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Agenda 2010

Streiken macht sich bezahlt

Kaum nutzen die Lokführer und die Piloten mal ihr Streikrecht, schon ist Deutschland in heller Aufregung. „Wird Deutschland zum Streikland?“ fragt die ARD und liefert die Antwort gleich tendenziös mit. Um das zaghafte Aufflammen des Kampfwillens der Arbeitnehmer im Keim zu ersticken, bastelt die Bundesregierung derweil bereits am „Tarifeinheitsgesetz“. Wenn man sich jedoch einmal die Zahlen anschaut, stellt man schnell fest, dass in kaum einem anderen Industrieland so wenig gestreikt wird, wie in Deutschland. Und dies ist volkswirtschaftlich kein Segen, sondern ein Fluch. Von Jens Berger

Arbeitskräftemangel in der Zukunft? (Teil II)

In Teil I wurde dargestellt, wie aus einem rechnerischen Minus von 34 Prozent der 20- bis 65-Jährigen bis zum Jahr 2060 durch das Mitbedenken von ein paar schlichten Tatsachen ein jährliches Absinken von 0,23 Prozent wird.

Warum macht man diese dramatisierenden Zahlenspiele?

Natürlich wissen die Schöpfer der demografischen Horrorszenarien selbst, dass sie weder 50 Jahre in die Zukunft blicken können[1], noch dass Ihre Daten wirklich Anlass zur Panik bieten. Sie benutzen die Zahlen lediglich, um die Öffentlichkeit in ihrem Sinne zu manipulieren – kein wirklich seltenes Phänomen in unserer Republik[2]. Nur mithilfe des Demografie-Hammers war es möglich, den massiven Einstieg in die private Absicherung für das Alter durchzusetzen. Hauptgewinner dieser Strategie waren bekanntlich die Versicherungen und die Arbeitgeber, die mit diesem Einstieg eine Deckelung ihres Beitrages für die gesetzliche Rente erreichen konnten. Immerhin wurde für die Sicherung von Milliardengewinnen schon Schlimmeres getan, als harmlose Bevölkerungsdaten zu einem Instrument für dramatisierende Gedankenspiele umzufunktionieren. Von Klaus Bingler und Gerd Bosbach.

Arbeitskräftemangel in der Zukunft? (Teil I)

Über statistische Taschenspielertricks (oder Denkfehler) in der Demografie-Debatte und die „Demografisierung“ einer sozialpolitischen Diskussion
Demografische Gedankenspiele haben seit Beginn des neuen Jahrtausends Hochkonjunktur. Dabei wird vor allem die Angst vor der Alterung der Gesellschaft bewusst instrumentalisiert, um den Sozialstaat „umzubauen“ oder, wie gerne formuliert wird, „an die veränderten demografischen Bedingungen anzupassen“. Das schlägt sich in sinkenden realen Renten, längeren Wochen- und Lebensarbeitszeiten für Beschäftigte sowie einer zunehmenden privaten Vorsorge für Krankheit und Alter nieder. Sogar die Schuldenbremse wird häufig demografisch begründet.
Auch zurzeit wird wieder Angst geschürt. Diesmal nicht vor den vielen Alten, sondern vor einer Zukunft, in der es angeblich zu wenige Arbeitskräfte gebe, um unsere Volkswirtschaft aufrecht zu erhalten. Von Klaus Bingler und Gerd Bosbach.

Nachdenken über Deutschland – Arbeit 4.0 von Frank Bsirske

Für „Das kritische Jahrbuch 2014/2015 – Nachdenken über Deutschland“ schrieb der Vorsitzender der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di), Frank Bsirske, einen einleitenden Gastbeitrag über die digitale Revolution in der industriellen Produktion des 21. Jahrhunderts.
Die Metapher „Industrie 4.0“ weist auf einen tiefgreifenden Umbruch in der Arbeitswelt hin. Die Digitalisierung der Arbeit durchdringt dabei alle Dimensionen moderner Arbeit: Die Produktions-, die Dienstleistungs- und die Wissensarbeit. Während die Aufmerksamkeit von Wirtschaft und Politik sich vor allem auf die Herausforderungen in der Produktionsarbeit konzentrieren, wird nur allzu leicht die Dynamik in der Digitalisierung von Dienstleistungen und Dienstleistungsarbeit übersehen, die bereits heute gravierende Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft hat.

Schon heute werden rund 70 Prozent der Bruttowertschöpfung in den Dienstleistungsbranchen erarbeitet und mehr als 70 Prozent aller Erwerbstätigen sind mit Dienstleistungen beschäftigt. Zugleich ist der Anteil der durch Digitalisierung erzeugten Wertschöpfung im Dienstleistungsbereich auf ein Drittel der gesamten Wertschöpfung angewachsen – Tendenz steigend…

Übrigens „Das kritische Jahrbuch 2014/2015 – Nachdenken über Deutschland“ ist auch ein schönes Weihnachtsgeschenk für nachdenkliche Leserinnen und Leser oder für Menschen, denen Sie einen Denkanstoß geben möchten.

Zum einleitenden Gastbeitrag von Frank Bsirske: Arbeit 4.0

Eine andere Republik – Hartz IV und die Folgen

Der frühere Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement hat das im Volksmund als „Hartz IV“ bezeichnete Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt seinerzeit die „Mutter aller Reformen“ genannt. Tatsächlich hat sich Deutschland in den zehn Jahren seit Einführung der Arbeitsmarktreform am 1. Januar 2005 tiefgreifend gewandelt: Sowohl die von dem Gesetzespaket unmittelbar Betroffenen wie auch ihre Angehörigen und die mit ihnen in einer „Bedarfsgemeinschaft“ zusammenlebenden Personen werden stigmatisiert, sozial ausgegrenzt und isoliert. Auch für alle übrigen Gesellschaftsmitglieder hat sich die soziale Fallhöhe durch Hartz IV erheblich vergrößert, weshalb die Furcht vor dem materiellen Absturz sogar in der Mittelschicht um sich greift. Die mit den Hartz-Reformen in Gang gesetzte soziale Abwärtsspirale erschwert den normalen Alltag vieler Durchschnittsbürger/innen, beeinträchtigt jedoch auch deren aufrechten Gang. Von Christoph Butterwegge.

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Jahresgutachten des „Sachverständigenrats“: „Wirtschaftswissenschaft“ als Arbeitgeberpropaganda

“Es ist nicht ganz trivial zu verstehen, wie ein Beschluss, der noch nicht in Kraft ist, jetzt schon die konjunkturelle Dämpfung hervorrufen kann” sagte gestern Angela Merkel. Selbst die Kanzlerin kann auf das Jahresgutachten 2014/14 des Sachverständigenrats nur noch mit Spott reagieren. Da werden über 400 Seiten vollgeschrieben und am Ende kommen die „Wirtschaftsweisen“ zu dem Ergebnis, dass die von der deutschen Politik zu verantwortenden Hauptursachen für die „wirtschaftliche Eintrübung“ die abschlagfreie Rente ab 63, die Ausweitung der Mütterrente und der noch gar nicht eingeführte Mindestlohn seien. Um zu diesem Befund zu kommen, hätte es auch gereicht die Pressestellen der Arbeitgeberverbände, Herrn Henkel von der AfD oder die professoralen Botschafter der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) anzurufen.
Da ist die Wirtschaft durch den Glauben an die „Märkte“ weltweit an die Wand gefahren, das hindert den „Sachverständigenrat“ nicht, als Titel für sein Jahresgutachten „Mehr Vertrauen in Marktprozesse“ zu wählen. Das Credo der Mehrheit dieser „Ökonomen“ scheint zu sein: „Umso schlimmer für die Wirklichkeit, wenn sie unserer Ideologie“ nicht folgt. Von Wolfgang Lieb.

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Das Dilemma mit der Pflege im Alter und der Finanzierung der Pflegedienste

Der Klassiker: Die Oma stürzt und bricht sich dabei den Oberschenkelhals. Ein Vorfall, wie er jedes Jahr tausendfach über Familien hereinbricht, die mit Beruf und Ausbildung der Kinder schon bis an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit belastet sind. Wer jetzt nicht kurzen Prozess machen kann oder will und die Oma ins Heim verfrachtet, steht vor dem Problem, dass eine häusliche Pflege von den Familienmitgliedern allein auch bei bestem Willen praktisch nicht zu leisten ist. Dies gilt erst recht, wenn zur körperlichen Gebrechlichkeit noch der geistige Verfall durch Demenz hinzu kommt. In dem Augenblick kommt dann ganz schnell der Wunsch nach einem ambulanten Pflegedienst, der hier helfen könnte. Am Besten sofort oder zumindest noch am gleichen Tag. Es sollte doch möglich sein, dass die häusliche Pflege kurzfristig von einem Pflegedienst übernommen wird. Und dann wundert man sich, dass es nicht so schnell geht, weil keiner der Pflegedienste ad-hoc über freie Kräfte verfügt. Dies hat viel mit äußerst knappen Budgets, steigenden Kosten und somit fehlenden Spielräumen zu tun. Von Christoph Jehle[*]

Die Bundesregierung verursacht „Millionenschäden“

Nachdem die 4-tägigen Streikpläne der GDL am Donnerstag und Freitag letzter Woche durch zwei Instanzen der hessischen Arbeitsgerichtsbarkeit für rechtmäßig erklärt worden waren, hat die GDL ihre Arbeitsniederlegung als Zeichen der Deeskalation vorzeitig beendet. Zum Ende des Streiks erklärte der Vorsitzende der GDL, Claus Weselsky seine Bereitschaft, mit der deutschen Bahn AG und zeit- und ortsgleich wie die EVG, aber eigenständig, über den Abschluss eines Tarifvertrages für das gewerkschaftliche organisierte Betriebspersonal, zu verhandeln. Er warte nun auf eine entsprechende Einladung der Bahn AG. Damit wiederholt Weselsky offenbar einen Vorschlag, den er bereits am vergangenen Donnerstag vor dem Arbeitsgericht Frankfurt unterbreitet hatte, der jedoch von der Bahn AG abgelehnt wurde. Von Erik Jochem.

Worum geht es im GDL-Streik eigentlich?

Einige Leser haben uns gestern geschrieben, dass sie trotz der beiden Artikel „Ich bin ein GDL-Versteher!“ und „Aus den Zeilen tropft Hass“ immer noch nicht richtig verstanden haben, für was die GDL eigentlich streikt. In einigen Fällen kam dabei auch der aus den Medien bekannte Begriff „Machtkampf“ vor. Um hier ein wenig mehr Klarheit zu schaffen, versuche ich zunächst mit eigenen Worten noch einmal den Hintergrund zu erläutern. Als Anhang veröffentlichen wir dazu noch eine Zuschrift unseres Lesers Erik Jochem, in der das komplexe Thema allgemeinverständlich erklärt wird. Von Jens Berger

Bahnstreik – Ich bin ein GDL-Versteher!

Die Lokomotivführergewerkschaft GDL hat es in diesen Tagen nicht eben leicht. Ihr Vorsitzender Claus Weselsky wird in den Medien als eine Art Atilla der Lokführerkönig dargestellt, während der Streik der Eisenbahner in der veröffentlichten Meinung zum Untergang des Abendlandes hochgeschrieben wird. Hinter den Kulissen wurde zur heiligen Hetzjagd auf das Gespenst der Lokführergewerkschaft geblasen – beteiligt ist neben der Deutschen Bahn AG, den Medien und der SPD auch die DGB-Gewerkschaft EVG, die im offenen Clinch mit der GDL liegt. Dabei hat die GDL allen Grund, der EVG ein wenig Konkurrenz zu machen. Die EVG und vor allem deren Vorgängerin Transnet ist nämlich nicht gerade ein Ruhmesblatt für die Geschichte der Gewerkschaften in Deutschland. Von Jens Berger.

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Klassenkampf 2.0

Auch der Kabarettist Georg Schramm zitiert ihn gern: Warren Buffet, den drittreichsten Menschen der Welt. Denn er sagte einmal: „Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen.” Auch wenn Krieg aktuell jedoch immer öfter zum Thema wird: Von Klassenkampf oder -analyse will heute kaum mehr wer etwas wissen. Da sind es dann dumme oder korrupte Regierungen, die sich den falschen Theorien verschrieben oder Herren angedient haben, da kritisieren Konservative ggf. „Verschwörungen“ gegen das Volk oder sprechen Marxisten vom „stummen Zwang der gesellschaftlichen Verhältnisse“. Dass die herrschenden Verhältnisse, die seit vielen Jahren auch in Deutschland durch massiven Sozialabbau – also den Kampf gegen Arme statt etwa Armut – gekennzeichnet sind, jedoch auch Profiteure und konkret Agierende kennen, deren „Geschäft“ das Elend der anderen ist, gerät dabei schnell aus dem Blick. Zu eben diesen, zur Praxis des „Klassenkampfes“ in Deutschland also, sprach Jens Wernicke mit Werner Rügemer, Co-Autor des soeben bei PapyRossa erschienenen Buches „Die Fertigmacher: Arbeitsunrecht und professionelle Gewerkschaftsbekämpfung“.

Minijobs: 30 Jahre falsche Beschäftigungspolitik und eine fatale Weichenstellung

„Zahl der Minijobber hat sich verdoppelt“, so titelte Der Tagesspiegel und mit ihm eine Reihe anderer Zeitungen am vergangenen Freitag. Gemeint war, das Ende 2013 rund 2,35 Millionen Menschen einem Minijob als zusätzlichem Nebenjob nachgegangen waren, doppelt so viele wie vor zehn Jahren. Die Zahl der insgesamt geringfügig Beschäftigten habe im Dezember 2013 bei knapp 7,65 Millionen gelegen. Die vorab veröffentlichten Zahlen stammen aus einer noch nicht allgemein zugänglichen Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage der Grünen zur Entwicklung der geringfügigen Beschäftigung.

Was für ein Aufreger. Als wären die Minijobs plötzlich wie Pilze aus dem Boden geschossen. Dabei ist die geringfügige Beschäftigung nicht erst seit heute die nach der Teilzeitbeschäftigung am weitesten verbreitete „atypische“ Beschäftigungsform in Deutschland. Von Markus Krüsemann.

Leserbriefe zum Lokführerstreik und dem NDS-Eintrag vom 21.10.14

Auf unseren Eintrag kamen viele kritische Leserbriefe und einige zustimmende. Wenn mit dem Eintrag vom 21.10 der Eindruck entstanden ist, die NDS würden am Sinn von Streiks im Allgemeinen und dem Lokführerstreik im Besonderen zweifeln, dann tut mir das leid. Mit Recht weisen einige Leserbriefschreiber/innen darauf hin, dass sich eine solche Einstellung auch nicht mit unserer Dauerwerbung für höhere Löhne vertrüge. Albrecht Müller.

Gezeter über den Mindestlohn

Schon lange vor der Verabschiedung des inzwischen beschlossenen, in der geplanten Umsetzung allerdings reichlich löchrigen, „allgemeinen“, gesetzlichen Mindestlohns verging kaum ein Tag, an dem nicht ein Wirtschaftslobbyist oder Politiker lauthals die angeblichen Folgen des Mindestlohns anprangerte: „Mindestlohn kostet Hunderttausende Arbeitsplätze!“, „Arbeitsplätze durch Mindestlohn in Gefahr!“, Mindestlohn vernichtet Arbeitsplätze!“. Diese medienübergreifend teils sogar wortidentisch formulierten Schlagzeilen durchziehen regelmäßig die Aufmacher fast aller großen Medien und erzeugen so den Eindruck, dass es sich bei diesem Szenario um eine unwidersprochene und unumstößliche Wahrheit handeln würde. Doch es ist vielmehr nur das beständige, öffentliche Wiederkäuen von Phrasen, die nicht nur durch schon angefertigte Studien nicht empirisch belegt werden können, sondern die auch verschiedene makroökonomische Logiken und Zusammenhänge außer Acht lassen. Von Lutz Hausstein[*].

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