Woran erkennt man, dass es in Deutschland Sommer ist?

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Der Streit um die Rechtschreibreform – oder: Wie man im „Sommerloch“ von den wirklichen Probleme ablenkt. Ein Musterbeispiel für die Manipulation der öffentlichen Debatte.

Am Wetter kann man – jedenfalls in diesem Jahr – sicher nicht erkennen, dass es Sommer ist. Dass Leute Urlaub machen, kann beim angeblichen „Freizeitweltmeister“ und im Land der „Billigflieger“ auch nicht als sicherer Beweis gelten, denn die Arbeitnehmer sind doch ohnehin ständig nur im Urlaub – wenn man den Arbeitgeberverbänden Glauben schenkt. Und die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, die sowieso kein Geld dafür hat, Urlaub zu machen, tröstet BILD seit Tagen mit Seiten füllenden Tabellen, dass es den Kolleginnen und Kollegen anderer Berufsgruppen auch nicht besser geht.
Damit die Arbeitslosenhilfeempfänger im Lande darüber hinweg kommen, keine Sommerferien machen zu können, hat man ihnen das Ausfüllen endlos langer Fragebögen für Hartz IV als Ablenkungsprogramm verpasst. Statt mit Urlaubs- sollen sie sich besser schon mal mit Umzugsplänen in billigere Wohnquartiere beschäftigen.

Nicht einmal Sabine Christiansen hat Sommerpause und schlägt sonntagabends wie das ganze Jahr über ihre Beine übereinander. Dass der Kanzler in Italien ist, fällt bei seinen vielen Auslandsreisen in letzter Zeit auch nicht gerade auf, außerdem meldet er sich doch fast jeden Tag zu Wort. Auch Wolfgang Clement provoziert weiter regelmäßig seine Schlagzeilen – aber der nimmt sich ja sowieso keine Zeit, Sommerurlaub zu machen.

Sicher die Zeitungen sind im Augenblick ein wenig dünner und im Fernsehen erscheint mancher Kommentator, der sonst nie ran darf. Dass der Sport-Chef von BILD und BamS im Urlaub ist, ist wohl eher ein vorgeschobener Grund dafür, dass er nicht für die verleumderischen Falschmeldungen über Oliver Kahns „Beziehungskisten“ oder für die Pannen seines „Chefkorrespondenten“ Franz Beckenbauer bei der Auswahl eines Nachfolgers für Rudi Völler als Nationaltrainer verantwortlich gemacht werden kann.

Na ja, immerhin gibt es die „Sommerinterviews“ in ARD und ZDF, aber da fragt und hört man auch nur immer wieder das, was man das ganze Jahr über eben so fragt und zu hören bekommt. Im SPIEGEL liest man ohne Unterlass weiter, was seit langem die Linie der Redaktion ist, nämlich dass die „Reform“ zu spät kommt und zu kurz greift. Die meisten Chefkommentatoren unserer Tageszeitungen, warnen – vermutlich beim Longdrink an der Strandbar – die Bundesregierung wie gewohnt davor, bloß nicht von ihrem „Reform“- Kurs abzulassen und sie versuchen, wie wir es inzwischen bis zum Überdruss kennen, die Hartz-Gesetze als einen Segen für das Land darzustellen. Die Umfragezahlen für die SPD sinken unabhängig von der Jahreszeit weiter. Deutschlands „klügster Wirtschaftsprofessor“ Hans-Werner Sinn liest – wie gehabt – regelmäßig aus dem Kaffeesatz seinen „Geschäftsklimaindex“.

Gibt es also wirklich nichts, woran man in Deutschland erkennen könnte, dass endlich Sommer ist?
Doch es gibt etwas, ein Signal, das seit nunmehr sechs bis sieben Jahren jedem, aber auch wirklich jedem klar macht, dass das Sommerloch erreicht ist: Der Streit um die „Rechtschreibreform“.

Die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung ist zwar schon seit sechs Jahren in Kraft, aber schon Jahre vorher und danach füllt dieses Thema in absoluter Regelmäßigkeit pünktlich zum Sommeranfang die Schlagzeilen und beherrscht die öffentliche Debatte. Angezündet meist von irgendeinem Politiker in irgendeinem Land, das kurz vor einer Wahl steht, schlägt das Thema höhere Flammen als die sommerlichen Waldbrände an der Mittelmeerküste. Mehr noch als beim Fußball, wo jeder (-mann) ein verkappter Bundestrainer ist, kann beim Thema Rechtschreibung, jeder (-mann) und jede (Frau), ob er oder sie nun nach den neuen oder den alten Regeln schreiben kann oder auch nicht, wenigstens mitreden. Vom täglichen BILD-„Bauch“-Schreiber Franz Josef Wagner, der immerhin offen zugibt, dass er noch nie in seinem Leben darüber nachgedacht hat, wohin er ein Komma setzt oder wie er ein Wort trennt, bis zum saarländischen Kultusminister Schreier oder dem niedersächsischen Ministerpräsidenten Wulff. (Vielleicht musste der ja von seiner unsinnigen Forderung ablenken, beim unterausgelasteten VW-Konzern die Arbeitszeiten zu erhöhen?)

Warum ist die Rechtschreibung so ein beliebtes Thema, für alle die es sonst kaum noch in die Schlagzeilen schaffen, für alle Populisten, für alle die von ernsthaften Themen ablenken wollen oder davor Angst haben, dass über die wirklichen Probleme diskutiert wird?

Erstens: Man braucht keine Ahnung davon zu haben, worüber man spricht.
Zweitens: Wenn man dagegen ist, kann man sicher sein, dass die Mehrheit hinter einem steht.
Drittens: Die Mehrheit gegen die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung ist sicher, denn wer will schließlich etwas ändern, worüber er sich ohnehin nicht sicher ist?
Im Gegenteil: Je unsicherer man ist, desto nachdrücklicher kann man seinen Standpunkt vertreten, dass man dagegen ist.

Statt in der Sommerpause einmal in Ruhe Bilanz zu ziehen, was die Agenda-Politik eigentlich gebracht hat, statt sich fragen zu müssen, was eigentlich dahinter steckt, dass sich die Vorstandsvergütungen im Verhältnis zu den Arbeitnehmerentgelten etwa bei der Deutschen Bank vom 32-fachen auf das 286-fache verschoben haben oder statt sich darüber Gedanken machen zu müssen, warum ein Viertel unserer Schüler einen Text nicht einmal versteht, geschweige denn, dass es ihn richtig schreiben könnte, kann man sich beim Thema „Rechtschreibreform“ gefahrlos den Mund darüber zerreißen, ob nun „Leid tun“ oder „leidtun“ richtig ist.

Unser Land kann einem wirklich Leid tun, dass es regelmäßig gelingen kann, mit oberflächlichen öffentlichen Scheindebatten von den wirklichen Problemen ablenken zu können.
Es gibt nur eine Lösung: Soll doch jeder schreiben „wie“ er will, dann könnte man sich wenigstens wieder vor allem damit auseinander setzen „was“ er will. Das „Sommerloch“ könnte dann vielleicht zu einer spannenden „Unterhaltung“ werden.