Jan David Zimmermann: „Eine totalitäre Transformation“

Jan David Zimmermann: „Eine totalitäre Transformation“

Jan David Zimmermann: „Eine totalitäre Transformation“

Ein Artikel von Marcus Klöckner

Sind wir als Gesellschaft in den Fluss „Lethe“ gestiegen? In der griechischen Mythologie ist das der Fluss des Vergessens. Wer in ihn steigt oder von seinem Wasser trinkt, vergisst. Der österreichische Schriftsteller und Journalist Jan David Zimmermann beleuchtet in seinem Buch LETHE. Vom Vergessen des Totalitären die Entwicklungen der Corona-Zeit in unserer Gesellschaft. Darin kommt er zu dem Schluss, dass viele in unserer Gesellschaft vergessen haben, „wie das Totalitäre aussieht, nur weil es in einem neuen Gewand wiederkam“ . Im Interview mit den NachDenkSeiten erläutert Zimmermann unter anderem, warum er vom Totalitären in unserer Gesellschaft spricht und wie es sich auch in der Sprache abbildet. Von Marcus Klöckner.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Herr Zimmermann, in Ihrem Buch kommen die Begriffe „autoritär“ und „totalitär“ jeweils über 70-mal vor – auf rund 140 Seiten. Ihr Buch handelt aber nicht von einer dunklen Vergangenheit, sondern von der aktuellen Zeit. Würden Sie uns das erklären?

Mein Punkt ist: Auch wenn hier von der Gesellschaft verdrängt wird; uns hat das Totalitäre erneut heimgesucht, allerdings in einem anderen, neuen Gewand und unter ungeahnten Umständen. Mein Buch handelt von der jüngsten Vergangenheit. Darin sind meine politischen Essays der Jahre 2021 und 2022 versammelt, und sie protokollieren die politischen und gesellschaftlichen Verwerfungen der Corona-Zeit. Die Nachwirkungen dieser Hochphase sind immer noch zu spüren und werden uns noch Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte beschäftigen.

Können Sie das Autoritäre, das Totalitäre, das Sie beobachten, näher skizzieren?

Gerne, zuerst muss ich aber vielleicht kurz den Unterschied zwischen den beiden Begriffen erläutern. Das Autoritäre ist, wenn man so will, ein wenig schwächer als der Totalitarismus. Autoritär kann demnach – salopp formuliert – auch jemand sein, der hierarchisch seine Meinung durchsetzen will, und alle müssen dem folgen. Das kann unangenehm, bedrohlich und gewalttätig sein, aber es ist nichts gegen die Systematik des Terrors, die der Totalitarismus als Staatsform bereithält. Das Totalitäre ist eine Steigerungsform des Autoritären und arbeitet noch stärker mit Angst, Druck, Nötigung und Zensur und dringt dabei in alle Lebensbereiche ein.

Ich habe daher oft den Begriff Totalitarismus in den Mund genommen, weil ich im Laufe der Corona-Krise bemerkt habe, wie alle möglichen Ebenen der Gesellschaft von den „Maßnahmen“ (übrigens ein cleverer Euphemismus, der die Monstrosität verbirgt) durchdrungen wurden. Da ging es nicht um autoritäre Tendenzen in bestimmten Bereichen der Gesellschaft, sondern um einen völligen Umbau. Die Ebene des Privaten und der Familie, die Ebene des Rechtsystems, der Medien, der Universitäten und vor allen Dingen die Ebene des öffentlichen Diskurses und der Sprache vollzogen eine totalitäre Transformation.

Ihre Beobachtungen verknüpfen Sie eng mit einer Sprachkritik. Zeichnet sich das Totalitäre und Autoritäre in der Sprache ab?

Ganz genau. Anhand der Sprache erkennt man, in welchem demokratischen Zustand eine Gesellschaft ist oder eben nicht mehr ist. Der Linguist Christian Bergmann sagte etwa: „Totalitäre Regime sind Diktaturen der Sprache.“ Insbesondere die Sprache der Öffentlichkeit (also von Politik und Medien) zeigt uns an, wo wir uns gesellschaftlich befinden. Und diese Sprache verbreitetet sich schließlich auch auf die Bevölkerung. Während Corona hat man nun gesehen, dass diese Sprache der Öffentlichkeit völlig eskalierte, jedoch abseits von alternativen Medien kein Korrektiv besaß. Hinzu kam eine Sprachverarmung, d.h. die Verwendung immer gleicher Floskeln und Begriffe, letztlich ein Denk- und Sprachzwang; wer diese Verengung des Sagbaren in Frage stellte, wurde niedergemacht. Ich habe die Sprache der Corona-Diskurse mit jenen von totalitären Systemen der Vergangenheit verglichen, insbesondere mit dem Nationalsozialismus, so wie sie Victor Klemperer beschreibt, aber auch mit Sprachformen der DDR. Die Ähnlichkeiten sind erschreckend.

Haben Sie Beispiele für das Autoritäre und Totalitäre in der Sprache?

Es gibt eine Reihe von Beispielen. Ein typisches ist etwa die Verwendung von Begriffen, die derart häufig und wiederholt, ja inflationär gebraucht werden, dass sie eigentlich nur mehr den Zweck haben, das Gegenüber zu diffamieren. Sie werden zu Kampfbegriffen. Es gab während Corona eine Reihe solcher Begriffe, die gegen Kritiker der Maßnahmen ins Feld geführt wurden: „Verschwörungstheoretiker“, „Schwurbler“, „Covidiot“, „Corona-Leugner“, „Corona-Verharmloser“ usw. – meist übrigens nicht gegendert. Auch bei anderen Themen werden solche Wörter gerne verwendet, zum Beispiel „Putin-Versteher“.

Typisch für solche Begriffe ist, dass sie ab einem gewissen Zeitpunkt auf alle angewendet werden, die in irgendeiner Weise Kritik äußern. Denken wir an die Sowjetunion, dort passierte das mit dem Begriff „Kulak“ (Großbauer). Zuerst wurden die tatsächlichen Großbauern so genannt, dann bekam der Begriff eine abwertende Bedeutung, und schließlich wurde er mehr oder weniger auf alle politischen Gegner innerhalb der Sowjetunion angewendet.

Noch ein Beispiel?

Ein anderes Beispiel für totalitäre Sprachformen, das eher komplexer ist, ist die semantische Umdeutung.

Was meinen Sie damit?

Die Bedeutung von Wörtern wird verkehrt oder verändert. „Vernünftig-sein“ hieß während Corona plötzlich, alles tun zu müssen, was einem die Regierung sagt. Ebenso war es mit „sozialem“ Verhalten oder „Solidarität“. Kritik war automatisch unsolidarisch. Journalistische Versuche, die Machenschaften von Pharmakonzernen oder Eliten kritisch zu beleuchten, wurden immer wieder ausnahmslos mit der Plakette „Verschwörungstheorie“ versehen. So wird Kritik bewusst ausgeschaltet.

Die Verarmung der Sprache habe ich als Beispiel ja schon erwähnt, damit einher geht auch der Versuch, Sprache zu regulieren – etwas, was man etwa in der DDR gerne versuchte, denn wie sagte schon Ludwig Wittgenstein: „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt.“

Eines der schlimmsten Beispiele ist aber jenes der Entmenschlichung. Denken wir an Sarah Bosettis Blinddarm-Sager, der eigentlich direkt auf NS-Sprache anspielte. Menschen als Blinddarm der Gesellschaft zu bezeichnen, spricht ihnen das Menschsein ab. Auch der österreichische Bundeskanzler Alexander Schallenberg (gegenwärtig übrigens Außenminister) sagte 2021 im Kontext von 2G und Lockdown für Ungeimpfte, man müsse die Zügel für die Ungeimpften straffer ziehen.

Zentral für Ihr Buch ist auch der Begriff „vergessen“. Kurz zum Titel: Was heißt „Lethe“?

In der griechischen Mythologie gibt es in der Unterwelt vier Flüsse, einer davon heißt Lethe. Es ist der Fluss des Vergessens: Wer von seinem Wasser trinkt oder in dieses steigt, verliert die Erinnerung.

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass wir „als Gesellschaft“ in den vergangenen Jahren in den Fluss Lethe gestiegen seien. Was meinen Sie damit?

Wir haben in Österreich wie in Deutschland doch seit Jahrzehnten stets über das Totalitäre, über Diktaturen, insbesondere den Nationalsozialismus gesprochen. Eine breite Erinnerungskultur wurde etabliert, die fast bis zur Selbstgeißelung betrieben wurde, dabei aber immer nur den grauenvollen Endpunkt und nicht die Systematik der Massenpsychologie zum Gegenstand hatte. Wir haben Debatten über Ausgrenzung, Diskriminierung und Hatespeech geführt, insbesondere linke Kräfte haben – oftmals zu Recht – menschenverachtende Sprachformen, wie sie nicht selten von Rechtspopulisten verwendet wurden, kritisiert.

Mit Corona schien es, als wären all die Debatten, all die Reflexion darüber wie weggefegt. Dieses Vergessen des Totalitären, nur weil es abgewandelt und in neuem Gewand daherkam, das hat mich ehrlich gesagt entsetzt. Nichts hatte plötzlich mit nichts zu tun, alles war ganz anders, und jeder Versuch, Analogien zu erkennen, wurde empört zurückgewiesen. Übrigens ein schlauer Kniff vonseiten der Herrschenden: Weil der Nationalsozialismus so einzigartig und schrecklich war, dürfen wir nichts auch nur ansatzweise mit ihm vergleichen, außer es handelt sich um eine „rechte“ Ideologie.

Tatsächlich glaube auch ich, dass man mit solchen Vergleichen behutsam umgehen muss, vielleicht sind andere totalitäre Systeme passendere Vergleichsobjekte, etwa die DDR. Dass wir aber in Deutschland und Österreich einerseits sagen „Nie wieder“ und „Wehret den Anfängen“ und gleichzeitig lauthals proklamieren, wie großartig wir diese Krise gemeistert haben, halte ich an sich schon für geschichtsvergessen. Wieder waren es Deutschland und Österreich, die besonders autoritär aufgefallen sind, diesmal eben vor allem gestützt durch „linke“ Kräfte.

Lesetipp: Jan David Zimmermann: „LETHE. Vom Vergessen des Totalitären“ Politische Essays 2021 – 2022. Ars vobiscum. 164 Seiten. 27. März 2023. 16,99 Euro.

Titelfoto: Screenshot von ars-vobiscum.media

Die NachDenkSeiten sind für eine kritische Meinungsbildung wichtig, das sagen uns sehr, sehr viele - aber sie kosten auch Geld und deshalb bitten wir Sie, liebe Leser, um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank!