Auch nach dem Verlust der Wahlen in Hamburg wird auf SPD-Seite falsch analysiert und falsch therapiert

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Das Ergebnis ist bitter für die Hamburger Sozialdemokratie. Bitter und bedrückend für unser Land ist aber auch die Erfahrung vom Wahlabend. Die SPD und auch die Grünen bleiben bei der Fortsetzung ihrer so genannten Reformpolitik. Das ist nicht mehr zu begreifen, denn die SPD und die Grünen setzen damit eine Linie fort, die ihnen in Analyse und Therapie von den konservativen Parteien und ihren Hinterleuten vorgesagt worden ist.
Die SPD kommt bei ihren Analysen und Hoffnungen immer wieder auf das gleiche Bild zurück: die SPD habe darunter zu leiden, dass sie die seit der Kanzlerschaft Kohls liegen gebliebenen Reformen aufarbeiten müsse, diese Reformen seien noch nicht ausreichend vermittelt, das werde aber in der nächsten Zeit gelingen und dann werde alles wieder gut. Das ist eine total trügerische Hoffnung. Siehe dazu auch den Tagebucheintrag vom 10.2.2004. Den dortigen Anmerkungen zur Strategie ist fast nichts hinzuzufügen. Aktuell ist auch noch ein Beitrag mit dem Titel “Sozialdemokraten haben sich als gestaltende Kraft verabschiedet”, der schon am 27. Mai 2002 in der Frankfurter Rundschau abgedruckt war.

Dass die CDU so überragend siegt, ist nicht einfach zu erklären. Bei ihr ist alles vergessen: die Spendenaffäre, die Tatsache, dass sie in den Neunziger Jahren das Land wirtschaftlich heruntergefahren hat, die Tatsache, dass sie die sozialen Sicherungssysteme absolut unfair mit den Kosten der deutschen Einheit belastete, dass sie mit dem Abbau sozialer Leistungen schon in den letzten zwei Jahrzehnten begonnen hat – dies alles ist offenbar vergessen.

Den Hintergründen des erstaunlich guten Images der CDU und der CSU gehen die Sozialdemokraten bei ihren Analysen nicht nach. Sie müssten sich aber Gedanken darüber machen, welchen Einfluss der Schwenk der großen Mehrheit der Medien hin zum Mainstream der konservativen und wirtschaftsliberalen Denkrichtung für die Wahlchancen der Union als der originären Vertreterin dieser politischen Richtung auf der einen Seite und für die Wahlchancen der SPD als kopierender Kraft hat. Eine Partei, die die gesellschaftspolitische Philosophie ihres politischen Gegners übernimmt, fällt als meinungsführende Kraft aus und verliert auf Dauer auch die Chance, ein bestimmender Machtfaktor zu sein.
br>Weil die SPD-Führung dieser Wirklichkeit nicht in die Augen blickt, nimmt sie wohl auch nicht wahr, mit welcher massiven Medien-Barriere und -Feindseligkeit sie es zu tun hat und zu tun bekommt, wenn sie nicht hundertprozentig gefügig hinter dem Mainstream der Reformpolitik hertrottet. (Ein Blick in die heutige Ausgabe von Spiegel Online zu den Hamburg-Wahlen genügt, um dies zu begreifen).

Die Vorstellung, die SPD arbeite den Reformenstau auf und sie werde die kommenden Wahlen besser bestehen, wenn die Reformen richtig vermittelt sind, gründet auf einer Kette von Fehldiagnosen und falschen Therapie-Vorstellungen. Ich will es an einem einzigen Beispiel und in Stichworten klar machen: die SPD und die Grünen haben sich beide einreden lassen, wir hätten ein demografisches Problem und müssten deshalb das Umlageverfahren durch das Kapitaldeckungsverfahren ergänzen. Mit der so genannten Riester-Rente sollte diese Jahrhundertreform geschafft werden.

An dieser Diagnose und Therapie, die der SPD und den Grünen übrigens von den Konservativen und der Lobby eingeredet wurden, stimmt fast nichts:

  1. Das demografische Problem ist nicht neu, es ist nicht dramatisch und wäre mit dem bisherigen System mindestens genauso lösbar wie mit dem Kapitaldeckungsverfahren. Das folgt schon daraus, dass die Umstellung nachweisbar nichts an der Relation von arbeitender Generation zu Rentnern und Kindern ändert. Wer das dennoch glaubt, geht den Lebensversicherern und den von ihnen bezahlten Professoren auf den Leim. Wichtige Daten zu der demografischen Entwicklung finden sich in den Beiträgen von Gerd Bosbach und Richard Hauser. In diesen Beiträge und auch in früheren Beiträgen von mir wird belegt, dass die Belastungsquoten der arbeitenden Bevölkerung höchstwahrscheinlich bei weitem nicht so steigen wie von den Systemveränderern behauptet wird. Die amtierenden Politiker wie die Wissenschaftler arbeiten mit falschen Zahlen. Obwohl diese Tatsache bekannt ist, plappern sie diese falschen Zahlen immer wieder nach. Siehe auch am Wahlabend in der Sendung Sabine Christiansen die Grüne Ministerin Bärbel Höhn aus Nordrhein-Westfalen und der ehemalige erste Bürgermeister von Hamburg, Henning Voscherau (SPD). Offenbar sind die meisten Verantwortlichen realitätsresistent. Und die Mediengesellschaft verlangt offenbar die Dramatisierung und Übertreibung, um sich interessant zu machen.

    Vielleicht folgt die Weigerung, die demografische Entwicklung realistisch wahrzunehmen, auch daraus, dass alle wichtigen Partner im Geschehen – nahezu alle Politiker, die meisten Wissenschaftler, viele Publizisten – das Gleiche sagen. Die Sehnsucht nach Heimat und Geborgenheit führt offenbar dazu, dass man Falsches wiederholt und wiederholt und wiederholt und wiederholt. Einen Unterschied von rechts und links, auch innerhalb der SPD, auch innerhalb der Grünen wie man am Beispiel Bärbel Höhn sieht, gibt es dabei nicht. In der SPD z. B. sagen Wolfgang Clement und Michael Müller, Gerhard Schröder und Wolfgang Thierse in dieser Frage immer dasselbe. Ich habe das bei anderer Gelegenheit schon einmal einen “kollektiven Wahn” genannt. Aber selbst diese deutliche Sprache führt nicht dazu, dass man sich die Fakten anschaut. Realitätsresistenz ist die Haupttriebfeder der Reformpolitik.

    Dass die Führungen von SPD und Grünen den falschen Parolen gefolgt sind, obwohl eine Reihe von ihnen nahe stehenden Experten davor gewarnt haben – Herbert Ehrenberg, Hans-Jürgen Krupp, Richard Hauser (und ich selbst) – bleibt ein Rätsel. Die Führungen von Rot und Grün haben den Wichtigtuern aus den Reihen der Demografen, die es in diesem Bereich schon in den siebziger Jahren gegeben hat, und der massiven Agitation der Interessenvertreter mehr geglaubt. Erstaunlich und enttäuschend zugleich.

  2. Die Riester-Rente sollte für dreißig Jahre Ruhe an der Front bringen. Schon nach gut zwei Jahren muss nachgebessert werden und heute denkt man schon wieder völlig neu nach. Das ist kein handwerklicher Fehler. Hier stimmt das Prinzip nicht. Die private Vorsorge bringt keinen Vorteil, im Gegenteil, sie belastet die Arbeitnehmer mehr und kostet im übrigen unsinnig viel Geld.

    Wie will man das besser vermitteln? Mit einer Diagnose, die übertreibt, die falsch ist und obendrein einen Generationenkonflikt herauf beschwört, der sachlich gar nicht nötig ist, kann man keine Sympathie gewinnen – und sie also auch nicht “vermitteln”. Und wenn es ihn, den Generationenkonflikt, gäbe, dann würde die angebotene Therapie Riester Rente und auch eine irgendwie geartete Fortsetzung der privaten Vorsorge nicht helfen und obendrein den Fiskus sehr viel Geld an Subventionen kosten. Mit solchen Therapien ist das Wählerpotenzial der Sozialdemokraten jedenfalls nicht zu erreichen.

    Eine ähnliche Analyse könnte man zum Komplex Hartz-Reformen und zu der unendlichen Kette von Steuersenkungen machen. Alle diese Reformen haben bisher nichts für eine Belebung unserer Wirtschaft getan. Sie können das auch nicht, weil es – anders als Bundesregierung und die rot-grüne Koalition meinen – die Wirkungszusammenhänge zwischen diesen Reformen und der wirtschaftlichen Belebung nicht gibt. Bei so viel Fehleinschätzungen kann die Union feixend daneben stehen und sich daran erfreuen, wie ihr Haupt-Konkurrent – die SPD – an der Mahlzeit erstickt, die ihr von den Freunden der Union empfohlen und gereicht worden ist. Mahlzeit!