Menschen, die keinen Studienplatz bekommen, enttäuscht und entmutigt.

Doch der Kleinstaaterei in der Hochschulpolitik war die „Zentral“-Stelle für die Studienplatzvergabe ein Dorn im Auge. Hinzu kam noch, dass die nunmehr für die Hochschulen weitgehend allein zuständigen Länder die vorherrschende Wettbewerbsideologie auch noch auf die Hochschulen übertrugen. Im „Wettbewerb um die besten Köpfe“ drängten die Hochschulen darauf, ihre Studierenden selbst auswählen zu können.

Die Hochschulrektoren spielen sich seither auf wie Duodezfürsten und verteidigen, wie das Chaos bei der Hochschulzulassung beweist, mit aller Macht und gegen alle Vernunft ihre winzigen „Fürstentümer“ gegen staatliche Regelungen wie etwa ein einheitliches Hochschulzulassungsverfahren.

Der Start eines bundesweiten Bewerbungssystems ist gerade erst auf Herbst 2011 verschoben worden – ob es dann auch funktioniert, weiß keiner. Mit der Einrichtung einer Internet-Tauschbörse à la eBay lässt sich das Studienplatz-Chaos aber vermutlich nicht auflösen.

Dabei stünde bei der Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen (ZVS) ein funktionsfähiges Portal auch für dezentrale Bewerbungs- und Zulassungsverfahren zur Verfügung.

Man könnte noch mit vielen Beispielen belegen, dass Markt und Wettbewerb als Steuerungsinstrument für Hochschulen, Lehre und Forschung zu Fehlsteuerungen, wenn nicht gar ins Chaos führen.

Was wir an den Hochschulen in Deutschland nicht brauchen, ist Ellbogenmentalität und die Wertblindheit der „invisible hand“; was Forschung und Lehre brauchen, ist Vernunft und Sachverstand und eine der Wissenschaft angemessene Organisationsform, zu der am besten diejenigen beitragen können, die Forschung und Lehre betreiben.

Zum Glück wächst der Widerstand allmählich. So schrieb selbst die FAZ am 23.10.2008:

Wann endlich wird die Phrase von der „internationalen Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Hochschulsystems“, die stets herhalten muss, um sinnwidrige Belastungen eines durchaus funktionierenden Systems zu begründen, an dem gemessen, was das deutsche Hochschulsystem ja bereits ist: nämlich international wettbewerbsfähig.

Bildungspolitik tut Not. Die Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden ist aufgefordert, wieder eigenständig und orientiert an bildungs- und wissenschaftspolitischen Prinzipien nach alternativen Wegen für eine Re-Reform der Hochschulen zu suchen.

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