Der Staudammwahn der Türkei

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Das Ilisu-Staudammprojekt in der Türkei steht weiter im Kreuzfeuer der Kritik. Die NachDenkSeiten haben über die Hintergründe des Projektes berichtet. Nun liegt ein weiterer Bericht der Expertenkommission vor, der den Status quo beschreibt und bestätigt, dass die 153 Auflagen, an welche die Exportkredite gebunden sind, immer noch nicht erfüllt worden sind. Ungeachtet der Kritik plant die Türkei weitere Staudamm-Projekte und die Privatisierung von Flüssen, was zu heftigen Widerstand in der Bevölkerung geführt hat und noch führt. Auch diese Projekte zeichnen sich aus durch unprofessionelles Vorgehen und nicht geklärte Zuständigkeiten. Die Exportkreditagenturen wären gut beraten gewesen, wenn sie sich im Vorfeld über die Arbeitsweise der türkischen Behörden in Bezug auf die Staudammprojekte informiert hätten, vielleicht wäre ihnen die Beteiligung zu riskant gewesen, denn bei genauer Betrachtung scheint die Vorgehensweise des Ilisu-Staudammprojektes keine bedauerliche Ausnahme zu sein.
Von Christine Wicht

Im Juni 2008 erklärte die Bundesregierung, dass die Auflagen für den Bau des Ilisu-Staudamm in der Türkei nicht verhandelbar seien. Nach Aussage einer Vertreterin des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) im Juni 2008 vor dem Menschenrechtsausschuss müssten internationale Standards auf dem Gebiet der Umwelt, der Menschenrechte und des Denkmalschutzes eingehalten werden. Wenn die Türkei ihre Zusagen nicht erfüllt, hätte dies ernsthafte Konsequenzen bis hin zum Ausstieg Deutschlands aus dem Projekt, so das BMZ. Der Ausschuss verlangte Auskunft über den Stand der Verhandlungen, nachdem eine internationale Expertenkommission festgestellt hatte, dass die Türkei die Auflagen ignoriere. Am 27. Mai 2008 hat die Regierung in Ankara ein Investitionsprogramm mit einem Volumen von 12 Milliarden US-Dollar angekündigt, darin seien auch die Ausgaben für das Ilisu-Projekt enthalten.

Parteien zeigen sich kritisch
Die Tatsache, dass die Türkei sich über die Vereinbarungen bislang hinwegsetze, machte Union und SPD “nachdenklich”. Die SPD fragte zudem nach dem Problem möglicher regionaler Konflikte wegen Wasserknappheit. Alle Fraktionen erkundigten sich nach Fristen für die Einhaltung der Auflagen und dem möglichen Ausstieg Deutschlands aus dem Projekt bei Nichterfüllung. Die Türkei dürfe sich nicht “durchmogeln”, so die FDP, die zudem nach den Auswirkungen des bisherigen Verhaltens der Türkei auf den angestrebten EU-Beitritt fragte. Auch die Umsiedlungen und die Informationspolitik der türkischen Regierung gegenüber der betroffenen Bevölkerung interessierten die Abgeordneten. Nach Auskunft des Auswärtigen Amtes seien zwar erste Enteignungen in dem Gebiet bereits eingeleitet. Doch sei noch niemand umgesiedelt worden. Zeitungsberichte, wonach 55.000 Menschen umgesiedelt werden sollten, seien nicht präzise. Diese Zahl umfasse alle Betroffenen, die etwa Grundstücke auf dem Baugebiet besitzen. “Physisch” umgesiedelt werden sollten hingegen 11.000 Personen. Entgegen einigen Medienberichten habe der Bau am eigentlichen Staudamm noch nicht begonnen. Zurzeit würden lediglich Vorbereitungsarbeiten wie der Bau von Zufahrtsstraßen verrichtet. Zu den möglichen Wasserkonflikten in der Region infolge des Staudammbaus sagte das Auswärtige Amt, die Türkei habe ihren Nachbarn entsprechende Wassergarantien zugesichert. Die internationale Beteiligung an dem Projekt bezeichnete die Bundesregierung als Durchbruch. Damit würden entsprechende Standards auch beim Bau weiterer Staudämme in der Türkei eingeführt. “Wenn wir dabei sind, ist es für die Betroffenen besser, als wenn wir nicht dabei wären”, so das Fazit des Auswärtigen Amtes.

Aktueller Stand der Dinge
Am 2. September 2008 hat die Nichtregierungsorganisation „Erklärung von Bern“ (EvB) eine Presseerklärung zum aktuellen Stand des Staudammprojektes abgegeben (Quelle: db-si.ch). Der zweite Expertenbericht zum Staudamm im Südosten der Türkei decke Täuschungen auf und fordere als Konsequenz ein Baumoratorium. Nach Meinung der Experten führe ein Festhalten am Beginn des Baus des Wasserkraftwerks im Oktober zur Verarmung und Vertreibung von etwa 65.000 Menschen, deshalb fordern die Autoren ein Baumoratorium von mindestens 3 Jahren.

Kurzer Rückblick
Im Oktober 2006 hatten die Exportkreditagenturen (ECA) von Deutschland, Österreich und der Schweiz mit der Türkei vertraglich festgelegt, dass die Deckung von europäischen Lieferungen an das Ilisu-Kraftwerk von der Erfüllung von 153 Auflagen abhängt, die das Projekt in Einklang mit internationalen Staudamm-Standards bringen. Ein Expertengremium wurde beauftragt, die Einhaltung dieser Auflagen der ECA zu überprüfen, bereits im Februar 2008 stellten diese Experten fest, dass nur wenige Auflagen erfüllt waren, worauf die Kreditagenturen mit Vertragskündigung drohten.
Die Türkei erstellte einen neuen Zeitplan.

Aktueller Expertenbericht
In seinem zweiten Bericht weist das Team des Weltbankexperten Prof. Michael Cernea nach, dass es seither kaum Verbesserungen gab. Den Betroffenen drohe Verarmung, Verelendung und Isolation. Immer noch gäbe es kein alternatives Ackerland für die Menschen der 185 Dörfer, die umgesiedelt werden müssten, und auch mit den überfälligen Existenzsicherungsmaßnahmen sei noch nicht einmal begonnen worden. Diese müssten laut Weltbankstandards aber anlaufen, bevor mit dem Bau begonnen werde. Allein deren Planung dauere bei derartigen Dimensionen mindestens 3 bis 6 Jahre. Die Vorbereitungen sind laut Bericht von derart geringer Qualität, dass, daran gemessen, selbst der „Drei Schluchten Damm“ in China, bisher Sinnbild für Größenwahn und Rücksichtslosigkeit, sorgfältiger konzipiert gewesen sei.

Täuschungsversuche der Dammbaubehörde
Des Weiteren deckten die Experten Täuschungsversuche der Dammbaubehörde DSI auf. So seien beispielsweise wichtige Auflagen im neuen Zeitplan einfach unterschlagen worden. Andere Maßnahmen seien als erfüllt gemeldet worden, die in Wahrheit jedoch nicht realisiert waren. Die Experten vermuten die Gründe in grundlegenden systemischen Problemen im türkischen Regierungssystem. Alle Warnungen ignorierend, habe die DSI im Januar dennoch mit dem Bau von Zufahrtsstraßen begonnen, mit militärischen Sicherungen und der Erstellung von Unterkünften für die Arbeiter. Zwei Dörfer seien bereits ohne ausreichende Entschädigung enteignet worden.

Nach Ansicht der „Erklärung von Bern“ (EvB), die vor Ort war, ignorieren die türkische Behörden nicht nur alle Ratschläge zum Schutz von Menschen, Umwelt und Kultur, sondern würden darüber hinaus ihre europäischen Partner vorsätzlich täuschen, da für 65.000 Menschen bisher kein neues Acker- und Wohnland gefunden wurde und nur unzureichende Entschädigungen gezahlt würden, „dies erfülle den Tatbestand der Vertreibung“, stellte die EvB-Expertin Christine Eberlein fest. Deshalb müsse die Schweizer Regierung sofort die Ausstiegsklausel der Kreditgarantie aktivieren.

Wie sich Staudämme auf die Umwelt und die Belange der Bevölkerung auswirken, haben bereits Maude Barlow und Tony Clarke in ihrem Buch „Blaues Gold“ (Kunstmann-Verlag 2003, Seite 88) ausführlich beschrieben:

Die künstliche Bewässerung konnte weltweit nur deshalb so enorm zunehmen, weil immer mehr riesige Staudämme gebaut werden. Das Leid, das den betroffenen Menschen mit solchen Großprojekten zugefügt wird, ist ebenso groß wie der Schaden für die Umwelt. Schätzungsweise 60 bis 80 Millionen Menschen wurden weltweit in den vergangenen 60 Jahren wegen des Baus von Staudämmen umgesiedelt. Diese Heerscharen von „Outstees“ (Beraubte, Vertriebene), wie man sie in Indien nennt, wurden ihrer sozialen Gemeinschaften, ihrer Lebensgrundlagen und ihrer angestammten Heimat beraubt, so dass sie nun kulturell, wirtschaftlich und emotional entwurzelt sind – eine Problematik, die dem International Rivers Network nur allzu vertraut ist. Dieser Organisation mit Sitz in den Vereinigten Staaten ist zu verdanken, dass die Vereinten Nationen eine Kommission zur Untersuchung von Staudammprojekten eingesetzt hat. Laut Patrick McCully, einem Mitglied des Netzwerks, erhielten zwangsumgesiedelte Familien oftmals nur eine geringfügige oder überhaupt keine Entschädigung und Millionen ehemals unabhängige Bauernfamilien endeten in den Slums am Rand der wuchernden Großstädte in der Dritten Welt. Und hierbei sind nicht einmal die Millionen Menschen berücksichtigt, die weiterhin in der Nähe der Megastaudämme leben, aber ebenfalls eingeschränkt sind.

Die Wasserpolitik der Türkei
Obwohl das Staudammprojekt nach wie vor in der Kritik steht und nicht vorankommt, plant die türkische Regierung für das Jahr 2009 die Privatisierung einiger Flüsse des Landes. Bereits im August letzten Jahres berichtete die Turkish daily news, dass die türkische Regierung eine Lösung gegen die Wasserknappheit gefunden habe, indem Nutzungsrechte der Gewässer für 49 Jahre an internationale Konzerne verkauft werden (Quelle: Turkish Daily News). Im letzten Jahr war der Verkauf von 12-13 Flüssen im Gespräch, die dem Staat geschätzte 3 Milliarden US-Dollar einbringen sollen. Die Regierung plante eine Ausschreibung und das Unternehmen, welches die Staudämme am günstigen und am schnellsten baut, sollte den Zuschlag erhalten. Der Plan hat jedoch die Frage aufgeworfen, ob es verfassungskonform ist, Allgemeingut zu veräußern. Die Privatisierung soll nicht nur Bau und Betrieb von Kraftwerken umfassen, die als „Beitrag zum Klimaschutz“ propagiert werden, sondern auch die Kommerzialisierung von Wasserwerken beinhalten, womit die Trinkwasserversorgung in den Händen von privaten Investoren läge.

Ungeklärte Zuständigkeiten und Verwirrung über Autoritäten
Turkish daily news berichtete im August 2008, dass die Regierung seit 2007 laufend Konzessionen für Projekte an private Unternehmen vergebe, zu Begründung wurde angegeben, dass damit die wachsenden Energiebedürfnisse der Türkei befriedigt werden sollten. Die Anwohner erfuhren von den Vorhaben erst als Vermessungen im geplanten Staudammgebiet vorgenommen wurden. Als Planierraupen anrückten und Bäume niederwalzten, gingen die Bewohner zum Büro des Gouverneurs und zur lokalen Wasserbehörde. Die Wasserbehörde argumentierte, dass sie lediglich die Machbarkeitsstudie genehmigt habe. Die zentrale Wasserbehörde, die den Vertrag geschlossen hat, sollte die Verantwortung übernehmen. In der Verwirrung über Autoritäten und Zuständigkeiten wusste weder das Ministerium noch die Energieregulierungsbehörde, EPDK, wo die Verantwortungen beginnen und wo sie enden. Tausende Bürger wehren sich mittlerweile gegen die Staudämme, da sie eine Zerstörung ihres Lebensraums befürchten. Darüber hinaus engagieren sich Gewerkschaften, Berufsverbände, linke Parteien, das Sozialforum Türkei und NGOs wie „su politic“ gegen die Wasserprivatisierung. Das Ausmaß der Schlamperei wurde offenkundig, nachdem bekannt wurde, dass das Ministerium vergessen hatte, Durchführungskontrollen vorzusehen.

Als das Ministerium begonnen hatte, den Hinweisen aus der Bevölkerung nachzugehen, stellte sich heraus, dass die privaten Betreiber mit der Ausführung von 726 der insgesamt 1127 Projekte bereits begonnen hatten, was bedeutet, dass es für Proteste in diesen Fällen bereits zu spät war. Selbst das von der UNESCO geschützte Biospährenreservat Macahel wurde zur Vermarktung freigegeben, ebenfalls das geschützte Paparttal, obwohl das Wasser in trockenen Sommer nur für einen Teil der dort ansässigen Menschen reicht. Die betroffenen Bürger der Regionen haben bereits Klage eingereicht und weisen in Protestversammlungen darauf hin, dass die Täler durch die Staudämme ausgetrocknet werden.

Nichtsdestotrotz halten die Behörden an ihrer Überzeugung fest, dass kleine Dämme der Natur nicht schaden. In den Machbarkeitsstudien wurde festgestellt, dass dem Lebensraum nach dem Staudammprojekt genügend Wasser bliebe, um zu überleben, aber es wurde nicht festgestellt, wie viel Wasser überhaupt vorhanden ist. Wissenschaftler, die von der Widerstandsbewegung mit der Prüfung der Sachlage beauftragt wurden, kamen jedoch zu dem Ergebnis, dass die Kraftwerke das natürliche Gleichgewicht stören werden. Ein Beamter, der seinen Namen nicht nennen wollte, äußerte die Befürchtung, dass diese Projekte Wasserkriege verursachen können. Wenn Flussläufe trocken fallen, weil die Kraftwerksbetreiber das Wasser bereits an der Quelle auffangen und der Natur und den Anwohnern komplett entziehen. Die Betreiber werben mit Arbeitsplätzen, was jedoch nur für die Bauzeit gilt, nach der Fertigstellung der Staudämme haben die Menschen weder Arbeit noch Wasser. (Quelle: Turkish Daily News).

Des Weiteren planen international agierende Investoren bis zum Jahr 2011, im Rahmen des GAP-Projekts (Güneydoğu Anadolu Projesi in Südostanatolien), zudem auch der Ilisu-Staudamm gehört, weitere Dämme und Wasserkraftwerke in den Provinzen Siirt (Ostanatolien) und Bitlis (Anatolien) zu realisieren. Jedes der geplanten Kraftwerke umfasst ein Investitionsvolumen von 400 Millionen US Dollar. (Quelle: Turkish Daily News).

Parallelen zum Blaumilchkanal
In Ephraim Kishon’s Satire „Blaumilchkanal“, steht Kasimir Blaumilch, im Mittelpunkt der Geschichte. Blaumilch, ein aus der Psychiatrie geflohener Geisteskranker, reißt mit einem Presslufthammer die wichtigste Hauptverkehrsstraße in Tel Aviv auf. Die Anwohner beschweren sich bei der Behörde über den ununterbrochenen Lärm, die in infolgedessen eine umfangreiche, jedoch ergebnislose Ursachenforschung in die Wege leitet. Die Beteiligten der Stadtverwaltung und des Bauministeriums schieben sich gegenseitig den Schwarzen Peter zu. Letztendlich landet die Angelegenheit vor dem Gericht, das die Peinlichkeit so schnell wie möglich beenden will und einen Bautrupp zur Baustelle abkommandiert. Während der gerichtlichen Auseinandersetzung erreicht Blaumilch mit seinem Presslufthammer jedoch das Meer und die Wassermassen strömen in die Stadt. Um noch einen eleganten Ausweg aus der Misere zu finden, eröffnet der Bürgermeister den neuen Innenstadtkanal und preist Tel Aviv als “Venedig des Nahen Ostens”, damit ist für alle eine akzeptable Lösung gefunden. Benzion Ziegler durchschaut als einziger den absurden Hintergrund der Bauarbeiten, weil aber die Bürger der Stadt vor Begeisterung über den Kanal blind sind, glaubt ihm niemand und er wird in die Psychiatrie eingeliefert. Blaumilch hingegen verschwindet unerkannt. Die Geschichte vom Blaumilchkanal erinnert an die beschriebenen Staudammprojekte, Beamte haben keine Ahnung, Bürger werden nicht informiert und beschweren sich, Zuständigkeiten sind nicht geklärt und die Behörden schieben sich gegenseitig den Schwarzen Peter zu.

Die Forderung der EvB an die beteiligten Unternehmen und Institutionen, Großstaudämme nur dann zu bauen, wenn sie das Wohlergehen der betroffenen Menschen nachhaltig verbessern und Rücksicht auf die Erhaltung der biologischen und kulturellen Vielfalt genommen wird, knüpft an die Empfehlungen der Weltstaudammkommission an, die einen konstruktiven und innovativen Weg zur Entscheidungsfindung auf Basis der fünf folgenden Grundwerte entwickelt hat: Effizienz, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, partizipative Entscheidungsfindung und Rechenschaftspflicht. Diesen Empfehlungen ist nichts hinzuzufügen, es bleibt nun die Frage offen, welche unabhängige Institution die Empfehlungen weltweit zu zwingenden Auflagen erklären und deren Einhaltung überprüfen und kontrollieren soll. Und vor allem bleibt die Frage, wer die Kreditgeber dazu zwingen kann, bei Nichteinhaltung ihre Kredite zu sperren.

Den Geld scheint das einzige Druckmittel zu sein, auf das die türkischen Behörden reagieren.

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