Ein Russland-Forscher von besonderem Format – Nachruf auf Kai Ehlers

Ein Russland-Forscher von besonderem Format – Nachruf auf Kai Ehlers

Ein Russland-Forscher von besonderem Format – Nachruf auf Kai Ehlers

Ulrich Heyden
Ein Artikel von Ulrich Heyden

Am 22. Juni ist Kai Ehlers in Hamburg verstorben. Er war ein – vor allem in alternativen Kreisen – bekannter Russland-Forscher, Buchautor und Journalist[1]. Ehlers bereiste Russland seit 1989 auf eigene Faust. Er schrieb darüber, was der deutsche Mainstream überging, den Alltag der Russen, ihre Werte, Traditionen und Hoffnungen. Ehlers schrieb auch über die russischen politischen Ränder – links und rechts – sowie über Russlands Sicht auf den Westen. Seine Reisen finanzierte er mit Büchern, Radio-Features und Vorträgen. Auch die NachDenkSeiten veröffentlichten Beiträge von ihm. Ein Nachruf von Ulrich Heyden (Moskau).

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Ehlers reiste nicht ausgestattet mit Geld und Weisungen eines deutschen Verlages oder einer deutschen Uni durch Russland. Er probierte es auf eigene Faust und hatte Erfolg. Er lernte Russisch und fragte sich von einem Kontakt zum nächsten durch. Innerhalb von fast 40 Jahren bereiste er zahlreiche Regionen Russlands.

In den 1990er-Jahren begann der Journalist, Features für den Norddeutschen Rundfunk zu produzieren. Die Nachfrage nach authentischen Geschichten aus Russland war damals riesig. In allen Medienberichten schwang die bedrohliche Frage mit: Wird Russland angesichts des Chaos, welches während der Einführung der Marktwirtschaft herrschte, „zurück“ in den Kommunismus „fallen“, oder werden gar Ultrarechte die Macht erobern?

Ehlers hatte seinen eigenen Kopf. Er baute zwar in alternativen Kreisen in Hamburg seit den 1990er-Jahren verschiedene Diskussionszirkel auf, war aber mit niemandem eng. Alle seine Bücher erschienen bei verschiedenen Verlagen.

Kriegskind

Ehlers war ein Kriegskind. Er wurde 1944 in Brüx (bei Prag) geboren. Als er aufwuchs, war der Krieg schon vorbei, aber in den Köpfen der Mitmenschen waren Krieg und Faschismus noch in der einen oder anderen Form präsent.

Nach dem Abitur studierte er Germanistik, Publizistik und Theaterwissenschaft in Göttingen und ab 1967 in Berlin. Dort lebte er eine Zeit lang in der „Kommune 1“. Die linksorientierte Jugend demonstrierte damals gegen Notstandsgesetze und für Solidarität mit dem Volk von Vietnam. Viele Jugendliche – auch Ehlers – wollten neue, selbstbestimmte, nicht-patriarchale Lebensformen ausprobieren.

Nach den ersten Experimenten fand er den Weg zur organisierten politischen Arbeit. Von den 1970ern bis Ende der 1980er-Jahre gehörte er zum Leitungsgremium des Kommunistischen Bundes (KB). Ehlers leitete die Antifa-Kommission des KB, welche sich mit Untersuchungen über staatliche Repression, Neonazis und deren Ideologie beschäftigte. Nach Meinung des Kommunistischen Bundes gab es in der Bundesrepublik Deutschland eine schrittweise Faschisierung, welche die Herrschenden betrieben – nicht aus Angst vor der Opposition, sondern präventiv.

Als der KB sich 1991 auflöste, begann Ehlers, als freier Journalist und Publizist zu arbeiten. Seine politische Vergangenheit verschwieg er – wie andere „68er“ – nicht. Dazu war er in der linken Szene zu bekannt. Auch widersprachen Anpasserei und Wegducken seinen Prinzipien.

Russland von innen

Als freier Journalist stieg Ehlers bei einem der brennendsten Themen ein, das es Ende der 1980er-Jahre gab: die Auflösungstendenzen der Sowjetunion beziehungsweise Russlands. Während die deutschen Mainstream-Medien nur interessierte, wer in Russland gewinnt – Boris Jelzin, Michail Gorbatschow oder russische Ultranationalisten –, interessierte Ehlers vor allem, was die einfachen Russen umtreibt, welche Erfahrungen, Traditionen und Vorstellungen von der Zukunft sie haben.

Ehlers begann seine journalistische und schriftstellerische Arbeit in Leningrad, heute St. Petersburg. Dorthin war er als Teilnehmer einer Gruppenreise des CVJM gefahren. Später schlug er sich dann nach Tschuwaschien an der Wolga durch, wo er sich mit dem Leiter des Tschuwaschischen Kulturzentrums anfreundete.

Es drängte ihn weiter nach Osten. Er begleitete eine Gruppe von Psychologen bei ihren Arbeitseinsätzen in Sibirien. Schließlich reiste er in die Mongolei, weil man Eurasien nur verstehen kann, wenn man auch in der Mongolei war, so Ehlers.

Er war nicht nur Fragensteller und Interview-Sammler, er hatte auch seine eigene politische Werteskala. Demokratisch, sozial, sebstbestimmt und selbstorgansiert standen ganz oben auf dieser Skala.

Feldforschung in Russland

Für einen westdeutschen Linken war das Reisen in die Sowjetunion und Russland in den 1980er- und 1990er-Jahren abenteuerlich. Man kannte zwar die grundlegenden Werke von Lenin, die Reden von Gorbatschow und die kritischer Intellektueller wie der Soziologin Tatjana Saslawskaja, die mit ihrem „Manifest von Nowosibirsk“[2] 1983 einen Anstoß für die Perestroika gab.

Aber man wusste nichts vom realen Leben in Russland, nichts von den Hürden und Freuden des Alltags, nichts von den Sitten, den Beziehungen zwischen Männern und Frauen, der Rolle der Familie, dem Blick auf den „Großen Vaterländischen Krieg“ und die Deutschen.

Die Eingewöhnung in den neuen kulturellen Raum war zwar anstrengend, aber auch sehr belebend, insbesondere, wenn man aus dem mit antikommunistischem Müll übersäten Westdeutschland kam. Kai Ehlers reizte Russland, was zwar oft chaotisch war und Nerven kostete, wo aber die Menschen einen mit Neugier, Offenheit und Herzlichkeit für alle Strapazen entschädigten.

Ehlers suchte – wie man es von seiner Herkunft her hätte vermuten können – nicht zuallererst Kontakt zu russischen Kommunisten. Er suchte interessante Menschen aus allen Gesellschaftsschichten, die ihm Russland erklären konnten.

Oft waren es gebildete Menschen, aber nicht nur. Er führte auch Interviews mit bekannten Sowjetdissidenten wie Walerija Nowodworskaja, die wegen ihrer systemkritischen Haltung in einer psychiatrischen Anstalt gesessen hatte. Er sprach auch mit dem Emporkömmling der neuen liberal-kapitalistischen Klasse, Alfred Koch. Dieser verwaltete Anfang der 1990er-Jahre das staatliche Eigentum von St. Petersburg und später von ganz Russland.

Was waren die Leitgedanken von Ehlers?

Obstschina

Kai Ehlers war davon überzeugt, dass Russland durch seine Tradition der Obstschina – die Selbstverwaltung der dörflichen Gemeinschaften – politische Unruhen und Wirtschaftskrisen überleben kann. Die Obstschina, welche in den 1920er-Jahren durch die Zwangskollektivierung vom Staat „gekapert“ wurde, könne in einer freieren Gesellschaft neu entstehen und zu einer Alternative zum liberal-kapitalistischen Weg werden. Das arbeitete er in seinem Buch „Kartoffeln haben wir immer“ (2010) heraus.

Russland als Alternative

Aufgrund seiner multinationalen Struktur, dem großen Raum, der geographischen Lage und der Obstschina-Tradition könne Russland positive Impulse für eine soziale und friedliche Entwicklung in der Welt geben.

Kulturelle Verflechtungen

Man muss Russland als Zentrum Eurasiens wahrnehmen und statt Gegnerschaft kulturelle Gemeinsamkeiten herausstellen. Der Autor fand bei einem Freund, dem Leiter des Tschuwaschischen Kulturzentrums an der Wolga, „eine bisher unbekannte Fassung des Nibelungenliedes, die zugleich die Geschichte des tschuwaschischen Volkes erzählt: Attilas Geschichte aus östlicher, hunnischer Sicht. Das Epos enthält die dramatische Geschichte von der Begegnung zwischen Attil und Krimkilte, die mit dem Tod des mächtigen Herrschers, dem Zerfall des Hunnenreiches und dem Rückzug der Hunnen aus Europa endete und dazu führte, dass die Vorfahren der Tschuwaschen an der Wolga eine neue Heimat fanden.“[3] Zusammen mit ostdeutschen Forschern veröffentlichte Ehlers das tschuwaschische Original des Epos in dem Buch „Attil und Krimkilte“ (2011).

Warnungen vor Zbigniew Brzezinski

Ehlers warnte immer wieder vor den Plänen des US-Geopolitikers Zbigniew Brzezinski. Seine Warnungen wiederholte er wie ein Mantra, fand aber selbst in der deutschen Linken wenig Widerhall.

Von Brzezinski stammte die Idee, die afghanischen Mudschahedin militärisch zu unterstützen. So könne man die Sowjetunion destabilisieren, indem man ihr „ein Vietnam“ beschert. In seinem Buch „Die einzige Weltmacht“ (1997) schrieb Brzezinski unverhohlen, Russland dürfe nie wieder Imperium werden. Es gehe darum, Russland zu schwächen und aufzuspalten. Wer das „Herzland“, das Zentrum Eurasiens, beherrsche, könne die Welt beherrschen [Anm. d. Red.: basierend auf der sogenannten „Heartland-Theorie“ von Halford John Mackinder]. Die immer wieder geäußerten Warnungen Ehlers‘ waren – wie der Griff der NATO auf die Ukraine zeigt – berechtigt.

Sympathie für Putin

Als Wladimir Putin im Jahr 2000 Präsident Russlands wurde, kommentierte Ehlers das mit Hoffnung. Er war kein wirklicher Fan von Putin, konnte dem russischen Präsidenten aber viel Positives abgewinnen. Putin habe das Transformationschaos, den wilden Kapitalismus, den Separatismus und den drohenden Zerfall Russlands gestoppt.

Als Analytiker schätzte Ehlers einen Mann, der ab 2022 zum erklärten Gegner von Putin wurde. 2015 veröffentlichte Ehlers im Laika-Verlag zwei Bände „25 Jahre Perestroika“ mit Interviews, die er über die Jahre mit dem russischen Soziologen und Chefredakteur der Internetzeitung Rabkor, Boris Kagarlitzky, geführt hatte. Kagarlitzki kritisierte Putin ab 2022 wegen des russischen Einmarschs in die Ukraine. Der russische Chefredakteur sitzt seit 2023 im Gefängnis.

Der Brückenbauer

Ehlers sah sich nie nur als Journalist, er wollte auch Brückenbauer sein. Anfang der 1990er-Jahre gründete er den Verein Nowostroika, mit dem er russische Demokraten und Antifaschisten aus dem Pro-Jelzin-Lager in Moskau mit an Russland interessierten Menschen in Deutschland vernetzen wollte. Eine Klammer zwischen beiden Seiten war damals das Interesse, dass Russland nicht in einen Ultranationalismus à la Schirinowski abgleitet. Man bemühte sich um finanzielle Unterstützung aus Brüssel, was jedoch nicht klappte. Zur Existenzsicherung entwickelte Ehlers ein zweites Standbein. Er trat auf Konferenzen Russland-interessierter, meist alternativer Kreise mit Vorträgen über Russland auf.

Seit den 2000er-Jahren beschäftigte sich Ehlers verstärkt auch mit der Frage der Verarmung in Deutschland. Außerdem nahm er aktiv Anteil am Leben deutscher Landkommunen. Gegen den Zentralismus der EU-Bürokratie stellte er seine Vorstellung von einem „Europa der Regionen“.

Parallel zu seinen politischen Analysen beschäftigte sich der Publizist auch mit spirituellen Fragen. Ein Bezugspunkt wurde für ihn der Philosoph Rudolf Steiner.

Ich kenne Kai Ehlers seit Jahrzehnten. Was die Berichterstattung aus Russland betrifft, waren wir oft Konkurrenten, denn der Markt für unsere Berichte war immer klein. Trotzdem schätzten wir uns. Ich bewunderte ihn für sein Draufgängertum, allein durch Russland zu reisen. Und ich freute mich darüber, dass er in Russland auch das Positive suchte und nicht nur auf das Negative guckte.

Manchmal kamen mir seine Gedanken zu träumerisch-wolkig vor. Mir schien, dass er die Bedeutung der Obstschina-Tradition im heutigen Russland überschätzte. Trotzdem fand ich seinen Ansatz, die positiven, nicht gleich sichtbaren Traditionen in Russland zu beachten und zu untersuchen, richtig.

Offen gesagt: Kai Ehlers fehlt mir jetzt. Wer soll an seine Stelle treten? Der Platz des mutigen, unabhängigen Forschers droht zu verwaisen.

Das Ehlers-Archiv

Dass Kai Ehlers am 84. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion starb, ist ein merkwürdiges Zusammentreffen zweier trauriger Ereignisse. Im August 2024 hat der Journalist und Publizist auf seiner Website das letzte Mal einen Text veröffentlicht. Ehlers starb an einer Krebserkrankung.

Er lebte mit seiner Frau. Er hatte Kinder und hinterlässt ein großes Werk, zahlreiche Bücher über Russland und Eurasien, einen großen Bestand an Audio-Cassetten mit in Russland und der Mongolei geführten Interviews.

Wie ich hörte, wurde bereits begonnen, das Archiv zu ordnen und die Audio-Aufnahmen zu digitalisieren. Einer derjenigen, die sich um dieses Archiv kümmern wollen, ist der im russischen Tarussa lebende deutsche Journalist Gunnar Jütte (Russland.news), bei dem Ehlers oft wohnte.

Man kann nur hoffen, dass es gelingt, das Archiv zu digitalisieren und die wertvollen Original-Interviews mit russischen Gesprächspartnern aus allen Gesellschaftsschichten und Regionen zu vollenden. So wird es möglich sein, dass Interessierte einen tieferen, authentischen Blick in die russische Gesellschaft bekommen, als „Tagesschau“ und „Tagesthemen“ bieten.

Titelbild: Screenshot/Weltnetz.TV


[«1] Website von Kai Ehlers kai-ehlers.de

[«2] Die Hauptthesen des „Manifests von Nowosibirsk“ waren: Die Sowjetunion befindet sich in einer Systemkrise. Das Wirtschaftswachstum sinkt. Die Effektivität geht zurück. Die Arbeiterklasse strebt nicht mehr nach qualitativ guter Arbeit und Erneuerungen. Die Arbeiter sind nicht nur eine Klasse, sondern auch Persönlichkeiten und Träger von Kultur. Um die Situation der Wirtschaft zu verbessern, muss man nicht nur vom Klassenstandpunkt ausgehen, sondern auch von nationalen Besonderheiten, den persönlichen Interessen und Werten der Bürger. Die persönlichen Interessen der Parteibürokratie sind zu bestimmend. Ohne radikale Reformen wird das Land nicht weiterkommen.

[«3] Kai Ehlers in: Attil und Krimkilte, Rhombos-Verlag, Berlin, 2011, S. 9

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