Sexualisierte Gewalt, Reichelt, die BILD, ein Buch, ein Podcast und die Frage der individuellen Verantwortung

Sexualisierte Gewalt, Reichelt, die BILD, ein Buch, ein Podcast und die Frage der individuellen Verantwortung

Sexualisierte Gewalt, Reichelt, die BILD, ein Buch, ein Podcast und die Frage der individuellen Verantwortung

Jens Berger
Ein Artikel von: Jens Berger

Ein Buch und ein Podcast zur „Reichelt-Affäre“ erobern derzeit die Charts. Während Benjamin von Stuckrad-Barre in seinem wohl nur aus juristischen Gründen „fiktionalen“ Roman „Noch wach?“ ein sprachlich exzellentes, aber auch ziemlich elitäres Sittengemälde des Springer-Verlags und seiner Protagonisten liefert, scheitert die von Jan Böhmermann für Spotify coproduzierte achtteilige Podcast-Reihe „Boys Club“ auf ganzer Linie, stellt sie die weiblichen Opfer des „Systems BILD“ doch einseitig als „Opfer“ dar, ohne ernsthaft die Frage nach ihrer Mittäterschaft für die publizistischen Verbrechen des Hetzblatts zu stellen. Das ist frauenfeindlich, findet Jens Berger, der das Buch und den Podcast für die NachDenkSeiten konsumiert hat.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Sexualisierter Machtmissbrauch ist ein ernstes Thema, und es ist wichtig und richtig, dass man heute offen darüber redet. Sich publizistisch mit diesem Thema auseinanderzusetzen ist jedoch ein Minenfeld, wurde die Debatte doch von den Rändern der gesellschaftspolitischen Debatte emotional aufgeladen. Daher ist es wohl sinnvoll, zunächst einmal abzugrenzen, worum es eigentlich geht oder besser, worum es nicht geht. Es geht nicht um Straftaten wie beispielsweise Vergewaltigung oder Nötigung, und es geht auch nicht um den Flirt am Arbeitsplatz unter gleichrangigen Kollegen. Es geht vielmehr darum, dass – meist männliche – Vorgesetzte ihre Machtposition missbrauchen, um sich Vorteile sexueller Art bei – meist weiblichen – Untergebenen zu erschleichen und sie so physisch oder psychisch zu missbrauchen. Und es geht um betriebliche sowie gesellschaftliche Strukturen, die dies zulassen, verniedlichen und bagatellisieren.

Manchmal fragt man sich als „Normaldenkender“, warum dieses Thema eigentlich derart polarisiert. Dass es nicht ok ist, wenn der Chef mit der Praktikantin ins Bett geht, ihr einen Job und berufliche Vorteile verschafft und sie dann unter Druck setzt, sollte eigentlich selbstverständlich sein. Leider gilt dies jedoch – wie so viele eigentlich selbstverständliche Dinge – offenbar nicht für die BILD-Zeitung, und hier wird die Sache kompliziert, da die BILD ja nicht nur selbst ein Schauplatz sexualisierter Gewalt ist, sondern publizistisch die Saat sät, aus der auch sexualisierte Gewalt erwächst. Man kann den sexualisierten Machtmissbrauch im Hause BILD daher auch nicht kritisieren und gleichzeitig die Augen vor dem Sexismus des „Systems BILD“ verschließen. Die BILD ist schließlich gerade in diesem Kontext kein wertfreier Raum.

BILD hetzt – gegen alles, was nicht ins erzkonservative, stets nationalchauvinistisch geprägte Raster der BILD passt. BILD hetzt gegen Migranten, gegen den Islam, gegen Linke, gegen die 68er und ihre Erben, gegen liberale Werte und gegen Arbeitslose sowie Hartz-IV-Empfänger. BILD ist sozialdarwinistisch bis ins Mark und steht dabei weit außerhalb des ansonsten gesellschaftlich tolerierten politischen Spektrums. Die BILD sät Zorn und lenkt ihn dann auf die sozial an den Rand Gedrängten, auf Minderheiten und auf Ausländer. BILD trommelt für Kriege und tut alles dafür, dass Deutschland kein Volk der guten Nachbarn ist. Und last but not least ist BILD auch das sexistischste Blatt im Lande, das Frauen tagtäglich auf ihr Äußeres reduziert und alte Rollenbilder pflegt.

Wer das „System BILD“ auf den sexualisierten Machtmissbrauch reduziert, egal wie schlimm er ist, verharmlost diese Hassmaschine. Man kann sogar noch weiter gehen: Wer die Opfer des sexualisierten Machtmissbrauchs im Hause BILD als reine Opfer darstellt, verharmlost ihre Mitwirkung im „System BILD“. Auch das ist eine Art der Täter-Opfer-Umkehr.

Boys Club – ein Podcast, der sich verhebt

An genau diesem Punkt scheitert die Podcast-Reihe „Boys Club“ kläglich. Der Podcast soll nach eigener Beschreibung das „System BILD“ dekonstruieren. Genau das tut er jedoch nicht. Die Kritik an der Berichterstattung der BILD spielt hier eine Nebenrolle. Stattdessen erzählt man die Geschichte des sexualisierten Machtmissbrauchs hoch emotional aus der Opferperspektive. Ginge es nicht um die BILD, sondern um ein x-beliebiges Unternehmen, wäre dieses Format sicher weniger problematisch. So bleibt jedoch ein schaler Beigeschmack. Am Ende der Podcast-Reihe könnte man fast denken, dass die BILD weniger schlimm wäre, wenn sie doch nur ihre internen Strukturen reformieren würde.

Das ist zumindest für mich als Außenstehenden jedoch deutlich zu kurz gesprungen. Offenbar geht meine Empathie nicht so weit, dass ich das – zweifelsohne subjektiv grauenhaft empfundene – Schicksal einiger BILD-Mitarbeiterinnen höher werte als den Schaden, den die BILD anrichtet. Die Hetze der BILD wäre nicht weniger schlimm, wenn im Hause BILD paradiesische Zustände herrschen würden, und das „System BILD“ ist mehr als die internen Betriebsstrukturen. Auch wenn es herzlos klingt – mir ist es ziemlich egal, was im Springer-Hochhaus intern vor sich geht, solange sich an der publizistischen und politischen Ausrichtung der BILD nichts ändert. Doch auch hier muss man natürlich differenzieren. Schließlich wird es durchaus – auch wenn dies nicht sonderlich sympathisch ist – Frauen geben, die voll und ganz hinter der politischen Ausrichtung der BILD stehen, und auch diese Frauen haben selbstverständlich ein Recht darauf, am Arbeitsplatz vor Übergriffigkeiten geschützt zu werden. Doch weder im Podcast noch im Roman tauchen solche Frauen auf. Warum? „Verkauft“ sich mit ihnen die Opfergeschichte nicht so gut?

Man kann mit der Kritik sogar noch weiter gehen. Der von Jan Böhmermann coproduzierte Podcast ist im weiteren Sinne sogar selbst frauenfeindlich. Warum? Weil er den Mitarbeiterinnen, deren Schicksale aus der Opfer-Perspektive geschildert werden, nicht die Frage der individuellen Verantwortung stellt. Man kritisiert auf abstrakter Ebene das „System BILD“, versäumt es jedoch, die einzelnen Bestandteile dieses Systems konkret zu benennen. Man baut ein Gut-Böse-Schema auf. Böse sind – das ist klar – die Männer an der Spitze dieses Systems. Der ehemalige Chefredakteur Julian Reichelt, sein „Boys Club“ in der Chefredaktion, der ihn deckt und gewähren lässt, und natürlich der Konzernchef Matthias Döpfner, der getreu dem Motto der drei Affen nichts sehen, hören und sagen will. So weit, so richtig.

Doch was ist mit den vielen kleinen und mittleren Mittätern? Ist der Hetzartikel der jungen BILD-Mitarbeiterin weniger schlimm, weil der Fisch vom Kopf her besonders widerlich stinkt? Muss man – auch angehenden – Journalisten nicht unterstellen, dass sie die Blattlinie ihres Arbeitgebers zumindest kennen und keine allzu großen Widersprüche zum eigenen Wertekanon zulassen? Wenn man diesen Mindestanspruch stellt, muss man jedoch den BILD-Mitarbeiterinnen auch unterstellen, dass sie sich aus freiem Willen dazu entschlossen haben, für ein reaktionäres, chauvinistisches Hetzblatt zu schreiben. Und was im konkreten Kontext besonders wichtig ist: Man muss ihnen auch unterstellen, für genau das Blatt zu schreiben, das durch seine sexistische Blattlinie genau das gesellschaftliche Klima schafft, in dem in Hunderten oder Tausenden anderen Unternehmen sexueller Machtmissbrauch gedeiht, kleingeredet, bagatellisiert und gedeckelt wird.

Wenn man diese Frauen einseitig als Opfer darstellt, nimmt man sie aus der individuellen Verantwortung. Da war man in einem anderen Kontext doch eigentlich schon weiter. Offenbar sind aus dieser Perspektive die kleinen und mittleren Räder im „System BILD“ dann auch nur Geblendete und Mitläufer, und man kann die ganze Verantwortung auf den Mann an der Spitze dieses Systems auslagern. Das ist bequem, aber nicht wirklich reflektiert.

Wen man für das Medium schreibt, das selbst ein reaktionär-frauenfeindliches Bild transportiert, ist es wenig glaubhaft, sich selbst als Opfer genau jener Frauenfeindlichkeit darzustellen, die man selbst tagein tagaus befördert. Dass die BILD mit all ihren „Titten-Storys“ und all ihrer offen zelebrierten Frauenfeindlichkeit eben jenen Chauvinismus befördert, den der Podcast vollkommen zu Recht kritisiert, kommt übrigens an keiner Stelle der langen acht Folgen vor. Die dargestellten Opfer des sexualisierten Machtmissbrauchs werden dabei im Grunde als naive Dummchen dargestellt, und auch die Autorinnen glänzen vor allem durch ihre Naivität. Der Podcast stellt in Summe – auch sprachlich – eine Springer-Kritik aus woker Perspektive dar, die sich stets nur um sich selbst dreht und jeglichen gesellschaftskritischen Anspruch vermissen lässt.

Noch wach? – Ein gutes Buch vom falschen Autor

Wie es besser geht, zeigt der Popliterat Benjamin von Stuckrad-Barre. Auch wenn es seinem Roman „Noch wach?“ primär um die Entfremdung von seinem Freund Matthias Döpfner – im Roman nur „mein Freund“ genannt – geht, schafft es der Autor hier auf vortreffliche Weise, den Opfern der sexualisierten Gewalt nicht nur ein Gesicht zu geben, sondern sie auch in Gestalt der fiktiven Figur „Sophia“ als selbstbewusste, intelligente Frauen darzustellen. Die Mitarbeiterinnen im Roman kennen die Spielregeln des Boulevards und haben sich auf ein vielleicht zynisch zu nennendes Spiel eingelassen. Eine „leicht dümmliche Ich-hab-mich-instrumentalisieren-lassen-Trulla“, wie sie es ironisch formuliert, will Sophia nicht sein. Das ist erfrischend, werden ihre realen Pendants im „Boys-Club“-Podcast doch genau so dargestellt.

Die BILD-Mitarbeiterinnen im Roman sind im eigentlichen Sinne Schauspielerinnen, die zwischen ihrer Bühnenrolle und ihrem privaten Ich nahtlos umschalten können. Vor der Kamera – Stuckrad-Barres „BILD“ ist ein privater Krawall-Fernsehsender – geben sie optisch das Abziehbild einer sexistischen Medienwelt und transportieren dabei inhaltlich die reaktionären Werte des fiktiven, aber klar an Springer orientierten „Konzerns“. Abseits der Kamera schlüpfen sie dann wieder in ihr normales Leben und zerbrechen am Ende nicht nur an der sexualisierten Gewalt ihres Chefredakteurs, sondern auch an diesem Widerspruch.

Das ist alles dank der virtuosen Sprache des Autors glaubhaft und vielschichtig erzählt. Toughe Frauen, die ihren faustischen Pakt mit einem Hetzmedium geschlossen haben, werden von den Geistern, die sie täglich selbst rufen, verfolgt und zerbrechen letzten Endes daran. Die Opfer in „Noch wach?“ sind weder moralisch noch unmoralisch – sie sind amoralisch, typische Kinder ihrer Zeit, die sich auf ein Spiel eingelassen haben, gegen dessen Regeln sie erfolglos kämpfen.

„Noch wach?“ ist ein Buch des Scheiterns, dessen Figuren ihren Burgfrieden mit dem „System BILD“ gemacht haben und im höchsten Maße ambivalent sind. Der Freund (Döpfner), der sich gerne als liberaler kosmopolitischer Schöngeist gibt, aber seinen „Krawallsender“ mit allen Mitteln vor jeglicher Kritik verteidigt. Der Ich-Erzähler (Stuckrad-Barre), der selbst finanziell sehr gut von diesem System genährt wird, sich mit ihm aber nicht gemeinmachen will. Die Mitarbeiterinnen, die unter dem sexualisierten Machtmissbrauch ihres Chefs leiden, aber in ihrer beruflichen Rolle ebenjenes reaktionäre und chauvinistische gesellschaftliche Klima schaffen, das für den Eisberg verantwortlich ist, dessen Spitze das Arbeitsklima im eigenen Haus ist. Nur der Chefredakteur (Reichelt), über den im ganzen Roman nur in der dritten Person gesprochen wird, sprengt als lupenreiner reaktionärer Krawallbruder die Ambivalenz.

„Noch wach?“ wäre auch ein sehr gutes Buch, wenn der Ich-Erzähler nicht derart weltentrückt wäre – ein wahrlich postmaterialistischer Jetset-Popliterat, dessen aufgesetzte Empathie den Leser irgendwann nur noch nervt. Aus literarischer Perspektive mag das materiell sorglose Leben am Pool eines Luxushotels in Los Angeles, bei dem die Dialoge eher an die Weisheiten einer Gruppe von bekifften Teenagern erinnern, sicher interessant sein – jedwede gesellschaftspolitische Bedeutung hat dieses entrückte Luxusleben, in dem das größte Problem der Austausch einer Gucci-Werbetafel durch eine Netflix-Werbetafel zu sein scheint, jedoch nicht. Und das ist hochproblematisch, da der ganze Roman schon aufgrund seiner Themenwahl ja implizit den Anspruch erhebt, gesellschaftspolitisch bedeutend zu sein.

Das mag sich nun selbst ein wenig schizophren anhören – aber obgleich von Stuckrad-Barre es aufgrund seiner unbestrittenen literarischen Qualitäten schafft, dem Thema „sexualisierter Machtmissbrauch“ ein glaubhaftes Gesicht zu geben, steht am Ende die Person Stuckrad-Barre als Ich-Erzähler und Autor dem eigenen Buch im Weg. Ein Autor, der mehr Schnittpunkte zur Lebenswirklichkeit normaler Menschen hätte, hätte dem Thema sicherlich genau die Facetten beisteuern können, die für eine gesellschaftliche Debatte nötig wären. Wie sieht beispielsweise das lateinamerikanische Zimmermädchen, das dem Autor hinterherputzt und von den lausigen paar Kröten, die sie in diesem Job bekommt, eine ganze Familie ernähren muss, das Thema „sexualisierte Gewalt“? Diese Figur taucht im Roman nicht auf; im Roman taucht auch sonst keine in irgendeiner Form als normal oder gar unterprivilegiert zu bezeichnende Figur auf. So verkommt das ansonsten sehr gute Buch leider zu einem Sittengemälde, das sich abseits der Sophia stets nur selbst um die Welt der Reichen und Schönen dreht. Schade.

Aber vielleicht kann ja ein Popliterat, der sich dank eines hochdotierten Beschäftigungsverhältnisses beim Springer Verlag ein sorgenfreies Jetset-Leben leisten kann, dazu ohnehin nicht viel beisteuern. Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Doch wie glaubhaft kann am Ende ein Roman sein, dessen klar erkennbarer Kollateralnutzen ist, den Lebenswandel des Autors auch in einer Zukunft zu sichern, in der er nicht mehr von seinem – nun – Ex-Freund Döpfner finanziert wird?

Titelbild: Wikicommons/usbotschaftberlin

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