Die Domestizierung der Friedensforschung – Paradigma für die neoliberale Gleichschaltung der Wissenschaft?

Werner Ruf
Ein Artikel von Werner Ruf

„Krieg nach innen, Krieg nach außen“ – angesichts der immer mehr ausgeweiteten Kriege und ihrer politischen Rechtfertigung fragen die Autorinnen und Autoren des gleichnamigen Buches nach der Verantwortung der Intellektuellen. Sie thematisieren die zunehmende und stärkere Beteiligung Deutschlands an Kriegseinsätzen, die ausgeweitete deutsche Waffenproduktion und bieten Ansätze, diese in ihren Zusammenhängen, ihren Ursachen und Auswirkungen zu verstehen. Werner Ruf untersucht in seinem Beitrag die Domestizierung der Friedensforschung.

In ihrer Gründungsphase definierte die Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK) auf einer Tagung in Berlin-Wannsee am 24. und 25. April 1971 ihr Selbstverständnis folgendermaßen:

»Kritische Friedensforscher/innen lehnen eine am Status quo orientierte Befriedungsforschung ab. […] Kritische Friedensforscher/innen begreifen sich als wissenschaftliche Parteigänger von Menschen, die durch die ungleiche Verteilung sozialer und ökonomischer Lebenschancen in und zwischen Nationen (d. h. durch strukturelle Gewalt) betroffen sind: von Ausgebeuteten, von sozial Diskriminierten und von unmittelbar in ihrer physischen Existenz Bedrohten.« (Wasmuht 1998, S. 177).

Wird Friedensforschung konsequent gedacht, kann sie sich nicht auf Kriege in Form zwischenstaatlicher bewaffneter Auseinandersetzung beschränken, sondern muss konsequenterweise die Frage nach dem Ursprung und den Ursachen von Gewalt stellen. Forschungsgegenstand werden dann alle Formen struktureller Gewalt (Johan Galtung), ebenso – als Gegenmodell zum gewaltförmigen Widerstand – Formen der Gewaltfreiheit, wie sie etwa von Gandhi praktiziert wurde.

Entscheidenden Einfluss auf das Selbstverständnis vieler Friedensforscherinnen und Friedensforscher in Deutschland hatte die Kritische Theorie Max Horkheimers und Theodor W. Adornos. Im Sinne der Kritik an Strukturellen Gewaltverhältnissen erhielten zahlreiche Arbeiten eine anti-imperialistische Stoßrichtung, der Vietnamkrieg wie auch der Putsch gegen die sozialistische Regierung in Chile vom 11. September 1973 wurden zu empirischen Bezugsgrößen. Zunehmend wurde explizit der Zusammenhang zwischen Kapitalismus, Ausbeutung, Gewalt und Krieg hergestellt: in den Analysen über strukturelle Gewalt von Johan Galtung (1971) wie in Arbeiten etwa von Fritz Vilmar (1969 und 1970). Auch die weit verbreiteten Publikationen von Dieter Senghaas (1974) nahmen das Ausbeutungsverhältnis zwischen kapitalistischem Norden und unterentwickeltem Süden ins Visier: Dort kamen neben Vertretern der lateinamerikanischen Dependenz-Theorie auch erklärte Marxisten wie etwa Samir Amin zu Wort. Die als Ausformung eines ausbeuterischen strukturellen Gewaltverhältnisses begriffenen Nord-Süd-Beziehungen wurden zu einem zentralen Strang friedensforscherischer Hypothesenbildung und empirischer Forschungen, die folgerichtig eine neue und intensive Beschäftigung mit Imperialismus-Theorien nach sich zogen. Dieser Strang der Friedensforschung prägte in hohem Maße die Entwicklungsländerforschung im Allgemeinen und wirkte zurück auf die politikwissenschaftliche Teildisziplin der Internationalen Beziehungen im Besonderen. Exemplarisch findet sich diese Position in den formulierten »Tutzinger Thesen« der Sektion Internationale Politik der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft vom September 1972, die feststellten, dass »die Analyse der internationalen Gesellschaft als einer komplexen Klassengesellschaft« geleistet werden müsse. Demzufolge (ist) »Außenpolitik heute staatlich vermittelte Politik des Krisenmanagements von jeweils herrschenden Klassen, deren Interesse zur Systemstabilisierung ableitbar ist von ihrer Stellung im gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsprozess, insbesondere ihrer Verflechtung im militärisch-industriellen Komplex.« (Krippendorff 1972, S. 364-368.)

Friedensforschung und neoliberaler Paradigmenwechsel

Bis gegen Ende der Achtzigerjahre verstanden sich weite Teile der Friedensforschung als wissenschaftlicher Arm der Friedensbewegung und sahen es (auch) als ihre Aufgabe, die Anliegen der Friedensbewegung durch wissenschaftliche Expertise zu unterfüttern. Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler engagierten sich selbst in der Friedensbewegung. Die AFK und ihr Vorstand bezogen regelmäßig öffentlich politische Positionen und gaben Erklärungen zu aktuellen Konflikten ab. Fast eine Art Relikt aus dieser kritischen Phase ist die Quartalszeitschrift Wissenschaft und Frieden, die 1983 auf Initiative des Bundes demokratischer Wissenschaftler (BdWi) gegründet wurde und die 2018 den Göttinger Friedenspreis erhielt. […]

Ab Ende der Achtzigerjahre veränderten sich die Mehrheitsverhältnisse innerhalb der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK), dem Zusammenschluss der Friedensforscher/innen, und die politische Ausrichtung der Organisation. Dies ist auf eine Mehrzahl von Faktoren zurückzuführen:

  • Während ihrer Konstituierung hatte sich die Friedensforschung eine eigene und selbstverwaltete Finanzierung durch die Deutsche Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung (DGFK) erkämpft, die vom Bund und den Ländern alimentiert wurde. Der Ausstieg der Länder Bayern und Baden-Württemberg führte schließlich zur Übertragung der Förderung an die DFG. Die Selbstbestimmung der Förderung innerhalb der Disziplin war damit beendet.
  • Folgenreich war ferner die Veränderung der politischen Kräfteverhältnisse in Deutschland, markiert durch die unter konservativem und neoliberalem Vorzeichen vollzogene deutsche Vereinigung. Diese ideologische Wende hatte sich bereits angekündigt in der Regierungsübernahme durch die CDU, sie kulminierte in Wandlungsprozessen innerhalb der SPD, die symbolisiert wurden durch die Kanzlerschaft Schröders, der gemeinsam mit dem grünen Außenminister Fischer Deutschland 1999 in seinen ersten und dazu noch völkerrechtswidrigen Krieg führte, wie auch im Rücktritt Oskar Lafontaines von den Ämtern des Finanzministers und des Parteivorsitzenden im März 1999.
  • Etwa zeitgleich nahm der »Mainstream« der Sozialwissenschaften Abschied von einem Selbstverständnis, das sich bis dahin mehrheitlich von »konservativ« bis »kritisch« stets normativ definiert hatte. Das inzwischen dominierende Paradigma des Konstruktivismus nimmt die Postulate der Positivisten wieder auf, indem es Wissenschaft als wertfrei versteht. Dass ein solcher Ansatz, der sich vordergründig auf die Erklärung empirischer Befunde beschränkt, selbst voll in die Falle der den Sozialwissenschaften immer inhärenten Normativität gerät, ist den Vertretern dieser Richtung nicht bewusst, bzw. wird negiert. […]
  • Mit diesen Veränderungen, die auf eine »Verwissenschaftlichung« der Friedensforschung abzielten, ging auch die Trennung der Friedensforschung von der Friedensbewegung einher: Die normativen, oft emotionalen Antriebe der friedensbewegten Menschen erreichten die sich zunehmend akademisch profilierende wissenschaftliche Community der Friedensforscherinnen und -forscher nicht mehr.

Ohne hier die wissenschaftstheoretische Debatte weiterführen zu können, sei diese Art der Politikberatung am Beispiel des neuen »friedensforscherischen« Selbstverständnisses exemplarisch illustriert: Ausgehend von einem modisch gewordenen Menschenrechtsdiskurs, der nicht mehr nach den Ursachen der Gefährdung menschlichen Lebens fragt, sondern das Elend als gegebenes (und möglicherweise bedrohliches) Gegenwartsproblem begreift, befürwortet die etablierte Friedensforschung beispielsweise sicherheitspolitische Konzepte wie die Zivil-Militärische Zusammenarbeit (CIMIC) oder die sogenannte Schutzverantwortung (responsibility to protect), indem sie ihre Expertise für die Optimierung dieser Konzepte anbietet: Heraus kommen dabei Politikempfehlungen wie beispielsweise die des den Grünen nahestehenden Instituts für Entwicklung und Frieden (Universität Duisburg/Essen):

»Das Bundesministerium für Verteidigung (BMVg) sollte sich stärker als bislang an diesem Austausch (über krisenrelevante Entwicklungen in den Ländern der ehemaligen »Dritten Welt« – WR) beteiligen und seine Erfahrungen zum Beispiel mit peace-keeping-Einsätzen einbringen, damit künftige Einsatzmandate realitätsnäher formuliert und in besserer Abstimmung mit den Aktivitäten der Zivilgesellschaft vorbereitet werden können.« (Debiel et al. 1999, S. 7)

Ein besonderes Dokument des Übergangs der Friedensforschung zum puren Bellizismus lieferte der (damalige) Direktor der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung Harald Müller (2011) anlässlich des Krieges der NATO gegen Libyen, indem er unter vordergründigem Verweis auf das Menschenrechtsargument mit Schärfe die Zurückhaltung der Bundesregierung im Falle dieses Krieges geißelte:

»Die Haltung der Bundesregierung im Fall Libyen ist ein moralischer und politischer Fehler. […] Scharf formuliert, gab es eine Allparteienkoalition gegen den Schutz der Menschen in Bengasi, geführt von der Linken mit ihrer kohärenten Anti-Interventions-Leitkultur, im Schlepptau die Regierungsparteien, die dem Motto des Wiener Chansonniers Georg Kreisler folgten »mir gfallts, aber i bin dagegen«, die SPD, zugleich schwammig und zerrissen, und ganz zuletzt die Grünen, halb protestierend und mit schlechtem Gewissen, aber durch Untätigkeit die deutsche Politik stillschweigend tolerierend. […] Die deutsche Reputation ist schwer beschädigt.«

Die mit Beginn der Neunzigerjahre und von der deutschen Vereinigung vielleicht nicht unbeeinflusste Verschiebung der Paradigmen innerhalb der Sozialwissenschaften hatte unmittelbare Auswirkungen auch auf die Friedensforschung, wo die (nie dominante, aber vorhandene) politische Ökonomie verdrängt wurde durch die konstruktivistischen Ansätze, die in positivistischer Tradition letztlich auch Friedens- und Konfliktforschung vom Standpunkt der Machbarkeit aus betrachten. Damit begibt sich die Friedensforschung ihres in der »Kritischen Friedensforschung« hochgehaltenen Anspruchs einer gesellschaftskritischen Analyse der strukturellen Konfliktursachen und ihrer Bekämpfung, bei der die Sozialwissenschaften selbst sich als Partei der Unterdrückten verstanden. So wird seit einigen Jahren auch in der AFK darüber debattiert, ob Friedensforschung denn überhaupt eine normative Wissenschaft sein könne und dürfe. Friedens- und Konfliktforschung wird von den Vertretern dieser Richtung eher als eine technizistische Disziplin verstanden, die gerade im Bereich der Friedenssicherung, ggf. auch der »Friedensschaffung«, den Werkzeugkasten bereitzustellen hat (und vermag), der Gewalt in den seit Ende der Bipolarität zunehmend innerstaatlichen Konflikten zu reduzieren oder zu beenden helfen könne (Ruf 2009).

Wissenschaft zieht sich so – wie Strutynski (2002) treffend argumentiert – in jenen Elfenbeinturm zurück, in dem sie Wissen in erster Linie für andere Wissenschaftler produziert. Doch nicht nur: Zunehmend versteht auch die Friedenswissenschaft ihre Produktion als auf »den Markt« gerichtet, der für ihre Produkte Verwendung hat. Damit ist die Friedenswissenschaft im Begriff, dorthin zurückzukehren, wo die Kritiker im wissenschaftlichen Establishment (verkörpert vor allem durch die DFG) sie schon in ihrer Gründungsphase haben wollten: Die Besetzung von Professuren erfolgt nach den Kriterien der (inzwischen wieder) etablierten, scheinbar unpolitischen Wissenschaft und (re)produziert sich in den Zwängen akademischer Karriereleitern selbst. Diese These wird belegt durch die Berufungspolitik seit der Jahrtausendwende, wo zahlreiche vakant gewordene Professuren in den Sozialwissenschaften gestrichen, viele aber mit Vertreterinnen und Vertretern des konstruktivistischen Paradigmas neu besetzt wurden.

Ein besonderes strukturelles Problem für die Friedensforschung war und ist, dass sie sich nur an wenigen Universitäten in Form von anerkannten Studiengängen etablieren konnte (womit noch nichts über die Inhalte der Curricula gesagt ist!). Friedensforschung existierte an den Universitäten daher vor allem in der Rechtsform der »An-Institute«, was heißt: Sie sind an Universitäten angegliedert, erhalten aber keine Mittel aus deren Etat, müssen also für ihre Finanzierung selbst sorgen. Der einzige Weg hierzu sind die »Drittmittel«: Zeitlich befristete und in ihrer Zielsetzung vom Auftraggeber formulierte Forschungsprojekte werden bei privaten, meist aber staatlichen Einrichtungen eingeworben. Hierfür bieten sich die klassischen Ministerien an, die mit Fragen der Konfliktbearbeitung befasst sind: Das Bundesministerium für Verteidigung, das Auswärtige Amt und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit.

Die Leiter der Institute, meist bestallte Universitätsprofessor/innen, stehen gegenüber ihren Mitarbeiter/innen, die in der Regel auf befristeten Projektstellen sitzen, in der sozialen Pflicht, deren materielle Existenz durch Anschlussprojekte zu sichern. Nur (im Sinne der Auftraggeber) erfolgreich abgeschlossene Projekte eröffnen die Chance, ein Folgeprojekt einzuwerben. »Der Markt« – und dieser ist überdies eng und von der Konkurrenz der Auftragnehmer geprägt – bestimmt Art und Inhalt der wissenschaftlichen Produktion. Hier ergibt sich ein Teufelskreis, der nicht nur Wissenschaft in den Dienst der Herrschenden stellt, sondern auch das Bewusstsein der beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler prägt: Dies reicht beispielsweise im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik von der Übernahme der durch den offiziellen Sicherheitsdiskurs vorgegebenen Begrifflichkeiten (peace keeping, peace enforcement, securitization usw.) bis zur Nichthinterfragung beispielsweise jener »Petersberg-Prinzipien« , die in der postbipolaren Welt dem Interventionswillen der EU- und NATO-Staaten Tür und Tor öffneten.

Fazit

Die herrschende Friedensforschung hat, wie auch die Entwicklung der seit 1987 jährlich erscheinenden »Friedensgutachten« zeigt, ganz im Gegensatz zu den Unkenrufen der Kritiker Heinemanns inzwischen sehr wohl beachtliche Bedeutung für die praktische Politik erlangt, wenn auch ganz anders als diese meinten: Nicht kritisch hinterfragend, sondern systemkonform optimierend geriert sich der Mainstream der heutigen Friedensforschung. So stellt sich auch in diesem Zusammenhang in eminenter Weise die Demokratiefrage: Der herrschende Diskurs in den Sozialwissenschaften fragt nicht mehr danach, wem die Produktion von Wissenschaft nützt, auf wessen Seite sie sich – konfliktanalysierend und -bekämpfend – engagieren muss, sondern danach, ob, wie und wo sie Anerkennung durch jene findet, die ohne demokratische Legitimation die Geschicke der Welt zu ihrem vordergründigen und kurzfristigen Nutzen lenken.

Sicherlich konnte sich die Friedensforschung in ihren Anfängen der feindlichen Aufmerksamkeit konservativer Kreise ebenso erfreuen wie der Gegnerschaft der Rüstungsunternehmen. Ihre materiellen Nöte erklären, weshalb hier eine inhaltliche Neuausrichtung besonders schnell und gut gelang. Dennoch steht diese »Wende« paradigmatisch für die unter neoliberalem Vorzeichen erfolgende Transformation der Sozialwissenschaften insgesamt: Drittmittel gelten als Ausweis von Wissenschaftlichkeit, sind entscheidende Kriterien in Berufungsverfahren. Dass solche Forschung ihre Unabhängigkeit an den Garderoben der Auftraggeber abgibt, spielt dann oft keine Rolle mehr, sondern wird geradezu zum Brandbeschleuniger. Wissenschaftliche Auseinandersetzung verlagert sich von inhaltlicher, methodischer, auf Erkenntnisgewinn abzielender diskursiver Debatte zur Konkurrenz um Mittel, Anerkennung, Anteile am Markt. […]

Klaus-Jürgen Bruder, Christoph Bialluch, Jürgen Günther (Hrsg.): „Krieg nach innen, Krieg nach außen – und die Intellektuellen als ‚Stützen der Gesellschaft‘?“, 350 Seiten, Westend Verlag, 2.12.2019

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