EU und Bundesregierung sanktionieren deutschen Journalisten wegen kritischen Tweets zu Kanzler Merz

EU und Bundesregierung sanktionieren deutschen Journalisten wegen kritischen Tweets zu Kanzler Merz

EU und Bundesregierung sanktionieren deutschen Journalisten wegen kritischen Tweets zu Kanzler Merz

Florian Warweg
Ein Artikel von: Florian Warweg

Der vom Rat der Europäischen Union – mutmaßlich auf Initiative der Bundesregierung – sanktionierte, in Berlin lebende Journalist und deutsche Staatsbürger Hüseyin Doğru hat mittlerweile die „Belege“ im sogenannten „Beweismaterialpaket“ der EU veröffentlicht. Als „Belege“ für die „Veröffentlichungen von Falschinformationen, die die Stabilität der EU und ihrer Mitgliedstaaten untergraben und bedrohen“, führt die EU ausschließlich Tweets an. Unter anderem einen, der die NATO-Karriere von ehemaligen Wehrmachts-Offizieren thematisiert, einen zu Protesten gegen die Lage in Gaza und zwei Tweets, die den Aufrüstungsdiskurs von Kanzler Merz kritisieren. Auf dieser Grundlage wird die Sperrung aller Konten, ein EU-weites Anstellungs- sowie Ein- und Ausreiseverbot aufrechterhalten. Die NachDenkSeiten hatten so einige Fragen auf der BPK. Von Florian Warweg.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Hintergrund

Wie die NachDenkSeiten bereits mehrfach berichteten (hier, hier und hier), hatte der Rat der Europäischen Union (auch EU-Ministerrat genannt) ab dem 20. Mai 2025, nach aktuellem Wissensstand auf Initiative der Bundesregierung, den Chefredakteur des Portals Red Media, Hüseyin Doğru, mit Verweis auf dessen Berichterstattung zu Pro-Palästina-Protesten in Deutschland vollumfänglich sanktioniert: Kontosperrung und Anstellungs- sowie Ein- und Ausreiseverbot in den gesamten EU-Raum. Doğru lebt mit seiner Familie und mittlerweile drei Kindern in Berlin. In Folge der Sanktionen hatte ab 1. Juli sogar die Krankenkasse die Leistungen für seine Familie zwischenzeitlich eingestellt, obwohl die Ehefrau sich im 7. Monat einer Risikoschwangerschaft mit Zwillingen befand.

Sein Fall ist in vielen Aspekten noch gravierender und mit weitreichenderen Folgen verbunden als die Sanktionierung von Alina Lipp und Thomas Röper – sowohl was sein persönliches Schicksal (er lebt wie erwähnt voll EU-sanktioniert in Deutschland), aber auch was die allgemeine Zukunft der Pressefreiheit in Deutschland und der gesamten EU angeht.

Berichte über propalästinensische Proteste sind jetzt „russische Desinformation“

Denn erstmals sanktionierte die EU, mutmaßlich auf Initiative der Bundesregierung, einen Chefredakteur und dessen Medium auf Grundlage des „Beschlusses (GASP) 2024/2643 über restriktive Maßnahmen angesichts der destabilisierenden Aktivitäten Russlands“ nicht wegen deren Berichterstattung zum Krieg in der Ukraine (Red hat diesbezüglich eine explizit russland-kritische Haltung), sondern weil deren Berichterstattung über Pro-Palästina-Proteste in Deutschland angeblich „unter seinem überwiegend deutschen Zielpublikum ethnische, politische und religiöse Zwietracht“ säen und damit „die Stabilität und Sicherheit in der Union sowie mehrerer ihrer Mitgliedstaaten untergraben und bedrohen“ würde. Der Zirkelschluss der EU-Bürokraten lautete dann, der Chefredakteur von Red würde mit Berichterstattung über angeblich gewaltsame Pro-Palästina-Proteste „Handlungen der Regierung der Russischen Föderation“ unterstützen, „indem er gewaltsame Demonstrationen indirekt unterstützt und erleichtert und koordinierte Informationsmanipulation betreibt“.

Die angeblichen „Belege“ der EU zur Aufrechterhaltung der Sanktionen

Doğru besorgte sich unter großen Mühen (wie mit gesperrtem Konto einen Anwalt bezahlen …) rechtlichen Beistand. Seine Anwälte reichten bei der EU einen Antrag ein, die gegen ihn verhängten Sanktionen zurückzunehmen. Dies wurde ihm mit einem Schreiben datiert auf den 1. September 2025 mit Verweis darauf verweigert, dass er weiterhin „Falschinformationen“ verbreiten würde, „die Handlungen der Regierung der Russischen Föderation, die die Stabilität und Sicherheit der Union und eines oder mehrerer ihrer Mitgliedstaaten untergraben oder bedrohen“ würden. Der EU-Ministerrat schickte auf Forderung seiner Anwälte ergänzend zu dem Ablehnungsschreiben auch das gesamte „evidence pack“ („Das entsprechende Begleitdokument ist beigefügt“) – also die „Beweisunterlagen“, auf deren alleiniger (!) Grundlage die umfassenden Sanktionen und massiven Grundrechtseingriffe gegen ihn gerechtfertigt werden. In dem Schreiben heißt es zudem:

„Sie erhalten Zugang zu diesem Dokument ausschließlich zum Zweck der Wahrung der Interessen Ihres Mandanten im Zusammenhang mit dessen Aufnahme in die oben genannten Anhänge („privilegierter Zugang“). Es wird gemäß der Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 nicht der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, und Sie dürfen es nicht veröffentlichen.“

Am 3. September entschloss sich Doğru dann, wenn ihm die EU auch untersagt, das „evidence pack“ zu veröffentlichen, so zumindest die in dem „Beweismaterialpaket“ aufgeführten „Belege“ auf X der Öffentlichkeit in einem mehrteiligen Thread bekannt zu machen.

Das „Beweismaterial“ umfasst nach Doğrus Darlegung ausschließlich Tweets, sechs an der Zahl, von seinem privaten X-Account sowie von Red Media.

Anbei die von der EU angeführten „Beweise“ für „Falschinformation“, die angeblich „die Stabilität und Sicherheit der Union und eines oder mehrerer ihrer Mitgliedstaaten untergraben oder bedrohen“:

Beweise 1 und 2

Beweise 3 und 4

Beweise 5 und 6

Diese sechs Tweets, veröffentlicht zwischen November 2024 und August 2025, sollen aus Sicht des EU-Ministerrats ausreichen, um einen deutschen Staatsbürger und Journalisten in dieser Weise zu sanktionieren und in seine Grundrechte einzugreifen? Kann das stimmen?

Die NachDenkSeiten können die Authentizität der vom Rat der Europäischen Union vorgelegten „Beweise“ bestätigen

Den NachDenkSeiten ist es durch eine Quelle in der EU-Administration gelungen, das „evidence pack“ des Ministerrates einzusehen. Wir können daher bestätigen, dass es sich bei den vom Red-Media-Chefredakteur aufgeführten Tweets tatsächlich um die einzigen „Belege“ handelt, mit denen die EU und die Bundesregierung die Aufrechterhaltung der Sanktionierung eines Journalisten und deutschen Staatsbürgers rechtfertigen.

Unfreiwillig bestätigte dies auch der Sprecher des Auswärtigen Amtes. Hatte dieser bisher immer die alleinige Verantwortung der EU für die Sammlung der angeblichen „Beweise“ betont, wechselte er diesmal in die 1. Person Plural und erklärte auf Nachfrage der NachDenkSeiten:

„Wir sind davon überzeugt, dass die Belege ausreichend sind.“

„Wir“ steht in diesem Fall eindeutig für das Auswärtige Amt und die Bundesregierung.

Auszug aus dem Wortprotokoll der Regierungspressekonferenz vom 17. September 2025

Frage Warweg

An das Auswärtige Amt: Der von der EU mutmaßlich auf Initiative der Bundesregierung sanktionierte in Berlin lebende Journalist und deutsche Staatsbürger Hüseyin Doğru hat jetzt die Belege im „evidence pack“ der EU-Kommission veröffentlicht, auf deren Grundlage die Sperrung aller Konten, das Anstellungsverbot sowie das Ein- und Ausreiseverbot in den EU-Raum aufrechterhalten werden. Als Belege für die angeblich veröffentlichten Falschinformationen, die politische und gesellschaftliche Zwietracht säen würden, führt die EU-Kommission allerdings lediglich Tweets an: einen Tweet, der die NATO-Karriere von ehemaligen Wehrmachtsoffizieren thematisiert, und zwei Tweets, die den Aufrüstungsdiskurs von Merz kritisieren. Da würde mich interessieren: Sieht die Bundesregierung es als angemessen an, dass ein deutscher Staatsbürger und Journalist für kritische Tweets über Kanzler Merz mit so massiven Eingriffen in seine Grundrechte sanktioniert wird?

Giese (AA)

Wir haben über diesen Fall hier schon mehrfach gesprochen, aber ich spreche gerne noch einmal darüber. Das ist eine EU-Entscheidung, und dagegen gibt es Rechtsmittel. Der Betroffene ist herzlich eingeladen, diese Rechtsmittel auch zu nutzen, und dann werden Gerichte darüber entscheiden, ob das so ist, wie Sie es gerade erzählt haben.

Zusatzfrage Warweg

Herr Giese, wie erklären Sie eigentlich, dass Sie am 2. Juli hier in der BPK proaktiv verkündet haben „Wir können heute verbindlich sagen, dass Red von Russland gezielt zur Informationsmanipulation eingesetzt wird“, aber im aktuellen „evidence pack“ der EU-Kommission von August 2025 kein einziger Beleg für die behauptete Verbindung zu Russland präsentiert wird? Angesichts der massiven Maßnahmen ist das ja durchaus eine relevante Frage.

Giese (AA)

Ich habe dem, was ich damals gesagt habe, nichts hinzuzufügen. Wir sind davon überzeugt, dass die Belege ausreichend sind. Wie gesagt, alles andere kann man ja vor Gericht klären.

Titelbild: Screenshot NachDenkSeiten, Bundespressekonferenz 17.09.2025

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