Die Gnade des Neuanfangs: Sozialdemokratische Töne und „weiche Themen“ vor dem Hintergrund der harten politischen Realität einer Großen Koalition

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Für einen „sozialisierten Ostdeutschen“, wie Matthias Platzeck sich in seiner Bewerbungsrede zum SPD-Vorsitzenden selbst charakterisierte, sind 99,4% Zustimmung bei einer Wahl überraschend und fast ein wenig peinlich. Aber nach der Art seiner Rede war das Abstimmungsergebnis nicht erstaunlich. Es war eine Rede, die die Stimmung dieses Parteitages nicht besser hätte aufnehmen können und die die Delegierten nicht hätte besser ansprechen können. Die Rede bot eigentlich keinen Grund, Matthias Platzeck nicht zu wählen. Doch wie verträgt sich diese Rede mit dem Koalitionsvertrag?

Weit mehr als die Hälfte seiner Redezeit widmete sich Matthias Platzeck den Themen wie „Zusammenhalt“, „Integration“, er sprach vom „Band gesellschaftlicher Gemeinsamkeit“, von gefährlichen „Spaltungslinien“ in unserer Gesellschaft, von „neuen Gefährdungen des Zusammenlebens“.
Er redete von der SPD als der „Partei der einen und zusammengehörenden Gesellschaft“, der Partei „der Lebenschancen für alle“, der Partei „des sozialen Zusammenhalts“, der „Chancengleichheit“, der „inneren Einheit“, der „Solidarität und der Nachhaltigkeit“, der Partei „der Aufklärung und des Fortschritts“.
Der SPD gehe es „um die soziale Durchlässigkeit unserer Gesellschaft, um Aufstiegschancen für alle, darum, dass das Leben aller Menschen nach vorne hin offen sein muss und nicht bereits vorherbestimmt ist durch Geburt, durch den Geldbeutel oder Postanschrift der Eltern.“

Er trumpfte mit den alten Werten auf: „Es geht um den Leitstern der Freiheit. Es geht um den Leitstern der Gerechtigkeit und es geht um den Leitstern der Solidarität. Diese Ziele der sozialen Demokratie werden für unser Land im neuen Jahrhundert um nichts weniger wichtig sein, als sie es im 19. und 20. Jahrhundert waren.“ (Gleichheit fehlte allerdings.)

So hatte schon lange kein sozialdemokratischer Spitzenpolitiker mehr über den Sozialstaat gesprochen: „Den ständig herbeigeredeten marktradikalen Mainstream in unserer Gesellschaft gibt es in Wirklichkeit gar nicht.“ Im Gegenteil: „Die Grundidee des Sozialstaates und das Prinzip der sozialen Demokratie leben; sie erfreuen sich ungebrochener Zustimmung und Beliebtheit nicht nur in unserem Lande, sondern in ganz Europa.“

Platzeck verortete die SPD als „Partei der linken Mitte“ und für sein Verständnis von „links“, öffnete er erneut den gesamten altgewohnten Begriffsapparat. Als sein gesellschaftliches Vorbild gab er das skandinavische Modell aus: „Jeder wird gefördert, jeder wird gefordert, niemand darf zurückgelassen werden, keiner wird aufgegeben.“

Nach Jahren „Basta“-Vorsitz von Schröder und nahezu bedingungslos eingeforderter Disziplin durch Müntefering, atmeten die Delegierten erleichtert auf, als sie von ihrem designierten Vorsitzenden hörten: „Ich möchte, dass die deutsche Sozialdemokratie auch weiterhin eine lebhafte, eine diskussionsfreudige Partei ist.“ Sie sei eine Partei mit einer „offenen Diskussionskultur“. Oder: „Wir brauchen die jungen Leute. Wir brauchen die Talente.“ Und: „Ich wünsche mir, dass unsere Partei ein Ort ist, an dem gute Ideen und Engagement jederzeit eine Anlaufstelle haben.“
An die Adresse der Gewerkschaften gerichtet, versprach er eine „Erneuerungspartnerschaft für unser Land zwischen der SPD und den Gewerkschaften.“
Kurz: Der neue Vorsitzende redete „sozialdemokratisch“ und arbeitnehmerorientiert, er sprach von „links“ und er will wieder eine „lebhafte und diskussionsfreudige Partei“.
Es gab also wirklich keinen Grund, ihn nicht zu wählen. Und sein Wahlergebnis war dem entsprechend.

Anders als seine Vorgänger vermied er tunlichst, von einer „konsequenten Fortsetzung der Reformpolitik“ zu sprechen. Weder „Reformpolitik“, noch „Agenda 2010“, noch „Hartz“ kamen in seiner Rede vor. Platzeck redete freundlicher vom „Kurs der inneren Erneuerung“ oder von „Weiterentwicklung“.
Und weil er die Vorgeschichte doch nicht ganz ausblenden konnte und seine Vorgänger im Amt ja auch loben musste, sagte er ganz vorsichtig: „Mit Gerhard Schröder und Franz Müntefering an der Spitze hat die SPD den richtigen Weg für unser Land entschlossen eingeschlagen.“
Konkreter wollte er, was die harten Themen Wirtschaft, soziale Sicherung, Finanzpolitik oder Steuerpolitik angeht, nicht werden.

Dafür gab er den „weichen Themen“ um so mehr Raum:
Bildung sei für ihn der Schlüssel für eine sozialdemokratische Welt der Zukunft. Bildung sei „die soziale Gerechtigkeitsfrage des begonnenen Jahrhunderts schlechthin“, entscheidend sei „ob es uns gelingt, gute und gleiche Bildungschancen für alle zu organisieren.“
Er forderte eine bessere Familienpolitik als Voraussetzung von mehr Kindern. Er lobte das Alter und forderte vor allem ein besseres, vertrauensvolleres und optimistischeres „Miteinander“.

Das ging den Delegierten an die Seele und als er dann am Schluss noch seine ostdeutsche Biografie ansprach und die (nur) zehnjährige Mitgliedschaft in der SPD als „die zehn der besten und glücklichsten Jahre meines Lebens“ nannte, da hatte ihn der Parteitag in sein Herz geschlossen.

Ich will nun Matthias Platzeck nicht schon nach seiner Bewerbungsrede um den Vorsitz der Sozialdemokratischen Partei kritische Unterstellungen machen. Er möge von der Gnade des Neuanfangs zehren. Wenn man jedoch diese Rede vor dem Hintergrund des am Tag zuvor mit ähnlichen Mehrheiten angenommenen Koalitionsvertrages sieht und wenn man das gleichfalls überwältigende Mandat des Parteitags an die sozialdemokratischen Regierungsmitglieder betrachtet, so musste man den Eindruck bekommen, dass man auf zwei Parteitagen gewesen ist.
Auch Platzeck redete am Vortag noch ganz anders, so als er den Satz sagte: „Wir können auf die sieben Jahre, in denen wir nach langer Pause wieder Verantwortung für Deutschland getragen haben, sehr stolz sein.“ Oder: Dass sich die Sozialdemokraten mit gutem Gewissen mit dem Koalitionsvertrag sehen lassen könnten.

Sollte die künftige Arbeitsteilung zwischen SPD-Regierungsmitgliedern und der Partei so sein, dass der Vorsitzende der SPD die sozialdemokratische Seele anspricht und die Regierungsmitglieder die notwendige „Drecksarbeit“ machen, so bekäme die SPD ein noch größeres Problem mit ihrer Glaubwürdigkeit, als sie das schon die letzten Jahre hatte.

Oder aber – und das wäre angesichts der Inhalte der Rede Platzecks schade – Matthias Platzeck würde diejenigen, die seinen Worten Glauben geschenkt haben, tief enttäuschen – weil Reden und Handeln einmal mehr weit auseinanderklafften. Der Spagat würde so gar noch gespreizter und noch viel schmerzhafter.

Matthias Platzeck läuft mit seiner Rede zum Parteivorsitz ein hohes Risiko, für sich selbst und für seine Partei. Man kann nur hoffen, dass ihn die Regierungsmitglieder der SPD in der Großen Koalition von der Welle der geradezu euphorischen Zustimmung nicht schon recht bald wieder auf den Boden der harten politischen zurückschleudern.
An Gerhard Schröders Mimik war jedenfalls während dieser Rede keine allzu große Begeisterung abzulesen: He was not very amused – und Clement schon gar nicht.
Aber die sitzen ja nicht mehr in der Regierung. Müntefering mimte mal wieder die Sphinx.
Und Steinbrück drohte, dass er eine solche Arbeitsteilung zwischen Partei und Regierung nicht mitmachen werde und deshalb in den Vorstand wolle.
Angesichts dieser Drohkulissen kann einem Matthias Platzeck schon jetzt ein wenig leid tun.
Vielleicht war seine Rede, mit der um eine möglichst große Zustimmung war, schon sein erster großer Fehler als SPD-Parteivorsitzender.

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