Was man von Balzac über Journalismus lernen kann

Was man von Balzac über Journalismus lernen kann

Was man von Balzac über Journalismus lernen kann

Udo Brandes
Ein Artikel von Udo Brandes

Wer sich für eine Geschichte über einen sozialen Aufsteiger und die inneren Mechanismen des Journalismus interessiert, dem empfiehlt unser Autor Udo Brandes den Roman „Verlorene Illusionen“ von Honoré de Balzac oder die in Kürze im Kino startende Verfilmung des Romans. Die Handlung spielt zwar vor etwas über 200 Jahren. Aber man kann aus diesem Roman durchaus etwas über die moderne Gesellschaft und den Journalismus lernen. Denn Balzac war ein genialer wie unbestechlicher Analytiker der Gesellschaft und der menschlichen Seele.

Wer war Honoré de Balzac?

Honoré de Balzac wurde am 20. Mai 1799 in Tours geboren und starb relativ jung im Alter von 51 Jahren. In diesen 51 Jahren Lebenszeit schuf er ein riesiges Werk von 91 Romanen und Erzählungen. Sein Lebensziel war es, die „Menschliche Komödie“ zu beschreiben. Anders ausgedrückt: Er wollte ein Sittengemälde der französischen Gesellschaft seiner Zeit erschaffen. Und das ist ihm mit Sicherheit auch gelungen. Balzac gilt nach wie vor als ein Schriftsteller, der Weltliteratur geschaffen hat. Sein früher Tod ist wahrscheinlich durch seinen Lebensstil bedingt. Er betrieb Raubbau an Körper und Seele. Obwohl einer der Bestverdiener seiner Branche, war er stets in Geldnot und hatte hohe Schulden, da er extrem verschwenderisch lebte und den Luxus liebte. So musste er sich bisweilen vor seinen Gläubigern verstecken. Er begann seine Arbeit nachts um ein Uhr, eingewickelt in eine Decke. Um wach zu bleiben, konsumierte er täglich bis zu 50 Tassen Kaffee. Und wenn ihm mal einfach nichts einfallen wollte, dann soll er auch schon mal zum Opium gegriffen haben, um Einfälle zu bekommen. Neben seiner Schriftstellerei arbeitete Balzac auch als Journalist unter verschiedenen Pseudonymen und hatte keine Skrupel, seine eigenen Romane unter anderem Namen zu rezensieren.

Warum Zeitungen plötzlich Schriftsteller brauchten – die Erfindung des Feuilletons

Ungefähr nach dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts begann sich der Literaturmarkt zu verändern. Wurden Romane bis dato in speziellen Zeitschriften und auch in Form von Büchern gedruckt, bekam die Literatur um diese Zeit auch einen Absatzmarkt in der Tageszeitung. Dies hing mit einer Innovation zusammen, die von der Tageszeitung „La Presse“ angestoßen wurde. Deren Herausgeber Giradin senkte den Abonnementpreis um 50 Prozent und erfand gleichzeitig das kostenpflichtige Werbeinserat, was zukünftig dann zur Haupteinnahmequelle für Zeitungen und Zeitschriften wurde. Die Tageszeitungen konnten durch den verbilligten Abonnementpreis ihre Auflage enorm steigern. Der schon verstorbene Schriftsteller Wolfgang Pohrt schreibt dazu in seinem Band „Honoré de Balzac. Der Geheimagent der Unzufriedenheit“ Folgendes:

Weil der Erlös aus dem Anzeigengeschäft aber unmittelbar von der Auflagenhöhe abhing, brauchte die Tageszeitung eine von den Zufällen der Nachrichtenbörse unabhängige Publikumsattraktion, welche für hohen und regelmäßigen Absatz dergestalt sorgte, dass sie die Leser dauerhaft an ein bestimmtes Blatt zu binden verstand. Diese Publikumsattraktion, welche die Verkaufsauflage einer Tageszeitung unabhängig von den sensationellen oder langweiligen Nachrichten des Tages und damit kalkulierbar machte, war der Feuilletonroman. Auch wenn sich auf der Welt absolut nichts Berichtenswertes ereignen wollte, war man gezwungen, die Tageszeitung zu kaufen, um nicht die tägliche Fortsetzung zu verpassen.“ (Pohrt, S. 14)

Ein schillernder Charakter und Schrecken der Schriftsetzer

Balzac war ein schillernder Charakter, der selbst in seinen Romanen hätte auftreten können. Als Journalist war er völlig prinzipienlos und schrieb für jeden, der gut zahlte. Wolfgang Pohrt beschreibt dies in seinem Band über Balzac so:

Mit seinem Ehrenkodex vereinbar war, gleichzeitig die Regierung und die Opposition mit gefälligen Artikeln zu beliefern oder, wurde der Druck der Gläubiger zu groß, sich von abenteuerlichen Spekulationsgeschäften, etwa von einer Annanaskultur nahe Paris oder der Ausbeutung sardischer Silberminen ein großes Vermögen zu erhoffen“ (Pohrt S. 27).

Aber wenn es um seine Romanmanuskripte ging, war dies anders. Und hier wird ein interessanter Widerspruch in Balzacs Charakter deutlich: Balzac war einerseits ein ehrgeiziger Aufsteiger, der sich nach Geld, Ruhm und Ansehen sehnte und verzehrte. Er war also alles andere als ein Feind des Establishments seiner Zeit. Ganz im Gegenteil: Er tat alles, um dort dazuzugehören. Dies aber hielt ihn nicht davon ab, die Gesellschaft seiner Zeit mit all ihren hässlichen Seiten gnadenlos präzise zu porträtieren durch die Charaktere und Handlungen seiner Romane. Obwohl für ihn die Schriftstellerei ein Geschäft war, mit dem er unbedingt viel Geld verdienen wollte, und obwohl er als Journalist völlig prinzipienlos war, war er doch unbestechlich, wenn es um die Qualität seiner literarischen Texte ging:

Wie später Proust, so musste Balzac damals, als es noch keine Schreibmaschinen gab, der Schrecken aller Schriftsetzer gewesen sein. Den ersten Fahnenabzug behandelte er als Rohmanuskript, und die Änderungen und Ergänzungen, die er darauf anbrachte, waren oft umfangreicher als der gedruckte Text. Mindestens vier und bis zu sieben Fahnenabzüge waren nötig, ehe Balzac seine Manuskripte für den Druck freigab.“ (Wolfgang Pohrt S. 25-26)

Verlorene Illusionen“ – Balzacs Roman über einen sozialen Aufsteiger und die Journalistenbranche

Dieser Roman spielt zu Beginn in der Provinz, in der Ortschaft Angouleme im Jahr 1821. Die zentrale Figur ist der auffallend attraktive junge Mann Lucien Chardon. Er ist der Sohn eines kleinbürgerlichen Apothekers und einer Hebamme, die dem altehrwürdigen Geschlecht der de Rubempré entstammt. Sie hat den Apotheker geheiratet, weil er sie durch eine Falschaussage vor dem Schafott gerettet hat. Als der Apotheker stirbt, verarmt die Familie. Lucien geht schließlich nach Paris, um sein schriftstellerisches Talent für eine Karriere zu nutzen. Aber daraus wird erstmal nichts. Durch Kontakte gelingt ihm aber der Einstieg in den Journalismus; er wird Redakteur bei einer liberalen Zeitung. Er hat ein großes Talent und ist schnell sehr erfolgreich mit seinen Artikeln. Und er hat einen Lehrmeister namens Etienne Lousteau, der mit allen Wassern gewaschen ist. Ich kann an dieser Stelle die komplexe Geschichte des Romans nicht vollständig zusammenfassen. Wichtig ist hier nur so viel: Lucien wechselt schließlich journalistisch die Seiten, von seinem liberalen Blatt zu einem royalistischen Blatt, und geht dabei einer Intrige auf den Leim. Er scheitert total und muss Paris verlassen.

Aber wir treiben doch mit unseren Phrasen Handel und leben von diesem Geschäft.“

Das Interessante an diesem Roman aus heutiger Sicht ist, dass Balzac hier den journalistischen Betrieb seiner Zeit mit dem Wissen eines Insiders schildert. Und man darf getrost davon ausgehen: Der Journalismus funktioniert heute auch nicht wesentlich anders. So wie Balzac den Journalismus schildert, geht es darin nie um die Wahrheit, sondern in allererster Linie um das Geldverdienen, um Macht und das Protegieren oder Bekämpfen bestimmter Interessen. Ich schrieb weiter oben: Balzac hatte als Journalist keinerlei Skrupel, wenn es um das Geldverdienen oder Protegieren seiner eigenen Werke ging. Aber als Schriftsteller, der die „Menschliche Komödie“ beschreiben wollte, war er unbestechlich. Er beschrieb die Korruptheit seiner Branche gnadenlos realitätsgetreu. Wolfgang Pohrt hat dies in seinem schon genannten Werk über Balzac wunderbar beschrieben. Lucien, der inzwischen wieder den Geburtsnamen seiner Mutter (de Rubempré) angenommen hat, um seine adelige Herkunft herauszustellen,

soll ein Buch verreißen, welches ihm besonders gut gefällt und außerdem unter allen Journalisten für hervorragend gilt. Ratlos wendet er sich an seinen Kollegen Lousteau, und Lousteau entwickelt aus dem Stegreif die für den Verriss notwendigen Argumente. Mühelos, nebenbei, gleichsam mit wegwerfender Handbewegung erfindet der ausgekochte Journalist zusammen mit den Begriffen Ideen-Literatur und Imaginationsliteratur ein stimmiges kategoriales System, um welches ihn jeder Universitätsprofessor beneiden würde, und welches für Lousteau selbst doch nicht mehr bedeutet als eine nützliche Waffe im journalistischen Dschungelkrieg, die vielleicht schon morgen stumpf sein wird, und auf die er dann lachend verzichtet. Am Ende von Lousteuas kleinem Vortrag ist de Rubempré, der sich nur ein paar taktische Ratschläge holen wollte, restlost überzeugt.“ (Pohrt, S. 88)

Balzac beschreibt dann Lucien de Rubemprés Reaktion:

Verblüfft hörte Lucien Loussteau zu; bei den Worten des Journalisten fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, und er entdeckte Erkenntnisse über die Literatur, von denen er sich nie hatte träumen lassen. ‚Aber was du sagst‘, rief er ,ist überaus vernünftig und zutreffend’.“ (Honoré de Balzac; Verlorene Illusionen, S. 445)

Aber die Pointe kommt erst jetzt. Später ändert sich die Geschäftspolitik des Verlegers. Jetzt soll Lucien de Rubempré dasselbe Buch, das er verrissen hat, überschwenglich loben. Er gesteht den Kollegen seine Ratlosigkeit. Sie werden ihm helfen, aber vorher machen sie sich über ihn lustig. Der Journalist Vernou sagt spöttisch zu Lucien: (Ich zitiere jetzt die Übersetzung, die Wolfgang Pohrt verwendet hat, weil sie sprachlich eingängiger ist):

Du denkst also, wie du geschrieben hast? Aber wir treiben doch mit unseren Phrasen Handel und leben von diesem Geschäft.“ (Pohrt, S. 89)

Pohrts Kommentar dazu:

So würde heute kein verantwortungsbewusster Redakteur mehr scherzen mögen, aus dem einfachen Grund, dass der Scherz die volle, reine, ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit wäre.“ (Pohrt, S. 89)

Das muss man dann wohl Dialektik nennen. Denn der Essay von Wolfgang Pohrt, dem dieses Zitat entnommen ist, wurde 1981 im SFB (Sender Freies Berlin) unter dem Titel „Halbwelt und Journalismus“ gesendet. Offensichtlich war die Branche in der damaligen Zeit, was Pluralismus und Meinungsfreiheit angeht, tatsächlich noch weltoffen, was heute im pseudolinksliberalen Medienmilieu gerne als Haltung in Anspruch genommen wird, aber tatsächlich nicht praktiziert wird. Wer andere Meinungen als das „linksliberale“ Medienmilieu vertritt, vertritt heutzutage keine andere Meinung mehr, sondern ist moralisch minderwertig. Man spricht dann allerdings nicht von „bösen“ Menschen, sondern von Verschwörungstheoretikern, Schwurblern, Rassisten, Nazis usw. Gemeint ist aber „böse“ oder „moralisch inakzeptabel“.

Journalismus findet nicht im luftleeren Raum statt

Was mir sowohl bei Balzac wie bei Pohrt so gut gefällt, ist, dass sie beide die Gesellschaft und die journalistische Branche sehen und darstellen, wie sie ist. Wie der Titel schon sagt: „Verlorene Illusionen“. Journalismus ist ein Geschäft. Bei den großen Konzernmedien geht es nicht um Wahrheit und objektive Erkenntnis, sondern zum einen darum, Storys zu verkaufen (Was letztlich auch für die öffentlich-rechtlichen Konzernmedien gilt. Nicht ohne Grund orientieren diese ihr Programm an Quotenerfolgen).

Und zum anderen findet Journalismus nicht im luftleeren Raum statt. Jedes Medium steht für bestimmte Interessen und Weltanschauungen. Das an sich ist gar nicht das Problem. Auch die NachDenkSeiten betrachten die Welt aus einer bestimmten Perspektive. Würde ich auf die Idee kommen, den NachDenkSeiten eine Laudatio auf Friedrich Merz anzubieten, würde mich die Redaktion wahrscheinlich fragen, was ich denn zum Frühstück für ein fürchterliches Kraut geraucht habe. Mit anderen Worten: Dass Journalisten die Welt aus einer bestimmten Perspektive beschreiben, ist für eine Demokratie noch kein Problem. Sondern die fehlende Transparenz. Wenn Medien also behaupten, neutral und objektiv zu sein, was sie natürlich nicht sind. Oder haben Sie mal einen Zeitungsbericht gelesen, in dem die jahrelange Ausbeutung der Zusteller beklagt wurde? Oder dass große Medienkonzerne höhere Unternehmenssteuern fordern? Wohl kaum. Weil damit die wirtschaftlichen Interessen der Eigentümer berührt wären. Deshalb sind Journalisten bei großen Konzernmedien auch nicht so frei, wie sie vorgeben oder auch selber glauben, weil sie sich Illusionen machen.

Noch schlimmer wird das Ganze dadurch, dass es innerhalb der Konzernmedienlandschaft nur noch einen kleinen Meinungskorridor gibt, der penibel überwacht wird, wie früher die deutsch-deutsche Grenze. Wer sich die Freiheit „anmaßt“, eine andere Meinung zu haben, wird schnell diffamiert und ausgegrenzt. Wie zum Beispiel die Bürger, die gegen die Corona-Politik der Regierung demonstrierten. Als chinesische Bürger das Gleiche taten, wurden diese allerdings von den großen Konzernmedien nicht als „Querdenker“ oder „Schwurbler“ diffamiert, sondern als demokratische Freiheitshelden gefeiert. Mit anderen Worten: Viele Journalisten sind ausgesprochen flexibel bei ihren Maßstäben, mit denen sie ein Ereignis oder einen Sachverhalt beurteilen. Ein und dasselbe ist einmal gut, und einmal böse. Je nach Opportunität. Was sagte der Journalist Vernou in Balzacs Roman doch gleich zu Lucien de Rubempré?

Du denkst also, wie du geschrieben hast? Aber wir treiben doch mit unseren Phrasen Handel und leben von diesem Geschäft.“

Wer die anspruchsvolle, schöne Literatur liebt und politisch interessiert ist, dem empfehle ich die Lektüre von Balzacs Roman Verlorene Illusionen. Allerdings muss ich auf eines hinweisen: Der Roman ist mit Anmerkungen 960 Seiten lang und keine ganz einfache Lektüre. Man braucht schon eine gewisse Energie als Leser. Aber es gibt eine schöne Alternative: Am 22. Dezember startete eine neue Verfilmung des Romans unter demselben Titel („Verlorene Illusionen“). Hier der Link zum Trailer auf youtube.

Honoré de Balzac: Verlorene Illusionen, dtv-Taschenbuch 2017, 960 Seiten, 18,90 Euro.

Wolfgang Pohrt: Honoré de Balzac. Der Geheimagent der Unzufriedenheit, Edition Tiamat 2018, 18,00 Euro.

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