Der kurze Frühling der Anarchie – Zu Simon Schaupps „Tagebuch der bayerischen Revolution“

Götz Eisenberg
Ein Artikel von Götz Eisenberg

Wann immer in den letzten Wochen der Sondierungsgespräche und Koalitionsverhandlungen der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer zu sehen war, der in der geplanten neuen „GroKo“-Regierung Minister für Inneres, Bauen und Heimat werden soll, dachte ich: „Weiß der Seehofer überhaupt, wem er dieses Amt verdankt und auf wessen Schultern er steht?“ Der Freistaat Bayern und das Amt seines Ministerpräsidenten sind Früchte der Revolution von 1918. Am 8. November vor 100 Jahren wählte der spontan entstandene Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrat Kurt Eisner zum ersten Ministerpräsidenten des Freistaats Bayern, nachdem man am Tag zuvor die 738 Jahre währende Wittelsbacher Dynastie gestürzt und die Bayerische Republik proklamiert hatte. Eisner würde sich im Grabe rumdrehen, wenn er erführe, in wessen Hände sein Erbe gefallen ist. Der Umschwung zum Konservativ-Reaktionären deutete sich allerdings schon zu seinen Lebzeiten an, als im Januar 1919 die Bayerische Volkspartei, die Vorläuferin der CSU, als stärkste Kraft aus den Landtagswahlen hervorging. Herbert Achternbusch hat das widersprüchliche Verhalten seiner Landsleute einmal mit den Worten zu beschreiben versucht: „Die Bayern sind Anarchisten, von denen 60 Prozent die CSU wählen.“
Von Götz Eisenberg.

Simon Schaupp - Der kurze Frühling der Räterepublik -Ein Tagebuch der bayerischen Revolution

Simon Schaupp
Der kurze Frühling der Räterepublik
Ein Tagebuch der bayerischen Revolution
ISBN 978-3-89771-248-5

Als Tankred Dorst zum 50. Jahrestag der Revolution in Bayern ein Theaterstück schrieb und parallel dazu ein Suhrkamp-Bändchen mit dem Titel „Die Münchner Räterepublik“ herausgab, hieß es im Nachwort des Historikers Helmut Neubauer: „Die Geschehnisse in Bayern vom November 1918 bis zum Mai 1919 warten noch auf ihren Geschichtsschreiber.“ Zum 100. Jahrestag haben sie ihn gefunden. Im Dezember 2017 erschien im Münsteraner Unrast-Verlag das Buch des Soziologen Simon Schaupp Der Kurze Frühling der Räterepublik. Schaupp hat seinem Buch die Form eines Tagebuchs gegeben, das es uns ermöglicht, die Geschichte der bayerischen Revolution chronologisch und aus der Perspektive dreier Menschen zu erleben, die in das Geschehen involviert waren und es mitgestaltet und dann auch erlitten haben. Sie repräsentieren gleichzeitig die drei wichtigsten Strömungen der revolutionären Linken in jenen Tagen: Ernst Toller steht für den radikalen Sozialismus der USPD, die (typischerweise) weitgehend unbekannte Hilde Kramer für die neu gegründete KPD, deren Münchner Ortsgruppe sich am 6. Januar 1919 konstituierte, und Erich Mühsam für den Anarchismus, der nur in der bayerischen Revolution eine nennenswerte Rolle spielte und phasenweise einen großen Einfluss ausübte.

Schaupps Herangehensweise steht in der Tradition einer Geschichtsschreibung „von unten“. Traditionell wurde und wird Geschichte aus der Perspektive der Sieger und der Herrschenden geschrieben, Schaupp schlägt sich auf die Seite der Beherrschten und der Verlierer. Er nähert sich seinem Thema nicht mit der Neutralität eines akademischen Historikers und mit als Objektivität getarnter Standpunktlosigkeit. Schaupp legt die akademische Krawatte ab, wenn er denn überhaupt über eine solche verfügt, und verzichtet auf die im Wissenschaftsbetrieb üblichen Stoßdämpfer. Er ergreift Partei für die Anliegen der RevolutionärInnen. Sein Buch liefert einen Beleg dafür, dass sich das Wesen von emanzipatorischen Bewegungen letztlich nur dem erschließt, der auf die reale Möglichkeit menschlicher Emanzipation setzt. Schaupps Kaleidoskop der bayerischen Revolution stützt sich auf Briefe, Notizen, Texte und Tagebucheintragungen der Akteur/innen. Schaupp lässt uns auf diese Weise teilnehmen an deren Hoffnungen, Sehnsüchten, Befürchtungen und schließlich auch an ihrer Verzweiflung, die auf das Scheitern und die blutige Niederwerfung der Räterepublik folgte. Schaupps Anliegen: Er möchte verhindern, dass „die Möglichkeit des radikal Anderen, für die die Bayerische Räterepublik zweifellos steht“, der Vergessenheit anheimfällt. Es mag sein, merkt der Autor bescheiden an, dass sein Buch wenig neue historische Fakten zutage fördert. Diese Ehre komme zum Beispiel der Studie von Michael Seligmann: „Aufstand der Räte“ zu. Schaupps großes Verdienst liegt in der Art und Weise, wie er den Stoff aufbereitet und präsentiert. Das Kollage- und Tagebuchartige macht sein Buch gut lesbar und, wenn dieser Begriff in diesem Zusammenhang erlaubt ist, spannend. Darf ein Buch über eine Revolution nicht spannend sein? Ich würde so weit gehen zu behaupten: Ein Buch über eine Revolution, das nicht spannend ist, taugt nichts. Nicht umsonst hat ein anarchistischer Abenteurer wie Ret Marut als Presse-Kommissar am bayerischen Umsturz mitgewirkt. Ganz im Sinne seines Freundes Landauer verfasste Marut einen Aufruf, in dem es hieß:

„Proletarier! Die Presse ist überreif für die Sozialisierung, sie muss befreit werden vom Unternehmer, der Profit machen will. Die Presse muss so frei von Unternehmergewinnen werden wie die Schule. An der Tätigkeit, Wissen und Aufklärung zu verbreiten im Volke, soll kein Kapitalist Geld verdienen. Die Presse soll ein Kulturträger sein und kein Geschäft. Sie soll der Menschheit dienen und nicht der Lüge und Verhetzung. Wahrheitskünderin soll sie sein in den Händen ehrenhafter Geistesarbeiter. Revolutionäre Proletarier, schafft euch diese Presse!“

In vielen Gesprächen, die ich in den letzten Wochen im Kontext der Aufführung des Theaterstücks „Hoppla, wir leben!“ von Ernst Toller am Gießener Stadttheater geführt habe, ist mir klargeworden, dass die Ereignisse in Bayern bereits weitgehend in Vergessenheit geraten sind. Die Geschichte der Bayerischen Räterepublik ist auch vielen politisch Interessierten unbekannt und gehört zu den geschichtlichen Ereignissen, die aus der offiziellen Geschichte herausgeschwiegen worden sind. Sie ist ein Teil dessen, was Oskar Negt „unterschlagene Wirklichkeit“ genannt hat. „Erzähl uns mal etwas darüber“, wurde ich aufgefordert. Künftig werde ich die Leute auf das Buch von Simon Schaupp verweisen.

Schriftsteller und Intellektuelle wie Mühsam, Toller und Landauer, auf diese Feststellung legt Schaupp Wert, hätten die Revolution nicht herbeischreiben können. Die Überschätzung der Rolle der Künstler, Literaten und Bohemiens ist eine Schwäche des beinahe zeitgleich erschienenen Buchs von Volker Weidermann, das „Träumer – Als die Dichter die Macht übernahmen“ betitelt ist. Bei ihm erscheint die Räterepublik als eine karnevalesk-theatrale Inszenierung von Tagträumern, die ihr Leben in Schwabinger Cafés zubrachten und von Hölderlin und Whitman schwärmten. Der Hauptunterschied der auf den ersten Blick sehr ähnlich angelegten Bücher: Weidermanns Zugang ist primär ein ästhetischer; er ist fasziniert von der Idee einer Machteroberung durch die Kunst und die Dichter. Schaupps Zugang ist ein politischer. Er entmystifiziert die Legende, es handele sich bei der bayerischen Revolution „ausschließlich um eine Phantasie von Münchner Kaffeehaus-Intellektuellen“ und zeigt, dass die revolutionären Intellektuellen sich auf eine Massenbasis von kämpfenden Arbeiterinnen und Arbeitern stützten, die sich in dem, was die Literaten sagten, wiedererkannten. Diese brachten zum Ausdruck, was die Massen fühlten und dachten. Es gehört zu den Qualitäten einer revolutionären Leitfigur, imstande zu sein, auch die stummen Zeichen zu verstehen und sie sprachlich zu artikulieren. In Kurt Eisner besaß die erste Phase der bayerischen Revolution eine solche Figur. Mit seiner Ermordung durch den Jurastudenten und Präfaschisten Graf Arco zu Valley am 21. Februar 1919 endet die heroische Phase der Bayerischen Revolution. Ab jetzt geriet sie in gefährliches Fahrwasser.

Schaupp unterteilt das Geschehen in Bayern und München in fünf Phasen, die auch das Gliederungsprinzip seines Buches abgeben. Phase eins waren die sogenannten Januarstreiks im Januar 1918, in denen sich das Kommende anbahnt. Phase zwei wurde durch die Ereignisse im November bestimmt. Es entstand eine Art von Doppelherrschaft, die an die Zeit zwischen der Februar- und der Oktoberrevolution in Russland erinnerte. Die Träger des revolutionären Prozesses waren die in Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräten organisierten Massen, die auf eine Ausrufung der Rätedemokratie drängten. Auf der anderen Seite existierten die Institutionen einer bürgerlich-parlamentarischen Demokratie, auf die die alten Eliten und die Mehrheitssozialdemokratie eingeschworen waren. Zwischen diesen beiden Polen der Doppelherrschaft bestand kein ruhiges Gleichgewicht und der Konflikt musste eines Tages ausgetragen werden. In Phase drei versucht eine Gruppe von anarchistischen Revolutionären um Erich Mühsam und Gustav Landauer am 7. April 1919 die Errichtung einer reinen Räterepublik. Bereits eine Woche später unternimmt die nach Bamberg geflohene offizielle Regierung unter Führung des Mehrheitssozialdemokraten Hoffmann einen Putschversuch, den die bewaffneten Arbeiter binnen weniger Stunden niederschlagen können. Das nehmen die Kommunisten, die die Mitarbeit an der Räterepublik zunächst abgelehnt hatten, zum Anlass, die in ihren Augen unfähigen „Phantasten und Träumer“ abzulösen und eine Räterepublik unter Führung der KPD auszurufen. Diese vierte Phase dauert bis Ende April. Am 1. Mai rücken die von Reichswehrminister Noske in Gang gesetzten konterrevolutionären Truppen in München ein und ertränken das Projekt einer Räterepublik in Strömen von Blut. Der „Weiße Terror“ markiert die fünfte Phase in Schaupps Einteilung. Bayern wurde in der folgenden Zeit eine Hochburg konservativer und nationalistischer Kräfte und galt als „Ordnungszelle des Reiches“. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert.

Erich Mühsam verfolgte den „Weißen Terror“ aus seiner Zelle im Zuchthaus Ebrach heraus und notierte:

„Man blickt im Geiste um sich: lauter Tote, lauter Ermordete – es ist grauenhaft. … Das ist die Revolution, der ich entgegengejauchzt habe. Nach einem halben Jahr ein Bluttümpel: mir graut.“

Erich Mühsam blieben noch 15 Jahre, ehe die Nazis ihn im KZ Oranienburg in einem Abort strangulierten.

Eingangs seines Buches stellt Simon Schaupp die Frage: Wie kommt es, dass München (und Bayern) 1918/19 die einzige zumindest temporär erfolgreiche Revolution hervorbringt und wenige Jahre später zum Geburtsort der Nazi-Bewegung und zur „Hauptstadt der Bewegung“ wird? Schaupp beschreibt, wie das geschehen ist, das Warum bleibt weitgehend ungeklärt und vage. Das ist kein Vorwurf an das Buch, das ich gar nicht genug loben kann, sondern eine Aufforderung an uns, dieser Frage über das Ende des Buches hinaus nachzugehen. Was kann man Besseres über ein Buch sagen, als dass es seine Leser/innen zum weiteren Nachdenken anregt? Schaupps Buch ist bestens dafür geeignet, in den Unterricht an Schulen und Universitäten Eingang zu finden. Alle Landes- und Bundeszentralen für politische Bildung sollten es schleunigst ins Programm nehmen und für seine Verbreitung sorgen.

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