Das moralische Ozonloch

Götz Eisenberg
Ein Artikel von Götz Eisenberg

Götz Eisenberg hat den NachDenkSeiten einen Text („Das moralische Ozonloch“) überlassen, der ein grundlegendes Problem behandelt – die Frage nämlich, welche Auswirkungen unser Wirtschaftssystem und seine Regeln auf unser Verhalten und auf unsere Moral haben. Der Text ist am 17. November im Gießener Anzeiger erschienen. Die NachDenkSeiten wollen ihn als Denkanstoß multiplizieren. Es lohnt sich, darüber nachzudenken und in den Blick zu nehmen, dass die Wirtschaftsweise die Moral und den Umgang unter uns prägen. Wie gut wir leben, hängt wesentlich davon ab, wie wir miteinander umgehen. Albrecht Müller.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Wenn ein System auf dem Glauben aufbaut, jeder sei seines Glückes Schmied, dann verhalten sich die Menschen tendenziell dementsprechend, nicht nur als Wirtschaftssubjekte, sondern oft auch im privaten Leben, im Wohnzimmer und auf dem Fußballplatz, in der Straßenbahn und auf der Straße. Wenn die Gesellschaft akzeptiert und in sich aufgenommen hat, dass Solidarität ein wichtiges Teilelement des gesellschaftlichen Zusammenlebens ist, wenn diese Vorstellung sogar die Stammtische erreicht, dann werden die Menschen tendenziell anders miteinander umgehen. Alles kommt darauf an, welche Werte und welches Verhalten hoffähig und bestimmend sind.

Darüber zu sprechen und zu streiten lohnt sich. Deshalb kommen demnächst dazu ein paar weitere Gedanken auf den NachDenkSeiten. Heute aber, quasi zum Anpfiff, der Text von Götz Eisenberg:

Das moralische Ozonloch

Markt und Moral verhalten sich umgekehrt proportional zueinander: Je mehr Markt, desto weniger Moral. Die kapitalistische Modernisierung zehrt von einer Moral, sie sie verschleißt und innerhalb ihrer Funktionsgesetzlichkeiten selbst nicht produziert. Der Markt verhält sich zu diesen Moralbeständen wie die Industrie zu den fossilen Brennstoffen: Sie werden im Zuge ihrer Expansion aufgezehrt. Moral ist aber für den Zusammenhalt und das Funktionieren einer Gesellschaft, wie wir sie kennen, unverzichtbar. Die im Namen des Neoliberalismus betriebene Deregulierung von Sozialstaat, Wirtschaft und Gesellschaft geht mit einer psychischen und moralischen Deregulierung einher, so dass wir uns nicht wundern dürfen, wenn die Waren- und Geldsubjekte mehr und mehr moralisch verwildern. Wenn wir nicht energisch gegensteuern und für eine soziale und moralische Veränderung der Gesellschaft sorgen, werden Polizeistaat und digitale Kontrollnetze über uns kommen.

Anmerkungen und Beobachtungen von Götz Eisenberg

Samstags gehe ich auf den Wochenmarkt. Wenn ich das nicht tue, bin ich entweder krank oder nicht in Gießen. Neulich hatte ich an einem meiner Lieblingsstände Brot und Eier gekauft. Als ich mich zum Gehen wandte, sah ich, dass nach mir ein alter Mann bedient wurde. Nachdem er seine Einkäufe bezahlt hatte, schickt er sich an, einen Laib Brot in seinem Einkaufstrolley zu verstauen. Er tat sich schwer damit, ihn in den Sack zu bugsieren. Neben ihm warteten ein Mann und sein vielleicht sechsjähriger Sohn darauf, dass sie an die Reihe kamen. Als der kleine Junge sah, wie der alte Mann sich abmühte, fragt er ihn: „Soll ich Ihnen den Sack aufhalten?“ Und schon zog er dessen Öffnung auseinander, so dass der alte Herr sein Brot bequem verstauen konnte. Niemand hatte den Jungen zu dieser Hilfestellung aufgefordert. Er tat das von sich aus und wie selbstverständlich.

Warum geht mir diese Szene nicht aus dem Sinn? Weil gegenseitige Hilfe unter Fremden inzwischen alles andere ist als selbstverständlich, nämlich eine große Ausnahme und Seltenheit. Der Junge verfügte über eine intakte Wahrnehmung und die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und deren Notlage zu erkennen. Und vor allem setzte sich die Erkenntnis der Notlage in den Impuls zu helfen um. Diese Fähigkeit bildet sich unter unseren Augen dramatisch zurück. Und das nicht nur bei Kindern, sondern auch bei Erwachsenen, die ihnen ja bei deren Erwerb Modell stehen sollten. Es herrscht ein Mangel an Gegenseitigkeit und Solidarität in der Gesellschaft, die in lauter gegeneinander isolierte Sozialatome zerfällt. Höflichkeit und Rücksichtnahme, die einzig den sozialen Verkehr im darwinistischen Konkurrenzkampf halbwegs erträglich gestalteten, bilden sich zurück und weichen der gnadenlosen Verfolgung eigener Interessen. Alte Leute und Sonderlinge werden im hektischen Alltagsbetrieb und beim Einkaufen nur noch als Störfaktor wahrgenommen und an den Rand gedrängt.

Um es nicht bei einem kulturkritischen Lamento zu belassen, müssen wir uns fragen: Welche Haltungen und Fähigkeiten gedeihen eigentlich in einem gegebenen sozialen Klima, welche verdorren? Es macht einen großen Unterschied, ob man in einem entfalteten Sozialstaat aufwächst, der auf Solidarität und Gemeinschaftlichkeit setzt und Schwächeren beispringt, oder in einer Gesellschaft des entfesselten Marktes, in der der Mitmensch zum Konkurrenten um knappe Lebenschancen wird und Glück darin besteht, dass der Pfeil von Armut und Arbeitslosigkeit den anderen trifft. Die Fähigkeit, uns in andere Personen hineinversetzen und mit ihnen mitfühlen zu können, mag in uns angelegt sein, aber sie bildet und formt sich vor allem in sehr frühen Erfahrungen mit unseren Bezugspersonen und unserer Um- und Mitwelt. Besser oder schlechter und manchmal auch gar nicht, je nachdem, welche Bedingungen ein Kind antrifft. Kinder brauchen verlässliche Bindungen an leibhaftig anwesende Bezugspersonen (und nicht nur deren digitale Schatten), damit sie ihre psychische Geburt vollenden und sich zu Menschen mit menschlichen Eigenschaften entwickeln können.
Die hinter uns liegenden eisigen Jahre unter der Hegemonie des Neoliberalismus haben die Menschen selbst eisig werden lassen. Sie können gar nicht anders, als diese Kälte weiterzugeben und auf ihre Umgebung und Mitmenschen abzustrahlen. Empathie und Mitgefühl bilden sich zurück, während Narzissmus und Eigennutz einen Boom erleben und den neoliberalen Sozialcharakter prägen. Eine Gesellschaft, die sich als Ganze den Imperativen des Marktes unterwirft und menschliche Bindungen im Namen von Flexibilität und Mobilität systematisch zerstört, bringt auf der subjektiven Seite nur noch die psychischen Entsprechungen des Marktes hervor: kalte Schonungs- und Rücksichtslosigkeit, moralische Indifferenz und eine latente Feindseligkeit, die jederzeit in offenen Hass umschlagen kann – bevorzugt auf Minderheiten und Fremde, die den Menschen als Sündenböcke für ihre eigene Malaise dienen.
Es sind also nicht nur Tier- und Pflanzenarten, die heute unterm Diktat der Gewinnmaximierung vernichtet werden, sondern peu à peu auch unsere menschliche Werteordnung. „Sie wird“, schrieb der britische Schriftsteller John Berger, „systematisch besprüht – nicht mit Pestiziden, sondern mit Ethiziden – Wirkstoffen, die die Ethik und damit auch jeden Sinn für Geschichte und Gerechtigkeit töten.“ Über den Gesellschaften des entfesselten Marktes bildet sich so ein ständig größer werdendes moralisches Ozonloch. Was durch das permanente Versprühen von Ethziden abstirbt, ist unwiderruflich dahin und auch durch Ethikunterricht nicht wiederzubeleben. Wenn wir wirklich etwas gegen die wachsende psychische Verelendung und moralische Verwahrlosung unternehmen wollen, sollten wir uns für eine solidarische Ökonomie und neue Vergesellschaftungsformen jenseits von Ware, Geld und Markt einsetzen. Wir brauchen eine Gesellschaft, die menschliche Bindungen hervorbringt und fördert, statt sie systematisch zu zerstören, wie es das System des flexiblen Kapitalismus tut, das in Bindungen und moralischen Grundsätzen eine Form der Behinderung erblickt.

Dieser Text ist am 17.11.2018 als Kolumne im Gießener Anzeiger erschienen.


Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitete jahrzehntelang als Gefängnispsychologe im Erwachsenenstrafvollzug. Er ist Mitinitiator des Gießener Georg-Büchner-Clubs. Eisenberg arbeitet an einer „Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus“, deren dritter Band unter dem Titel „Zwischen Anarchismus und Populismus“ soeben im Verlag Wolfgang Polkowski in Gießen erschienen ist.

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