Die Verarmung des Staates als strategischer Hebel

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Gestern berichteten die Tagesthemen in einer beachtlich aufklärerischen Sendung unter anderem davon, dass „Kommunen und Landkreise gegen Steuersenkungspläne der Regierung“ sind. Es wurde gezeigt, zu welchen bürgerfeindlichen Ergebnissen die systematische Verarmung des Staates führt: immer geringere öffentliche Leistungen, höhere Gebühren, ungerechte Mehrbelastung jener, die nicht über viel Geld verfügen – und höhere Schulden für die Kommunen, wenn sie gegen den Trend steuern.
Die hinter der Verarmung des Staates steckende Strategie habe ich in „Meinungsmache“ ausführlich geschildert. Den Text des einschlägigen Kapitels 13 finden Sie weiter unten als Leseprobe. Albrecht Müller

Es gab einmal in der Bundesrepublik ganz andere Zeiten. Da wusste man, dass die ausreichende Versorgung mit öffentlichen Leistung für alle in unserem Land wichtig ist und dass sie besonders wichtig ist für die finanziell schwächeren Familien. Nur Reiche können sich einen armen Staat leisten – das war eine Aussage die sogar von Besserverdienenden mitgetragen wurde. „Insgesamt soll die Steuerreform eine bessere Versorgung unserer Bevölkerung mit Leistungen, die nur noch die öffentliche Hand erbringen kann, ermöglichen.“ Das war einer der Kernsätze eines Steuerreformprogramms der SPD.

Dann kam ein Inszenierter Meinungswandel gegen den Staat als Dienstleister. Heute liegt die Gesamtabgabenquote, das heißt das Aufkommen an Steuern und Sozialabgaben in Prozent des BIP, in Deutschland bei 39,3 Prozent und damit knapp unterhalb der 27 EU-Staaten mit 39,9 Prozent. Die Abgabenquote in Deutschland liegt niedriger als in den skandinavischen Staaten, in Belgien, in Frankreich, in Italien, in den Niederlanden und in Österreich. Dänemarks Abgabenquote liegt fast 10 Punkte über der deutschen, bei 49,1 Prozent, die schwedische bei 48,9%. – Aber wir sind eben auch um vieles schlechter versorgt als die Bürgerinnen und Bürger in anderen europäischen Staaten.

Es folgt der

Auszug aus Albrecht Müller: Meinungsmache. Wie Wirtschaft, Politik und Medien uns das Denken abgewöhnen wollen:

Kapitel 13
Die Verarmung des Staates als strategischer Hebel

Im Jahr 1973 berichtete mir ein Freund, der kurz zuvor in den Bundestag gewählt worden war, in seinem Wahlkreis sei er massivem Druck wegen der hohen Abzüge an Sozialabgaben und Steuern ausgesetzt. Als Abgeordneter der größeren Regierungspartei würde er deshalb heftig attackiert. Heute würde man sich darüber nicht wundern; deshalb muss ich kurz den Hintergrund erklären:

Wir hatten beide in der SPD-Steuerreformkommission mitgearbeitet, die unter dem Vorsitz des damaligen Entwicklungshilfeministers, Erhard Eppler, konkrete Vorschläge erarbeitet und diese im November 1971 vorgelegt hatte. Als erstes von vier Zielen war darin vorgegeben:

»Insgesamt soll die Steuerreform eine bessere Versorgung unserer Bevölkerung mit Leistungen, die nur noch die öffentliche Hand erbringen kann, ermöglichen.«

Ganz selbstverständlich ging man damals davon aus, dass die Bevölkerung zusätzliche öffentliche Leistungen braucht. Es gab in Deutschland einen riesigen Nachholbedarf bei Bildung, beim Ausbau der Infrastruktur, beim Umweltschutz, bei der Wasserversorgung und beim Städtebau. Die Kommission formulierte mit Bedacht, dass dieser zuallererst in der Regie der von den Bürgern bestellten öffentlichen Hände befriedigt werden könnte. Sie plädierte für eine bessere Versorgung der Bevölkerung mit (diesen) öffentlichen Leistungen.

Dies sah übrigens nicht nur die Kommission unter Eppler so. Auch eine Kommission unter dem Vorsitz des späteren Bundeskanzlers Helmut Schmidt, linker Umtriebe wahrlich nicht verdächtig, die sogenannte Langzeitkommission, hatte ein Jahr nach dem Beschluss der Steuerreformkommission im Juni 1972 gefordert, der Anteil der öffentlichen Ausgaben am Bruttosozialprodukt solle von damals 29 Prozent auf 34 Prozent im Jahr 1985 angehoben werden. Priorität sollten die Ausgaben für Bildung und Wissenschaft sowie für Verkehr und Städtebau haben. Der Anteil der Ausgaben für Bildung und Wissenschaft sollte von 4,1 Prozent im Jahr 1972 auf 7,6 Prozent des Bruttosozialproduktes 1985 steigen.

Heute verstehen auch Menschen, die keine Vorurteile gegenüber staatlicher Tätigkeit haben, solche ehrgeizigen Ziele für die Anhebung der öffentlichen Verantwortung nicht. So wirkt sich der Stimmungswandel aus. Was sachlich richtig ist, was notwendig ist, wird durch die Stimmung nicht abgebildet. Hätten wir nur ein bisschen davon realisiert und pragmatisch angegangen, was damals an Vorstellungen über mehr öffentliche Verantwortung entwickelt wurde, dann hätten wir heute weniger Sorgen wegen der Mängel bei Ausbildung und Bildung zum Beispiel und wegen einer abenteuerlich schlechten Integration jener Menschen und ihrer Kinder, die wir selbst als Aussiedler und Gastarbeiter nach Deutschland geholt haben.

Jene zitierten Personen und politischen Gruppierungen, die vor über 30 Jahren für eine Erweiterung des Angebots von öffentlichen Leistungen warben und entsprechende programmatische Texte entwarfen, waren nicht geprägt von irgendeiner ideologisch begründeten Staatsvergötterung. Auch die Vorstellung, die Vergesellschaftung als solche löse unsere Probleme, spielte allenfalls in kleinen Zirkeln am Rande eine Rolle. Eher rationale Abwägungen standen im Vordergrund: Man wusste, dass manches Gut und manche Dienstleistung sinnvollerweise vom Staat produziert und zur Verfügung gestellt wird, weil das die ökonomischste Art der Produktion ist, wenn Wettbewerb wegen der Unteilbarkeit der Produktionsweisen nicht möglich oder nur mit Krücken konstruierbar ist. Und weil die Leistung in öffentlicher Regie auch noch die fairste ist.

Der Satz »Nur Reiche können sich einen armen Staat leisten«, der damals in öffentlichen Debatten eingesetzt wurde, gründete nicht auf Staatsvergötterung, sondern auf der nüchternen Einschätzung, dass die große Mehrheit und insbesondere die Schwächeren ohne staatliche Tätigkeit auf ziemlich verlorenem Posten stehen. Nur die etwas Bessergestellten können sich die ergänzende Privatvorsorge zur Altersvorsorge leisten. Die anderen bleiben auf der Strecke; wenn sie älter werden, droht ihnen Altersarmut.

Arme und Normalverdiener können sich Privatschulen kaum leisten. Und private Krankenkassen auch nicht. Spitzenverdiener wohnen in der Regel nicht an Ausfallstraßen, sondern in den besseren Quartieren und können sich auch sonst Umwelt- und Verkehrsbelastungen leichter entziehen. Die große Mehrheit der Menschen ist darauf angewiesen, dass der Staat, dass wir alle etwas tun, um die Belastungen zu verringern, dass wir insgesamt für mehr Lebensqualität sorgen. Sogar bei Naturkatastrophen wird sichtbar, wie sehr die finanziell Schwächeren auf einen starken Staat und seine Leistungsfähigkeit angewiesen sind. Den Verwüstungen des Hurrikans Katharina und seinen Folgen konnten sich die finanziell gut gestellten Bürgerinnen und Bürger von New Orleans wenigstens entziehen, die finanziell Schwachen konnten das nicht.

Der inszenierte Meinungswandel gegen den Staat als Dienstleister Zwischen damals und heute liegt eine harte, die öffentliche Meinung prägende Kampagne gegen die öffentliche Hand als Versorger und für die Überantwortung öffentlicher Belange an Private, für Entstaatlichung und gegen die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben durch den Staat. Die Kampagne begann ungefähr zu der Zeit, als der erwähnte Bundestagsabgeordnete von seinen Erfahrungen im Wahlkreis berichtete. Innerhalb weniger Monate war die positive Stimmung für mehr öffentliche Leistungen und für eine rationale Abwägung zwischen privater Tätigkeit einerseits und öffentlicher Tätigkeit andererseits gekippt worden.73

Das ist die herrschende Grundstimmung bis heute. »Der starke Staat ist schlank«, lautet die Schlagzeile über einem Namensartikel des FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle in der »Frankfurter Rundschau« vom 8. April 2009.

Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) hat im Juni 2008 ein sogenanntes »Manifest für Wachstum und Beschäftigung « zur Präsentation für die Bundesregierung formuliert, in dem bis zum Jahr 2020 die Reduktion der Staatsquote von rund 43 auf 35 Prozent verlangt wird. Er tut dies in der Hoffnung, mit einer solchen Forderung bei den meisten der Wirtschaft nahestehenden Personen, bei der Mehrheit der Medienschaffenden und darüber hinaus in einer breiten Öffentlichkeit Zustimmung zu finden. In den Köpfen der Multiplikatoren in unserem Land ist nämlich verankert, dass Deutschland ein Land mit einem weit überdurchschnittlich hohen Staatsanteil sei.

Das ist aber eine Täuschung: Vom Papier des BDI berichtete die »Financial Times Deutschland« am 23. Juni 2008. Drei Tage später veröffentlichte Eurostat, das Statistische Amt der Europäischen Kommission, Ergebnisse eines Vergleichs zur Abgabenquote in der EU im Jahr 2006.74 Danach lag die gewichtete Gesamtabgabenquote75, das heißt das Aufkommen an Steuern und Sozialabgaben in Prozent des BIP, in Deutschland bei 39,3 Prozent und damit knapp unterhalb der 27 EU-Staaten mit 39,9 Prozent und schon immerhin um 1 Prozent unter jener der Eurozone mit 40,5 Prozent. Die Gesamtbelastung mit Steuern und Sozialabgaben in Deutschland ist nur die neunthöchste in Europa. Die Abgabenquote in Deutschland liegt niedriger als in den skandinavischen Staaten, in Belgien, in Frankreich, in Italien, in den Niederlanden und in Österreich. Dänemarks Abgabenquote liegt fast 10 Punkte über der deutschen, bei 49,1 Prozent, die schwedische bei 48,9.

Eine solche Faktenlage wie auch die Frage danach, ob es in der heutigen Zeit angesichts der unerledigten öffentlichen Aufgaben sinnvoll ist, pauschal eine niedrigere Abgabenquote zu verlangen, interessiert einen so wichtigen Verband wie den Bundesverband der Deutschen Industrie nicht. Er agitiert weiter nach dem vor über 30 Jahren festgelegten Schema, und er tut dies heute auf der Basis einer staatsfeindlichen Grundstimmung, die in diesen Kreisen Fuß gefasst hat. »Hassfigur Vater Staat« überschreibt sogar das »Handelsblatt« einen Bericht zu einer »Road Show« stramm neoliberaler europäischer »Denkfabriken« und Institute in Berlin unter Führung des Wiener Hayek-Instituts. »Die Marktidee ist in Deutschland aus dem Leben verschwunden«, kann die Generalsekretärin dieses Instituts dort erklären, ohne ausgelacht zu werden. Das ist die radikale, die Realität ausblendende Agitation, auf der dann solche Gewächse wie das Manifest des BDI und seine Forderung nach weiterer Entstaatlichung gedeihen. Zur Entwicklung der Staatsquote zwischen 1960 und 2008 Die folgende Tabelle zeigt, wie sich die sogenannte Staatsquote zwischen 1960 und 2008 verändert hat. Das ist eine amtliche Tabelle des Bundesministeriums der Finanzen. Das Verständnis von Staatsquote weicht ab vom Begriff, der beim zitierten internationalen Vergleich zugrunde gelegt wurde. Das mindert jedoch nicht die Aussagekraft dieser Tabelle, weil es hier auf einen zeitlichen Vergleich in Deutschland ankommt. »Die Regierung definiert die Staatsquote als statistische Größe, in der Ausga ben von Bund, Ländern und Gemeinden sowie der Sozialversicherung in Bezug zum nominalen Bruttoinlandsprodukt (BIP) gesetzt werden.

« So heißt es in einer Meldung des Deutschen Bundestages vom 4. August 2008. »Eine sinkende Staatsquote zeige an, dass die staatlichen Ausgaben langsamer zugenommen haben als das nominale BIP, eine steigende Quote signalisiere einen vergleichsweise stärkeren Ausgabenzuwachs.«

Zum Verständnis ist es hilfreich, sich den gesamten Zeitablauf anzuschauen. Zwischen 1960 und 1965, also zu Adenauers und Ludwig Erhards Zeiten, stieg die Staatsquote kräftig an. Zwischen 1970 und 1975 stieg sowohl der Anteil der Gebietskörperschaften als auch der Anteil der Sozialversicherungen. Dahinter stecken die gewollte Ausweitung der öffentlichen Tätigkeit in der sozialliberalen Koalition und die damaligen Reformen – vermutlich aber auch die Stagnation des Bruttoinlandsproduktes, also des Nenners dieser Quote, nach der ersten Ölpreisexplosion von 1973.

Entwicklung der Staatsquote

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Mit der konjunkturellen Belebung in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre sinkt dann die Staatsquote wieder. Das geht so weiter in der ersten Phase der Regierung Kohl. Damals war die Rückführung des Staatsanteils erklärte politische Absicht. Mit der deutschen Vereinigung kombiniert mit dem konjunkturellen Niedergang anfangs der neunziger Jahre steigt die Staatsquote 1996 auf ihren Höchstwert von 49,3 Prozent. Seitdem geht es in Schwankungen abwärts bis zu 43,9 Prozent im Jahr 2008.

Den konjunkturellen Einfl uss kann man auch in diesen letzten zehn Jahren beobachten: Der kleine Boom zwischen 1996 und dem Jahr 2000 ließ den Quotienten Staatsquote sinken; der Abschwung in den darauffolgenden Jahren schlägt sich sofort in einer höheren Staatsquote nieder, die wirtschaftliche Belebung seit 2005 in Kombination mit Steinbrücks Sparversuchen dann in einem Rückgang der Staatsquote.

Wenn man auf diese Tabelle des Verlaufs des Staatsanteils und des Anteils der Sozialversicherungen im Zeitraum von 47 Jahren auch noch eine Folie mit Daten zum Wohlergehen unseres Volkes legen würde, dann würde man vermutlich schnell begreifen, wie unbedeutend niedrige Staatsquoten waren und sind.

Zu Beginn der siebziger Jahre begann die Stimmungsmache gegen staatliche Tätigkeit – übrigens interessanterweise parallel, auch zeitlich parallel, zum Putsch in Chile und der dort bewusst und unter Einfl uss der neoliberalen Chicago-Schule betriebenen Verringerung der Rolle des Staates. Es fügt sich, dass beim erwähnten aktuellen Versuch des Hayek-Instituts, die radikal neoliberalen Kräfte zu sammeln, Pinochets früherer Arbeitsminister José Piñera mitmacht.

Der Einstieg über die hohen Abzüge war ausgesprochen geschickt.

Dieses Thema erzielt noch heute die gewünschte Wirkung.

Wer möchte nicht von Steuern und Abgaben entlastet werden?

Wenn man diese Frage von den öffentlichen Leistungen trennt, dann ist das Ergebnis klar. Der Hinweis auf die hohen 207 Abzüge spaltet zudem die Arbeitnehmerschaft und lähmt die Gewerkschaften.

Sie sind gezwungen, im Interesse ihrer Mitglieder für die Verringerung der Abzüge einzutreten, und wissen gleichzeitig, dass öffentliche Leistungen gerade für Arbeitnehmer und die Schwächeren unserer Gesellschaft lebenswichtig sind. Dieses Dilemma wird weidlich genutzt, so immer wieder von der »Bild«- Zeitung. Typisch der Kommentar in »Bild« vom 4. März 2008:

»Steuer-Gier immer größer!
Jetzt haben wir es erneut schwarz auf weiß: Steuern und Abgaben fressen uns auf! Ob Soli, Öko-, Mehrwert- und bald Abgeltungssteuer – die Gier des Staates wird immer größer. Die Leidtragenden sind vor allem die Millionen Beschäftigten! Denn bei den Löhnen tut sich im Gegenzug nichts. Die mäßigen Steigerungen sind zwar gut für die Bilanzen der Firmen. Aber im Geldbeutel der Arbeitnehmer kommt kein spürbares Plus an – die Inflation frisst alles wieder auf. Unterm Strich sind die Löhne in den letzten zehn Jahren sogar leicht gesunken. Gleichzeitig stiegen die Belastungen durch den Staat weiter an. Im Klartext: Arbeit und Fleiß lohnen sich nicht wirklich. Deshalb wird es höchste Zeit, dass die Politik Abgaben und Steuern senkt. Nur so gibt es wirklich mehr Netto für alle!«

»Bild« untermauerte diesen Kommentar noch mit einem zweiten Artikel: »Steuern und Abgaben. So raubt der Staat uns aus«.

Der Kommentator ist sinnigerweise Oliver Santen. Er kam von der Allianz zu »Bild« und betreibt dort Propaganda für die Privatvorsorge und gegen die gesetzliche Rente. Er ist also auch noch aktiv damit beschäftigt, für private Produkte wie Lebensversicherungen à la Riester und Rürup zu werben, die vom Staat hoch subventioniert sind. Dass das Geld dafür auch vom »gierigen« Staat bei den Bürgern kassiert wird, spielt dann natürlich keine Rolle. Denn die dafür notwendige Gier kommt seinen Freunden von der Finanzwirtschaft zugute.

Sparen zu wollen ist populär, und Schulden hinzunehmen ist unpopulär. Darauf baut eine zweite Linie der Meinungsmache gegen öffentliche Leistungen auf. Sie erscheint uns im täglichen politischen Leben in vielen Variationen. Beliebt ist die Rolle des 208 Sparkommissars. Das ist ein Ehrentitel, den sich ein kluger PRMacher für den früheren Finanzminister Hans Eichel ausgedacht hatte; Peer Steinbrück versucht ihn mit allen Mitteln und ohne Rücksicht auf die konjunkturellen Gegebenheiten und dringlichen Aufgaben des Staates zu erobern. Hier wird eine der Veränderungen sichtbar, die gravierende Auswirkungen auf die Anti-Staats-Kampagne hatten: Sozialdemokraten mauserten sich von Befürwortern einer Erweiterung des öffentlichen Korridors zu Sparkommissaren.

Selbstverständlich ist jeder anständige Mensch für Sparen und gegen Verschuldung; deshalb lädt dieses Thema profilierungsfreudige Jungpolitiker geradezu ein, sich seiner zu bemächtigen und dabei die Anerkennung wichtiger Meinungsführer in den Medien zu ergattern: Carsten Schneider (SPD), Oswald Metzger (nacheinander SPD, Die Grünen, CDU), Antje Hermenau (Die Grünen) haben sich so profiliert und das Thema in der Diskussion gehalten.

Wir werden ständig und wiederum in vielen Variationen mit dem Problem zu hoher Staatsschulden konfrontiert. Wir werden vom Bund der Steuerzahler zum Blick auf die »Schuldenuhr« vor dem Büro dieses Bundes in Berlin eingeladen. Diese Vereinigung nennt sich Bund der Steuerzahler, ist aber mehrheitlich ein Bund von Unternehmen und Freiberufl ern. Seine »Schuldenuhr«, die den Zuwachs der öffentlichen Schulden dramatisch und optisch verwertbar anzeigt, wird von Fernsehjournalisten gerne zur Meinungsmache genutzt. So ist es gedacht und so funktioniert es.

Die Bertelsmann Stiftung, die nicht fehlen darf, wenn es darum geht, Stimmung für Entstaatlichung zu machen, unterhielt uns Ende Juni 2008 mit einem Kommunalen Finanz- und Schuldenreport 2008 über die finanzielle Lage der Kommunen in Deutschland. In einem Bericht von »SpiegelOnline«, über den »Spiegel« zu 25 Prozent im Eigentum einer Bertelsmann-Tochter, hieß es zum Einstieg schön stimmungsmachend: »Kommunen rechnen ihre Schulden schön«. Sie sind »viel stärker verschuldet als angenommen«. Lobend hieß es: »Manche Städte und Gemeinden hätten sich allerdings durch den Verkauf von kommunalem 209 Eigentum – wie beispielsweise Dresden durch die Privatisierung einer Wohnungsgesellschaft – weitgehend entschuldet.« Das zeigt die Stoßrichtung, die Forderung nach weniger Staat.

Bei der stimmungmachenden Staatsschuldendebatte wird unverblümt ein Trick der Meinungsmache angewandt: die Ausblendung.

Von der hohen Zunahme der Verschuldung durch die schlecht gemachte deutsche Vereinigung und die dabei begangenen teuren Untaten und Fehler spricht man nicht, obwohl es im Schnitt der neunziger Jahre jährlich Spitzenwerte von rund 80 Milliarden Euro waren. Hier gibt es offensichtlich eine Absprache unter den Meinungsmachern in Politik und Medien. Es wird weder über die miserable Leistungsbilanz der Treuhand noch über das Verscherbeln der ostdeutschen Banken an die westdeutschen gesprochen. Das Schweigen über wichtige Vorgänge ist ein besonderes Mittel der Meinungsmache. Und das Schweigen über die Rolle der so schlecht gemachten Vereinigung der beiden Teile Deutschlands ist eines der herausragenden Beispiele dafür.

Zur Palette der Meinungsmache im Interesse der Reduzierung der Staatstätigkeit gehört weiter

  • der wiederkehrende Vorwurf staatlicher Bürokratie,
  • die Behauptung, die Manager in der Wirtschaft seien kompetent und die Politiker seien inkompetent, und
  • der Vorwurf der Verschwendung.

Es gibt Bürokratie, es gibt Verschwendung, es gibt inkompetente Politiker und inkompetente Verwaltungsbeamte. Aber zum einen trifft man auf diese Schwächen im privaten Sektor auch. Auch dort gibt es Bürokratien, auch dort gibt es Korruption, wie der Fall Siemens ausgiebig belegt, auch dort gibt es Inkompetenz.

Was auf den Finanzmärkten zwischen 2001 und 2008 geschah, war entweder kriminell oder inkompetent oder beides.

Zudem wäre immer zuerst noch die Frage zu stellen, was man tun kann, um Bürokratisierung, Bequemlichkeit und Unbeweglichkeit bei der Bereitstellung öffentlicher Güter und Dienstleistungen abzumildern und letztlich loszuwerden. Dass dies praktisch geht, sehen wir hierzulande mittlerweile in vielen Städten und Gemeinden, in Rathäusern und in Kreisverwaltungen, in 210 Landesverwaltungen und bei öffentlichen Unternehmen. Es gibt in Deutschland inzwischen gut organisierte Verwaltungen, es gibt effizient arbeitende öffentliche Verkehrsbetriebe und Stadtwerke.

Und dann sollte man bei einer Bewertung noch beachten, dass wir es inzwischen mit neuen Bürokratien zu tun haben, die aus der Privatisierung wichtiger öffentlicher Einrichtungen und Unternehmen folgen. Weil die Privatisierung der Energiewirtschaft und der Telekommunikation, der Eisenbahn und des Fernsehens beziehungsweise des Hörfunks angesichts der sogenannten Unteilbarkeiten77 zu neuen privaten Monopolen und Oligopolen führen, sieht man sich gezwungen, sogenannte Regulierungsbehörden und – im Falle des Rundfunks – Medienkontrolleure zu installieren. Damit sind nolens volens neue Bürokratien entstanden.

Ihre Entscheidungen sind nahezu willkürlicher Natur, und die betreibenden privaten Unternehmen bringen obendrein den Nachteil, dass sie nicht mehr öffentlich und schon gar nicht parlamentarisch verantwortet und kontrolliert sind.

Einige der von der öffentlichen Hand entlassenen und privatisierten Unternehmen haben dann übrigens erst in dieser neueren befreiten Situation ihr Talent zur Verschwendung und zu abenteuerlichem Investitionsverhalten entdeckt. Die privatisierte Deutsche Telekom AG hat genauso wie die aus der direkten Kontrolle des Staates entlassene Deutsche Bahn AG die Verschwendung von finanziellen Mitteln auf den globalen Märkten für Beteiligungen richtig ausgekostet – der Spieltrieb der befreiten Manager vom Typ Ron Sommer und Hartmut Mehdorn konnte sich erst in dieser privatisierten beziehungsweise de facto privatisierten Konstellation richtig austoben.

Fazit: Offensichtlich muss beim Urteil über die Frage öffentlich oder privat die Scheidelinie nicht zwischen der privaten Organisation einerseits und der öffentlichen Organisation einer Dienstleistung andererseits verlaufen. Unsinn ist bei beiden Formen des Eigentums möglich.

Die notwendige Debatte und Beratung dieser Probleme ist heute angesichts der Vorherrschaft der Entstaatlichungs- und 211 Privatisierungsparolen kaum möglich. Die rationale sachliche Debatte wird überlagert durch die Vorherrschaft einer einseitigen Meinungsmache.

Die Propaganda gegen die staatliche Tätigkeit und gegen öffentliche Leistungen wäre nicht annähernd so wirkungsvoll wie heute, wenn sie nicht unterfüttert und gestützt würde von politischen Entscheidungen, mit denen die Leistungsfähigkeit der öffentlichen Einrichtungen gefährdet und verschlechtert wird – das ist hier ähnlich wie bei der Zerstörung des Vertrauens in die gesetzliche Rente. Die Basis für die Meinungsmache wird politisch geschaffen: Man senkt die Steuern wie zum Beispiel mit der großen Unternehmenssteuerreform durch Rot-Grün und mit einem ansehnlichen Blumenstrauß von Steuersenkungen und -streichungen in Kohls Regierungszeit. Die Streichung der Vermögenssteuer und der Gewerbekapitalsteuer geht auf Kohl zurück; Letzteres hat die Kommunen viel Geld gekostet. Gewinner der vielen Steuersenkungsoperationen waren Unternehmen und vor allem große Kapitalgesellschaften, die z.B. ihre Aktienpakete verkaufen können, ohne den dabei realisierten Gewinn zu versteuern.

Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger war nicht unter den Gewinnern. Sie sehen aber die mangelhafte Leistung einer unterfinanzierten öffentlichen Hand und klagen darüber. Das ist das, was sie lernen sollen.

Jetzt ist ein neues Instrument zur Begrenzung der Leistungsfähigkeit des Staates eingeführt worden. Die Politiker der großen Koalition haben sich die Idee einreden lassen, eine »Schuldenbremse « in die Föderalismusreform aufzunehmen und diese sogar im Grundgesetz zu verankern. Sie soll Bund, Länder und Gemeinden dazu zwingen, über einen Konjunkturzyklus hinweg die Haushalte ausgeglichen zu halten. Dieses Instrument ist schon makroökonomisch nicht zu verstehen, weil es eine prozyklische Politik stärkt, also die Konjunkturausschläge insbesondere nach unten zu verschärfen droht. Es wird dazu führen, dass die öffentlichen Hände dann am schlechtesten ausgestattet sind, wenn sie die Finanzmittel für öffentliche Leistungen am dringendsten brauchen würden.78 Außerdem wird dieses Instrument dazu führen, dass der Staat – und das sind wir alle – nicht mehr ausreichend fähig sein wird, neuen Bedarf an öffentlichen Leistungen, falls es diesen gibt, ohne sehr große Schwierigkeiten zu decken.

Hätte es eine solche Schuldenbremse Ende der 1960er Jahre gegeben, wir hätten den völlig vernachlässigten Schutz von Umwelt und Gewässern wie auch den vernachlässigten Hochschulbau nicht finanzieren können. Die Schuldenbremse ist ein gutes Beispiel für eine politische Entscheidung, die vornehmlich durch Meinungsmache in die öffentliche Debatte und in den Entscheidungsprozess eingeführt wurde. Und wenn sie einmal eingeführt ist, dann wird sie immer wieder das Thema Sparen und Schulden am Kochen halten.

Die Verarmung des Staates kostet uns sehr viel:

Wir investieren nicht mehr ausreichend für die Zukunft

Die »Frankfurter Rundschau« veröffentlichte am 10. Mai 2008 ein Interview mit dem Mitglied des Sachverständigenrates Peter Bofinger. Weil die Steuerschätzer – übrigens in gravierender Fehleinschätzung der krisenhaften Entwicklung – bis zum Jahre 2012 mit Mehreinnahmen für die öffentliche Hand in Höhe von 100 Milliarden Euro rechneten, folgte ein Vorschlag dem andern, die Steuern zu senken. Der Bundesfinanzminister dagegen wollte lieber Schulden abbauen. Peter Bofinger wies auf die Selbstverständlichkeit hin, das Geld für Bildung und die Infrastruktur auszugeben.

Und er nannte es typisch, dass nur die anderen Optionen zur Debatte gestellt werden: Steuern senken oder Schulden abbauen. Aus seiner Sicht hat der »öffentliche Diskurs eine gefährliche Unwucht«. Das ist angesichts der nunmehr jahrzehntelangen aggressiven Diskussion gegen den Staat als Fiskus und daraus folgend als Leistungsträger kein Wunder.

Unsere Infrastruktur wird schlechter. Kanalisationen verlottern, für Bildung und Ausbildung ist nicht ausreichend Geld da.

Deutschland gibt für Bildung heute anteilsmäßig weniger aus als noch Mitte der neunziger Jahre. Damals standen 6,9 % des Bruttoinlandsproduktes für Bildung zur Verfügung, 2006 nur noch 6,2 %, so steht es im zweiten nationalen Bildungsbericht, der im Juni 2008 bekannt wurde. Mit 6,2 % liegt Deutschland unterhalb des Durchschnitts der OECD-Länder, also der vergleichbaren Industriestaaten auf der Welt. In den Medien wird über die Misere berichtet, zum Beispiel in der »Berliner Zeitung« am 13. Juni 2008: »Noch immer verlassen fast 8 Prozent eines Altersjahrgangs die Schule ohne Abschluss. 40 Prozent der ehemaligen Hauptschüler haben nach zwei Jahren noch keine Berufsausbildung begonnen. Der Zentralverband des Handwerks hält jeden vierten Jugendlichen für nicht ausbildungsfähig. Es studieren noch immer zu wenig junge Menschen; die Weiterbildung stagniert, die Benachteiligung von Migrantenkindern bleibt bestehen.

Abhilfe ist kaum in Sicht. Laut Bildungsbericht wird der Nachwuchs an Lehrern und Erziehern immer knapper.« »Im Kern verrottet« überschreibt der »Spiegel« einen Bericht über den baulichen und sonstigen Zustand unserer Hochschulen.79

Wir wissen, was zu tun wäre, und es gibt sogar über alle Parteien hinweg einen erstaunlichen Konsens darüber, dass wir mehr in die Zukunft investieren müssen. Die Sonntagsreden unserer Politikerinnen und Politiker sind voll von sorgenvollen Analysen und von schönen Sprüchen: Bildung für alle, Wissensgesellschaft, Wissen als Rohstoff der Zukunft, Megathema Bildung (Herzog), Bildung sei die soziale Frage des 21. Jahrhunderts, deklamierte ein CDU-Parteitag schon vor über zehn Jahren. In der gleichen Zeit wurden die Kassen des Staates genau auch für dieses Aufgabenfeld immer ärmer ausgestattet.

Was zu tun wäre, wissen wir: Wir brauchten mehr Ganztagsschulen und eine bessere Vorschulerziehung; die Lehrer-Schüler-Relation müsste verbessert, unsere Schulen und Universitäten saniert und modernisiert werden. Unsere Universitäten sind überlastet.

In Seminarräumen für 50 werden 300 Studenten untergebracht.

Die Studienbedingungen werden mit Recht als schlecht bis katastrophal empfunden. Wir wissen, wo wir investieren müssten.

Die Ganztagsbetreuung in unseren Schulen wird zum Teil von 214 dafür nicht ausgebildeten Personen übernommen, auch damit man niedrigere Löhne zahlen kann. Also brauchen wir mehr Geld für Personal.

Wir wissen, dass Kinder und Jugendliche aus einkommensschwächeren Schichten in unserem Bildungssystem immer noch Schwierigkeiten haben weiterzukommen. Wir wissen, dass unsere Hochschulen wegen der mangelhaften öffentlichen Hilfe tendenziell immer mehr von den Kindern der Bessergestellten, von Akademikerkindern besucht werden und die Kinder der finanziell Schlechtergestellten benachteiligt sind. Diese Vernachlässigung der Begabungsreserven ist unfair und gesellschaftspolitisch genauso dumm wie in den 1950er und 1960er Jahren, als dies »Bildungsnotstand« genannt wurde. Wir wissen, dass das dicke Ende dieser Fehlentwicklung noch auf unsere Gesellschaft zukommt. Wir wissen, dass diese Konsequenz der Verarmung des Staates die eigentliche Benachteiligung der jungen Generation ausmacht. Wir wissen das, aber es geschieht nichts Entscheidendes.

Das gilt auch für benachbarte Bereiche unseres gesellschaftlichen Lebens: Wir wissen, dass wir mehr tun müssten für unsere Jugend – für Jugendzentren, für seelische Betreuung, für Jugendarbeit insgesamt. Und dennoch wird bei der Jugendhilfe immer noch gestrichen und sogar zusammengestrichen, statt neu zu investieren.

Wir wissen, dass wir Integrationsprobleme haben. Wir brauchten mehr Sprachunterricht für Kinder von Aussiedlern und Ausländern.

Aber die Mittel sind schon zu Kohls Zeiten gekürzt worden, obwohl gerade die Regierung Kohl besonders viele Aussiedler ins Land geholt hat.

Die Verarmung des Staates werden künftige Generationen zu spüren bekommen. Und zwar sehr viel mehr, als die im Jahr 2008 von einigen Wortführern aus der jüngeren Generation und vom früheren Bundespräsidenten Herzog zum Symbol ihrer Benachteiligung durch die Rentner hochgespielte Rentenerhöhung um 1,1 Prozent die künftigen Generationen kosten könnte. Wir tun den jungen Leuten und Kindern einen Gefallen, wenn wir ihnen 215 eine gute, möglichst perfekte, moderne Infrastruktur hinterlassen.

Jenen unter der jüngeren Generation, die heute über Staatsschulden und die daraus angeblich folgenden Benachteiligungen jammern, wäre zu wünschen, einen aufgeschlossenen Blick in die USA zu werfen oder wenigstens zu lesen, was von dort berichtet wird. Der »Spiegel«, sonst hier nicht besonders respektvoll zitiert, hat einen kritischen USA-Korrespondenten. Dieser berichtete am 2. August 2007: »Kollaps der US-Infrastruktur. Marode Brücken, miese Straßen, morsche Dämme. Die Brücken-Katastrophe von Minneapolis ist ein Menetekel. Mehr als 160 000 Straßenbrücken in den USA gelten als einsturzgefährdet. Fernrouten, Tunnel, Dämme und Deiche sind in so miserablem Zustand, dass Ingenieure schon lange Alarm schlagen – bisher vergeblich.«

Das sind die Folgen einer systematischen Verarmung des Staates.

Das geht zu Lasten künftiger Generationen. Das müsste man doch eigentlich verstehen. Dagegen stehen bei uns nicht nur die herrschende Ideologie, sondern auch gut organisierte und meinungsstarke Interessen. Wer die Profiteure der Verarmung des Staates sind, liegt auf der Hand, neben den auf diesem Feld nun wirklich virulenten Ideologen der neoliberalen Wirtschaftsvorstellungen sind auch einige handfestere Interessen erkennbar:

Wenn den öffentlichen Schulen und Universitäten das Geld für die notwendige Modernisierung fehlt, dann bieten sich private Träger an. Und Eltern gehen auf die Angebote ein, weil sie es mit ihren Kindern gut meinen. Die Verarmung des Staates sorgt indirekt dafür, dass die Kinder von Besserverdienenden eine größere Chance auf eine gute Ausbildung und damit auf ein privilegiertes Berufsleben haben. Mit der Verarmung des Staates von heute werden also die Weichen auf eine Segmentierung der Ausbildungs- und Berufschancen entsprechend der Herkunft und der finanziellen Stärke der Eltern gestellt.

Wenn den Kreisen und Städten das Geld für die Krankenhäuser ausgeht und sie sich überfordert fühlen, dann privatisieren sie. Und große private Krankenhauskonzerne stehen bereit.

Wenn unsere Kommunen Probleme haben, ihre Verwaltung ordentlich zu gestalten, dann steht die Bertelsmann-Tochter 216 Arvato bereit zur Übernahme. Damit ist 2007 in Würzburg begonnen worden. Verarmung und Entstaatlichung öffnen nach Einschätzung des Geschäftsführers von Arvato vor allem dieser Bertelsmann-Tochter ungeahnte neue Geschäftsfelder.

Wenn dem Bundesverkehrsminister das Geld für Bundesstraßen und Autobahnen fehlt und die Staus wachsen, dann bieten sich Private zur Übernahme an; weil die nackte Privatisierung zu auffällig ist und Widerstände auslöst, wählt man seit ein paar Jahren – begonnen in Großbritannien – den angenehmer klingenden Weg über sogenannte Öffentlich-Private Partnerschaften.

Wenn die Schulden wachsen, weil die Steuern zur Finanzierung der öffentlichen Aufgaben nicht reichen, dann rufen die Interessierten nach der Privatisierung öffentlicher Unternehmen, öffentlicher Einrichtungen und öffentlicher Wohnungsbestände.

Dann verdienen die einen an der Transaktion staatlichen Eigentums zu privatem und die andern am günstigen Einkauf neuer Vermögenswerte. Und eine durch permanente Meinungsmache verbildete Öffentlichkeit glaubt wirklich, die staatlichen Stellen, die Gemeinden, die Länder, der Bund hätten etwas gewonnen, wenn sie ihre Bilanz verkürzen – links weniger Vermögen, rechts weniger Schulden. Wie in Dresden durch den Verkauf städtischer Wohnungen.

Wenn dem Staat das Geld für eine ausreichende Ausstattung mit Finanzbeamten fehlt, dann haben es jene gut, die Steuern hinterziehen wollen. Dem Fiskus entgehen allein bei der Umsatzsteuer durch nationale und internationale Betrugsdelikte jährlich zweistellige Milliardenbeträge.80 Der Vorsitzende der deutschen Steuergewerkschaft, Dieter Ondracek, schätzt das Volumen der jährlichen Steuerhinterziehung auf rund 30 Milliarden Euro. Die Memo-Gruppe, eine Gruppe kritischer Wirtschaftswissenschaftler, sieht Ausfälle zwischen 70 und 100 Milliarden. Und dennoch lösen die Länder die Vereinbarung über eine bessere personelle Ausstattung der Steuerprüfung und Steuerfahndung nicht ein.

Wenn der Staat mehr Geld zur Bedienung großer privater Interessen braucht, dann fehlt es übrigens nicht an Mitteln. In die 217 Großbetriebe der Landwirtschaft fl ießen nach wie vor die Milliarden an Subventionen, genauso wie in die Versicherungswirtschaft und selbstverständlich auch die Flugzeugindustrie; zur Rettung einer einzigen privaten Bank werden weit über 100 Milliarden bereitgestellt, die Aktionäre der eigentlich pleitegegangenen HRE, deren Kurs ohne staatlichen Rettungsschirm vermutlich bei 0,0 läge, sollen vom staatlichen Rettungsschirm SoFFin 1,39 € je Aktie erhalten (Stand: 1. Juni 2009). Das ist eine 290-Millionen-Euro-Prämie für die Zocker. Einfach so, unser Geld für wertlose Papiere. Die 480 Milliarden, die der Rettungsschirm insgesamt bereithält, machen insgesamt mehr als das Anderthalbfache des gesamten Bundeshaushalts aus.

Einige andere Länder gehen bewusst einen anderen Weg. Die skandinavischen Länder zum Beispiel haben eine merklich höhere Staatsquote. Dänemark und auch Schweden »belasten« ihre Bürger um fast ein Viertel höher als wir. Die skandinavischen Länder erzielen trotz – oder vielleicht wegen – hoher Staatsquoten durchgehend bessere wirtschaftliche Erfolge. Das müsste doch zu denken geben. Das müsste zunächst dazu führen, dass wir unsere Sprache von Vorurteilen reinigen. Es ist eben falsch, von »Belastung« zu sprechen, wenn wir gemeinsam als Staat gute Leistungen zum Beispiel für Bildung und Infrastruktur bieten und dafür mehr Abgaben und Steuern einsammeln: ein besseres, durchlässiges Bildungswesen, eine gute Infrastruktur, ein gutes soziales Netz für den Fall der Arbeitslosigkeit und des Alters – das sind Leistungen, die offensichtlich ihren Preis wert sind und zu Unrecht »Belastungen« genannt werden.81

Die Tatsache, dass Entstaatlichung und wirtschaftlicher Erfolg durchgehend nicht positiv korreliert sind, müsste endlich doch auch bei unseren Meinungsführern Nachdenken auslösen.

In der Praxis ist das nicht so. Die »Bild«-Zeitung, die Bertelsmann Stiftung, die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, die Wirtschaftsverbände, die etablierten Parteien und eine Unzahl von Stiftungen, Initiativen und PR-Agenturen machen weiter ihre Propaganda gegen den Staat. Und Politiker profilieren sich 218 reihenweise mit ihrer Spartugend, die im Ernst wegen der damit verbundenen verschärften Abwürgung der Konjunktur gar keine ist. Und je weiter unser Land in eine wirkliche Wirtschaftskrise abrutscht, umso mehr wird diese primitive Profilierung zu Lasten öffentlicher Leistungen und zu Lasten einer aktiven Konjunkturpolitik zum Horror. Das traurige Ergebnis der gezielten Meinungsmache verhindert rationale politische Entscheidungen.

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