Weder genug Mut noch Menschlichkeit – CDU/CSU und SPD bilden eine große Koalition gegen den Sozialstaat
Von Christoph Butterwegge.
Von Christoph Butterwegge.
Für einen „sozialisierten Ostdeutschen“, wie Matthias Platzeck sich in seiner Bewerbungsrede zum SPD-Vorsitzenden selbst charakterisierte, sind 99,4% Zustimmung bei einer Wahl überraschend und fast ein wenig peinlich. Aber nach der Art seiner Rede war das Abstimmungsergebnis nicht erstaunlich. Es war eine Rede, die die Stimmung dieses Parteitages nicht besser hätte aufnehmen können und die die Delegierten nicht hätte besser ansprechen können. Die Rede bot eigentlich keinen Grund, Matthias Platzeck nicht zu wählen. Doch wie verträgt sich diese Rede mit dem Koalitionsvertrag?
„Ich erkläre hiermit, dass ich diese Koalitionsvereinbarung ebenso wenig lesen werde wie die vorige.“ So soll sich der noch amtierende Kanzler Gerhard Schröder laut BamS nach Abschluss der Koalitionsverhandlungen geäußert haben. Mir ist zwar klar, dass solche Verträge zwischen den koalierenden Parteien, die Regierungen – sind sie erst einmal gewählt – nur noch beim Regieren stören und am liebsten gleich in den Reißwolf verfügt würden. Dennoch wollte ich mich der Mühe unterziehen und die insgesamt 191 Seiten gründlich lesen, damit ich mir nicht später den Vorwurf einhandle: Ich hätte alles, was auf uns zu kommt, ja vorher wissen können und müssen.
Spätestens ab Seite 66 habe ich den Text jedoch nur noch überflogen. Dort steht nämlich der Satz: „Alle Maßnahmen dieses Koalitionsvertrages stehen unter Finanzierungsvorbehalt.“ D.h. man kann den ganzen Streit um den Koalitionsvertrag vergessen, wenn die dort vorgesehenen Maßnahmen nicht finanzierbar sind. So wie die Politik angelegt ist, ist aber nichts anderes zu erwarten.
Kai Ruhsert, ein Förderer der NachDenkSeiten, schickt zum Beitrag von Erhard Eppler in der Frankfurter Rundschau vom 12.11. einen interessanten Kommentar.
So könnte vielleicht manch einer fragen, wenn ich jetzt den Versuch einer ersten Bewertung der Koalitionsvereinbarung und der Pressekonferenz der Koalitionspartner mache. Ich will vorweg sagen, dass ich nicht erwartet habe, dass in den Koalitionsgesprächen eine schonungslose Analyse der Wirkungen oder der Erfolge der bisherigen „Reformpolitik“ und dass am Agenda-Kurs Korrekturen vorgenommen worden wären oder gar ein Kurswechsel eingeleitet worden wäre. Der wirtschaftspolitische Kurs der Großen Koalition bleibt in seiner Grundausrichtung genauso falsch wie unter der früheren rot-grünen Regierung und er kann nicht wesentlich mehr Erfolge für einen wirtschaftlichen Aufschwung bringen, die Umverteilung von unten nach oben nicht umkehren.
In der deutschen Debatte wird in der Regel so getan, als verdankten die beim Kampf gegen Arbeitslosigkeit erfolgreicheren Länder dies vor allem so genannten Reformen. Da ist es gut und erhellend, wenn man genauer hinschaut. Bei der Financial Times Deutschland läuft gerade eine Serie mit Berichten aus so genannten Modellländern: “Strebercheck: Modellländer im Test”. Wir weisen daraufhin, auch wenn wir nicht alle Analysen der ftd teilen. Außerdem verweisen wir auf den Tagebucheintrag vom 12. 10. – einer Erörterung zum skandinavischen Modell.
EU-Ratspräsident Tony Blair will in Hampton Court mit den Kollegen über Modernisierung der verschiedenen Modelle sprechen. – Die EU-Kommission hat die 25 Staaten der Europäischen Union aufgefordert, umgehend in fast allen Politikbereichen Reformen anzuschieben.“ Das meldete die „Welt“ am 21.10.. Wir dokumentieren in der Rubrik „Andere interessante Beiträge“ die Mitteilung der Kommission an das europäische Parlament, an den Rat und so weiter. Interessant daran wie üblich bei Brüssel: Forderung nach Reformen ohne hinreichende sachliche Begründung. Brüssel ist nahezu vollständig in den Händen der neoliberalen Ideologie.
Die vom Unternehmensberater McKinsey entwickelte und von Stern und ZDF finanzierte „Perspektive Deutschland“ startet eine neue Online-Umfrage. Wir haben die Umfrage aus dem Jahre 2004 als exemplarisch für die Umdeutung von Kritik an der „Reform“-Politik in die Forderung nach weiter gehende Reformen kritisiert. Die Umfrage „Perspektive Deutschland 2005“ dürfte genauso tendenziös ausfallen.
Tagebuchnotizen vom 18.10. abends. Wieder neigt sich ein denkwürdiger Tag seinem Ende entgegen.
„Deutschland ist Schlusslicht“, so schrecken uns die Alarmrufe unserer Wirtschaftsexperten. Von Arbeitgebern finanzierte Propaganda-Agenturen wie die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ bläuen uns ein: Deutschland ist am Ende, wenn wir nicht die Löhne senken, Sozialleistungen kürzen, Unternehmenssteuern senken, der Markt kann alles besser als der Staat. Und die meisten Medien krächzten die Angstparolen wie Papageien nach: Der Sozialstaat und Gewerkschaften sind am Elend schuld. Die Politiker und Parteien wurden weich geklopft, das zu „reformieren“.
Ich gebe zu, ich war so naiv zu hoffen, in einer großen Koalition wären die beiden großen Parteien von ihrer gegenseitigen Polemik gegen eine aktive Konjunktur- und Beschäftigungspolitik befreit; klammheimlich hatte ich gehofft, sie würden im Interesse der Arbeitslosen und der um ihren Job Bangenden und zum Wohle des überwiegenden Teils der auf den Binnenmarkt orientierten Wirtschaft den Knoten durchhauen und (schon vor Klärung der Personalfragen) wenigstens einen neuen Akzent setzen: Wir als Staat investieren, wir ermuntern alle andern das gleiche zu tun, die Grundstrukturen unserer Gesellschaft stimmen, jetzt geht es los mit der Ankurbelung der Wirtschaft. Nichts davon. Die bislang völlig erfolglosen Agenda-Reformer haben weiter das Sagen.
Bundeskanzler Schröder hat mit seinem Kurswechsel hin zum Niedrigsteuerland für Unternehmen und Kapitaleinkommen, zur Ausblutung der Staatseinnahmen bis an die Grenze der staatlichen Handlungsfähigkeit, mit seinem Einstieg in die Privatisierung der sozialen Sicherungssysteme, mit dem „Fordern“ der Arbeitslosen oder dem Druck auf Niedriglöhne einer konservativen Politik das Bett gemacht. Nach nur zwei Tagen anbandeln haben sich nun SPD und CDU ins gemachte Bett gelegt. Es war zwar schon immer nur eine schöne Redensart, dass Sachfragen vor der Aufteilung von Ressorts und vor der Verteilung von Posten stehen, dass es aber so offenkundig zunächst nur um die Verteilung der Felle geht, das hat man in der Geschichte der Regierungsbildungen in Deutschland noch selten erlebt.
Gestern stand in verschiedenen Medien, der rechte Seeheimer Kreis und die Parlamentarische Linke in der SPD Fraktion hätten eine gemeinsame Erklärung abgegeben, in der die SPD-Verhandlungsführer aufgefordert werden, für einen Kanzler Schröder „hart zu bleiben.“ Die Parlamentarische Linke lässt sich an der Nase herumführen. Schröder hat die SPD programmatisch ausgehöhlt und sie neoliberal auf dem Kopf gestellt, er hat die Mehrheit für Rot-Grün verspielt und er hat viele fähige Köpfe mit einem kritischen Potential „weggebissen“. Die Linke in der SPD nimmt das hin und nimmt offenbar nicht einmal wahr, dass von den linken Tönen des Wahlkampfes in den Koalitionsverhandlungen – soweit erkennbar – weder personell noch sachlich etwas übrig geblieben ist. Angesichts des gängigen und erfolgreichen Brainwashing ist es angebracht, an den Gesamtvorgang zu erinnern.
Mindestens 2600 Künstler, Intellektuelle, Gewerkschafter etc. haben einen Wahlaufruf zu Gunsten der SPD und Gerhard Schröders unterzeichnet. Ihre öffentliche Intervention bei den Koalitionsverhandlungen wäre jetzt dringend geboten, weil sich abzeichnet, dass zentrale Aussagen des Aufrufs mit Füßen getreten werden. Unter den Unterzeichnern sind eine Reihe meiner Freunde und Weggefährten – Klaus Staeck, Johano Strasser, Egon Bahr, Peter Brandt, Herbert Ehrenberg, Werner Schaub, Friedrich Schorlemmer und viele mehr. An sie wende ich mich mit einer Mail/einem Brief. Da dieser Text von Interesse für NachDenkSeiten-Leser sein dürfte, füge ich ihn zusammen mit dem Aufruf vor der Wahl an.
„Mit überwältigender Mehrheit (84 Prozent) hat sich die deut sche Bevölkerung für weitere Reformen in Staat und Gesellschaft ausgesprochen.“ Das zeige eine repräsentative Umfrage von TNS Emnid im Auftrag der Bertelsmann Stiftung, so heißt es in einer Pressveröffentlichung vom 30.09.05.
Schaut man sich die Umfrage genauer an, so ist die Fragestellung so formuliert, dass eigentlich jeder vernünftige Mensch die „Notwendigkeit weiterer Veränderungen des Staates“ für erforderlich halten muss. Außerdem macht die Studie deutlich, dass die Befragten an völlig andere Reformen denken, als solche, wie sie etwa in der Agenda 2010 vorgesehen sind. Die Überschriften und Schlagzeilen, die wir lesen und hören, suggerieren jedoch, als forderten die Deutschen „weitere“ Reformen im Sinne der neoliberalen Reformkonzepte.