Schottland stellt die Systemfrage

Jens Berger
Ein Artikel von:

Heute stimmen die Schotten über ihre Zukunft ab. Dabei geht es um weit mehr als „nur“ die Frage der formellen Unabhängigkeit. Schottland vs. Großbritannien – das ist auch die das Duell der sozialen Marktwirtschaft gegen den Neoliberalismus und schlussendlich auch das Duell zwischen einer gerechteren Gesellschaft und einem Turbokapitalismus, in dem die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Doch selbst wenn die Schotten Großbritannien „farewell“ sagen, ist der Erfolg ihres Kampfes für Selbstbestimmung und Gerechtigkeit keinesfalls garantiert. Denn es gibt zahlreiche wichtige Detailfragen, die nach wie vor ungeklärt sind. Von Jens Berger.

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Es ist ein Kampf mit ungleichen Mitteln. Während die Befürworter einer schottischen Unabhängigkeit in kleinen Grüppchen vor Ort ihren Wahlkampf mit bescheidenen Mitteln bestreiten, steht auf der Gegenseiten ein nahezu allmächtiger Block des britischen Establishments, der von den großen Banken, über die Londoner Denkfabriken bis hin zu den Konzernmedien reicht. Wie George Monbiot anmerkt gibt es außer dem Sunday Herald keine einzige regionale oder überregionale Zeitung, die die schottische Unabhängigkeit unterstützt. Im Gegenteil – in der britischen Presse wird der Kampf für die Unabhängigkeit mit Hitlers Bedrohung für das britische Empire gleichgesetzt und der Anführer der Unabhängigkeitsbewegung, Alex Salmond, mit Zimbabwes skurrilen Despoten Robert Mugabe verglichen. Die Kampagne der Unionisten, also der Gegner einer schottischen Unabhängigkeit, baute von Anfang an eine größtmögliche Droh- und Angstkulisse auf. Wenn die Schotten den Verlockungen der „naiven Spinner“ folgen, so die Botschaft, werden sie dafür einen sehr hohen Preis bezahlen. Ein Kampf um die Herzen der Schotten sieht wahrlich anders aus.

Nationalismus von links

Wer den schottischen Drang nach Unabhängigkeit verstehen will, der sollte sich folgenden Umstand vor Augen halten: Von den 59 schottischen Delegierten im britischen Unterhaus ist lediglich ein Einziger Mitglied der in London regierenden Konservativen Partei. Die übergroße Mehrheit gehört stattdessen der schottischen Labour Partei (sozialdemokratisch), den schottischen Liberaldemokraten (sozialliberal) und der Scottish National Party (sozialdemokratisch) an. Mehr noch als die konservative, ist vor allem die marktliberale Politik Westminsters in Schottland nicht mehrheitsfähig. Dies ist übrigens kein aktueller Trend der jüngeren Jahre. Was Jahrhunderte großbritischer Politik nicht geschafft haben, wurde von Margareth Thatchers neoliberaler Politik eingeleitet und von ihren Nachfolgern gleich welcher Partei vollendet – die Entfremdung der Schotten vom Süden der Insel.

Die Schotten haben einen funktionierenden Kompass für gesellschaftliche Fehlentwicklungen. Traditionell legen sie sehr viel mehr Wert auf Gemeinschaft und Gerechtigkeit als die Engländer. Während in England die Studiengebühren in teils absurde Höhen getrieben wurden, gibt es in Schottland immer noch kostenlosen Zugang zu den Hochschulen. Während England die Gesundheitsversorgung (National Health Service/NHS) nach Aussagen von David Cameron „radikal“ reformieren, also privatisieren, will, wollen die Schotten ihren NHS unter allen Umständen in öffentlicher Hand behalten. Anders als England, das seine Zukunft vor allem auf den Finanzkapitalismus der City of London aufbauen will, setzt Schottland auf eine soziale Marktwirtschaft, in der reale Güter produziert werden und eine breite Mehrheit sich diese Güter auch leisten kann. Zugespitzt könnte man die Unterschiede zwischen England und Schottland durchaus zu einem Kampf der Systeme stilisieren.

Der Kampf von schottischer Realwirtschaft gegen britischen Finanzkapitalismus ist ein Mythos

Doch wie in jeder Zuspitzung verlieren sich auch hier die Details. Die goldenen Zeiten, in denen die schottische Schwerindustrie das Wirtschaftssystem dominiert hat, gehören der Vergangenheit an. Auch Schottland steckt mitten im Strukturwandel und hat sich von den Verlockungen der Finanzbranche vereinnahmen lassen. Vor der Finanzkrise war der Finanzplatz Edinburgh hinter London – gemessen an der Bilanzsumme – der zweitgrößte Bankenstandort Europas. Die mittlerweile verstaatlichte Royal Bank of Scotland (RBS) mit Sitz in Edinburgh war das zweitgrößte Finanzunternehmen Großbritanniens und das zehntgrößte der Welt. Knapp dahinter lag die mittlerweile teilverstaatlichte Bank of Scotland (BOS), später HBOS, heute Lloyds TSB. Im schottischen Finanzsektor sind rund 100.000 Menschen beschäftigt – rund zweieinhalb mal so viel wie im industriellen Sektor. So traditionell wie es die an Mythen wahrlich nicht armen Schotten gerne hätten, ist ihre Wirtschaft leider nicht. Und hier lauert auch die Gefahr für die ansonsten sehr wünschenswerte Unabhängigkeit.

Um es vorwegzunehmen – das auch in deutschen Medien gerne erzählte Märchen, ein unabhängiges Schottland hätte außer Öl und Whisky nichts zu bieten, ist blanker Unfug. Schottland hat – was man nicht von allen Industrieregionen Europas sagen kann – den Strukturwandel bislang nahezu vorbildlich gemeistert. Im „Silicon Glen“ sind zahlreiche moderne Forschungs- und Entwicklungsfirmen im Umfeld der schottischen Hochschulen entstanden. In Schottland wird Software entwickelt, die bestimmenden Branchen im produzierenden Gewerbe sind die Mikroelektronik, die Wehrtechnik der Bau von Flugzeugkomponenten, Schifffahrtstechnologie und Optoelektronik. Fast jeder dritte europäische Computer wird in Schottland produziert – weltweit ist es fast jeder zehnte.

Zugegeben – verglichen mit einem industriellen Giganten wie Deutschland mögen diese Zahlen nicht sonderlich beeindruckend sein. Schottland hat jedoch gerade einmal 5,3 Millionen Einwohner und spielt daher eher in einer Liga mit Dänemark und Finnland. Und es gibt keinen ernst zu nehmenden Grund, warum ein unabhängiges Schottland für seine Bewohner nicht auch den Lebensstandard dieser beiden skandinavischen Länder verwirklichen könnte. Zusätzlich verfügt Schottland auch noch über die – jedoch schrumpfenden – Erdöl- und Erdgasvorkommen in der Nordsee und über weltweit wohl einmalig geeignete Bedingungen für regenerative Energien (Windenergie und Gezeitenkraftwerke). Wirtschaftlich steht einer schottischen Unabhängigkeit somit wenig bis nichts im Weg. Zumindest wenn es um die traditionelle Wirtschaft geht.

Die City of London duldet kein Gegenmodell

Einer der größten Gegner einer schottischen Unabhängigkeit sind jedoch – wie kaum anders zu erwarten – die Finanzgiganten der City of London. Die rettungsmilliardengeschwängerten Großbanken haben natürlich kein Interesse daran, einen Gegenentwurf zu ihrem System gleich nördlich des Hadrianswalls entstehen zu lassen. Die Milliardenrenditen durch die fest eingeplante Privatisierung der letzten Reste des öffentlichen Eigentums sind in der City of London schließlich schon einkalkuliert und sicher zählt man auch schon auf die schottischen Steuergelder und die Einnahmen aus der Öl- und Gasförderung für die nächste Runde der Bankenrettungen.

Daher ist es auch nur all zu verständlich, dass die großen Banken am Finanzstandort Edinburgh bereits jetzt eine maximale Drohkulisse aufbauen und offen mit der Verlagerung ihrer Hauptquartiere und zehntausender Arbeitsplätze ins ferne London drohen. Da diese Banken zum Teil dem britischen Staat gehören, von den Rettungsmilliarden des britischen Schatzkanzlers abhängen und ein Geschäftsmodell haben, das von den laxen britischen Gesetzen abhängt, wird ein unabhängiges Schottland wohl in Röhre gucken und der Abwanderung nichts entgegensetzen können. Den Großbanken wird man zwar keine Träne nachweinen, aber zehntausende Beschäftigte samt Familien sind schon ein herber Schlag für Edinburgh – vor allem wenn man die abwandernde Kaufkraft der nicht eben schlecht verdienenden Banker mit einkalkuliert.

Andererseits wäre eine Fortsetzung des radikalen Privatisierungskurs Londons ebenfalls ein herber Schlag für die schottische Binnenwirtschaft. Mit mehr als 550.000 Mitarbeitern (vor allem im Gesundheits- und Bildungssektor) ist der öffentliche Sektor weit vor dem Finanzsektor der Arbeitgeber Nummer Eins. Sollte Schottland in der Union bleiben, sind hier herbe Einschnitte zu erwarten, die  die Binnenwirtschaft schwer schädigen würden. Die wirtschaftlichen Chancen und Risiken einer Unabhängigkeit sind somit in etwa gleich verteilt – es geht nicht unbedingt darum, ob und wie viel die Schotten gewinnen, sondern vielmehr darum, wie viel oder wie wenig sie verlieren.

Die schottische Gretchenfrage: Wie hältst Du´s mit der Währung?

Eine große Unbekannte ist bei allen Prognosemodellen die Frage nach der künftigen Währung Schottlands. Hier machen es sich die Separatisten sehr einfach. Sie wollen das Pfund behalten, egal ob London dies gutheißt oder nicht. London schließt derweil eine Währungsgemeinschaft mit Schottland bislang kategorisch aus. Doch eine Beibehaltung des Sterlings in Schottland ist natürlich möglich, schließlich verwendet beispielsweise auch Panama den US-Dollar als offizielle Währung, ohne dass es dazu einen Vertrag mit den USA gäbe. Der Verlust der eigenen Währung ist jedoch viel mehr als „nur“ ein Schönheitsfehler. Als Mitbenutzer des britischen Pfunds wären die Schotten auf Ewigkeit ein Abhängiger der britischen Notenbank. Eine eigene Zinspolitik wäre so unmöglich. Die britische Notenbank schert sich freilich kein Jota um die schottische Wirtschaft, sondern verfolgt stringent die Interessen der Finanzinstitute in der City of London. Ohne eigene Notenbank wird Schottland dann auch keine Möglichkeit haben, auf externe Schocks, wie beispielsweise eine künftige Finanzkrise, zu reagieren. Was würde ein unabhängige schottische Regierung denn bitte tun, wenn die Zinsen für ihre Staatsanleihen plötzlich durch die Decke gehen und man keinen Zugriff auf eine eigene Zentralbank hat?

Eine Mitgliedschaft im Euro ist unter diesen Gesichtspunkten ebenfalls suboptimal und es ist vollkommen offen, ob die EU oder gar die Eurozone Schottland überhaupt aufnehmen würden. Vor allem Spanien hat kein Interesse, dass Schottland als positives Beispiel für Separatismus in die Geschichte eingeht – die Katalanen und die Basken planen schließlich ebenfalls ihre Unabhängigkeit von der Zentralregierung. Schlussendlich wäre es für Schottland wohl die beste Lösung, eine eigene Währung herauszugeben und diese an das britische Pfund zu koppeln – dies ist jedoch ein kostspieliges Unternehmen, schließlich benötigt die neue Notenbank erst einmal die Währungsreserven, mit denen sie manövrieren kann.

Scheidung ohne rechtlichen Rahmen

Dies sind jedoch nicht die einzigen potentiellen Probleme im Falle der Unabhängigkeit. Viel wird davon abhängen, wie die schottische Unabhängigkeit, wenn sie denn gewollt ist, völkerrechtlich bewertet wird. Vereinfacht ist hier von einer Abspaltung und einer Trennung zu unterscheiden. In Falle einer Abspaltung wäre „Rest-Großbritannien“ der einzige und völkerrechtlich legitime Nachfolger des heutigen Großbritanniens. Es würde alle völkerrechtlichen Verträge übernehmen, während Schottland ein unbeschriebenes Blatt wäre und sämtliche Verträge neu aushandeln müsste. Und dies ist kein Pappenstiel, es geht hier um 14.000 internationale Verträge, angefangen bei der UNO-, EU- und NATO-Mitgliedschaft, über Handels-, Verkehrs- und Patentabkommen, bis hin zu Zoll-, Fischerei- und Postabkommen. Bis diese Abkommen unterzeichnet und ratifiziert sind, würde sich die komplette schottische Wirtschaft in einem juristischen Niemandsland bewegen – für internationale Konzerne ein wahrer Albtraum. Dieses Abspaltungsmodell entspricht der britischen Sichtweise und wird auch von der EU geteilt. Ob die EU diese Position auch noch vertritt, wenn die Schotten sich wirklich für unabhängig erklären, ist eine andere Frage – schließlich wäre ein solcher rechtsfreier Raum auch für die EU-Staaten und EU-Konzerne ein echtes Risiko.

Anders sähen die Vorzeichen bei einer Trennung aus. Dann wären sowohl „Rest-Großbritannien“ als auch Schottland Rechtsnachfolger von Großbritannien und sämtliche völkerrechtlichen Verträge Großbritanniens würden automatisch auch für Schottland gelten, das dann auch Mitglied der UNO, der EU und der NATO wäre. Dies ist die schottische Sichtweise, die jedoch (noch) von keinem anderen Land geteilt wird und bei der EU (Stichwort: Separationsbestrebungen in Spanien, Belgien, Italien und Frankreich) auf keine Gegenliebe stößt. Sollten die Schotten mit „ja“ stimmen, wird die Rechnung nicht eben gering ausfallen. Das ist dann wohl der Preis für Unabhängigkeit und Gerechtigkeit.

Glückliches Alba … oder ist auch das nur ein Mythos?

Sollten die Schotten für ihre Unabhängigkeit votieren und sowohl die Londoner Regierung als auch die EU ihnen keine all zu großen Steine in den Weg legen, könnte der schottische Traum von einem gerechteren Staat in Erfüllung gehen. Doch auch hier sind leider Zweifel angebracht. In einem unabhängigen Schottland wäre die Scottish National Party (SNP) auf absehbare Zeit die dominierende Kraft. Die SNP ist zwar sozialdemokratisch, jedoch nicht wirklich links. Bislang übertünchte die Forderung nach einer Unabhängigkeit die meisten wichtigen politischen Richtungsfestlegungen der SNP. Wohin der Weg nach einer Unabhängigkeit gehen würde, ist dabei vollkommen offen. Innerhalb der SNP gibt es bereits Stimmen, die zur Ankurbelung der Wirtschaft und Neuansiedelung britischer Unternehmen eine Senkung der Unternehmensbesteuerung fordern. Vor allem in den entscheidenden Fragen, welche Währung ein unabhängiges Schottland haben und ob es Mitglied der EU werden soll, macht es sich die SNP sehr einfach und verfolgt eine zweckoptimistische Vogel-Strauß-Linie. Einen Plan B hat sie nicht in der Tasche. Welche Politik ein unabhängiges Schottland wirklich einschlagen wird, ist daher von zig verschiedenen Entwicklungen abhängig und vollkommen offen.

Vielleicht ist der Wunsch nach einem gerechteren Staat auch nur ein Mythos, der den Realitäten geopfert wird, sobald dies opportun scheint. Eine echte Wahl haben die Schotten aber ohnehin nicht. Wenn sie sich für die Unabhängigkeit entscheiden, werden sie zumindest die Garantie haben, nie wieder von den Torries aus Westminster regiert zu werden – und das allein scheint schon eine lohnenswerte Perspektive zu sein. Und wer weiß schon, wie die Welt in zehn Jahren aussieht? Vielleicht haben wir 2024 ein ultranationalistisches England unter einer UKIP-Regierung, das aus der EU ausgetreten ist und ein sozialdemokratisches EU-Land Schottland, das die besten Werte aus dem Erbe Großbritanniens in eine neue Zukunft mitnimmt? Dann wäre Schottland auch als Einwanderungsland für enttäuschte Deutsche erste Wahl. Doch diese Entscheidung müssen die Schotten und niemand sonst fällen.