Ende August wurde die irische Person Kitty O’Brien auf einer Pro-Palästina-Demo von der Berliner Polizei so schwer verletzt, dass diese mit gebrochener Nase und gebrochenem Oberarmknochen für eine Woche ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Die irische Botschafterin Maeve Collins hat gegenüber den deutschen Behörden ihre „Besorgnis“ über den Vorfall geäußert. Während sich in deutschen Medien nur wenige Berichte über den Vorfall finden, schlägt er hier in Irland größere Wellen und auch unsere Lokalzeitung, der Southern Star, berichtet zum zweiten Mal, letzte Woche mit dem Titel, „Assaulted protester Kitty vows to return to demos“ („Angegriffene Demonstrantin Kitty schwört, zu den Demos zurückzukehren“). Aus Irland von Moritz Müller.
Die queere Person Kitty O’Brien ist Mitglied im Irish Bloc Berlin. In einem Statement vom 12. Juni 2024 wird als Ziel des Irish Bloc die Solidarität mit Palästina genannt, und dass diese von der Basis kommen sollte. Die Organisation bezeichnet sich als offen auch für Menschen, die nicht irisch oder europäisch sind, aber sich der Befreiung Palästinas verpflichtet fühlen („equally open to people who are not Irish or European, but who share our common commitment to Palestinian liberation“).
Die Demonstration, auf der es zu der Polizeigewalt kam, war anscheinend nicht angemeldet. In Irland müssen Demonstrationen nicht angemeldet werden. Es wird nur aus organisatorischen Gründen angeraten, dies zu tun.
Hier in Irland gibt es ein Grundgefühl der Solidarität mit den Palästinensern, die mehr oder weniger rechtlos in ihrer Heimat leben, und nun von Vertreibung und Völkermord bedroht sind.
Das rührt wohl daher, dass Irland jahrhundertelang besetzt und bis 1922 auch Teil des britischen Imperiums war. Man kann sich hier leicht mit den unterdrückten Palästinensern identifizieren.
Auf dem Demonstrationszug, der in unserem kleinen Städtchen seit Oktober 2023 jeden Samstag stattfindet, werden vorbeifahrende Autofahrer zum Hupen aufgefordert, und die Zahl der aus Solidarität Hupenden ist beträchtlich.
Bei den in Skibbereen Demonstrierenden handelt es sich um eine bunte Mischung aus hier lebenden Palästinensern und anderen arabischstämmigen Mitbürgern, zugereisten Hippies und irischen, der IRA nahestehenden Republikanern.
Der Vater einer Organisorin war ein im Kindesalter aus Deutschland geflohener Jude.
Nasser Al Swirki aus Gaza ist auch eine treibende Kraft bei diesen Demos. Er lebt mit seiner irischen Frau in unserer Gegend. In seinen Redebeiträgen berichtet er plastisch und emotional von der Lage in seiner Heimat.
Auch ein ehemaliger kanadischer Blauhelmsoldat findet sich regelmäßig auf den Demonstrationen ein. Wenn man mit ihm spricht, bekommt man den Eindruck, dass er weiß, was Krieg für die „Teilnehmer“ bedeutet, besonders wenn eine Seite fast alle Macht in der Hand hat und fast nach Belieben auf dem Schlachtfeld agiert.
Die Demos in Skibbereen werden nicht von der Polizei begleitet, geschweige denn drangsaliert. Auch eine offene Überwachung ist nicht sichtbar, aber in Zeiten, wo wir alle Selfies von uns im Internet posten, auch nicht wirklich nötig.
An dem Samstag, bevor es zu der Attacke in Berlin kam, war Kitty O’Brien auf der hiesigen Demo.
Das irische journal.ie schreibt, dass in vorliegenden Videos zu hören ist, wie Kitty O’Brien die Polizisten beschimpft: „You are acting like a fucking Nazi, are your grandparents proud of you?“ („Ihr verhaltet euch wie verfickte Nazis, sind eure Großeltern stolz auf euch?“).
Wenn diese Worte wirklich so gefallen sind, dann wäre das eine Verallgemeinerung bzw. Verharmlosung des Begriffs „Nazi“. Dass eine Polizeitruppe Demonstranten mit unverhältnismäßiger Gewalt behandelt, ist leider an vielen Orten dieser Welt Praxis und kein Alleinstellungsmerkmal der Nazis. Auch die Frage, ob die Großeltern der Polizisten stolz auf das angebliche Naziverhalten dieser Polizisten sein könnten, impliziert, dass die Großeltern der Polizisten alle Nazis waren oder mit diesen sympathisierten, was ja nach dem Stand der Forschung nicht der Fall war.
Der Sinn eines Protestes ist ja auch, die anderen Seiten zu überzeugen, denn aufhalten kann man die israelische Armee oder die deutschen Rüstungskonzerne mit einer Demo in Berlin-Mitte wohl nicht.
Es wäre interessant, von Kitty O’Brien zu erfahren, ob dies von ihr so gesagt wurde und welche Überzeugung dahinter steckt. Bis jetzt waren meine vorsichtigen Kontaktversuche noch nicht von Erfolg gekrönt. Vielleicht wirkt dieser Artikel als Einladung zu einem Gespräch.
Aber natürlich dürfen Polizisten nicht mit physischer Gewalt auf verbale Attacken reagieren. Der Angriff auf Kitty O’Brien bestand aus zwei gezielten Faustschlägen, die zu der gebrochenen Nase führten, und während der Festnahme, als die Nase schon richtig blutete, wurde der Arm so verdreht, dass es zum Bruch des Oberarmknochens, übrigens einem der stabilsten Knochen in unserem Körper, kam. Nun halten, laut Kitty O’Brien, 11 Schrauben diesen Knochen zusammen.
Hier in diesem Artikel der Irish Times gibt es ein Standfoto des ersten Faustschlags auf Kitty O’Briens Nase. Das sieht sehr gezielt aus und im Video im Artikel kann man sehen, dass der Polizeibeamte geübt scheint, denn auf den Schlag mit der linken Faust folgt dann einer seiner rechten Faust. Der gleiche Beamte ist dann auch an der kurz darauf folgenden Festnahme beteiligt.
Was lässt sich gegen diese Polizeigewalt tun? Ist der Beamte später stolz darauf, die Nase einer anderen noch sehr jungen Person gebrochen zu haben, oder tut es ihm leid oder fühlt er sich doch irgendwie unwohl? Beruft er sich auf Befehle, oder dass Ruhe und Ordnung aufrechterhalten werden müssen? Es wäre auch interessant, mit ihm zu sprechen bzw. einem Gespräch zwischen ihm und Kitty O’Brien beizuwohnen.
Auf den Videos über den Vorfall in Berlin scheint die Polizei nicht in der Minderzahl, oder dass ihr die Kontrolle zu entgleiten droht. Der tätliche Angriff sieht nicht nach einer Notwehrreaktion aus.
Wie weit ist es von der verbalen Gewalt, über die knochenbrecherische physische Gewalt bis zur tödlichen Gewalt in Gaza?
Laut dem Irish Mirror hat Kitty O’Brien diese direkte Botschaft an die deutsche Polizei: „Let me reiterate, you do not f**king scare us“ („Lasst es mich bekräftigen, wir haben keine verfickte Angst vor Euch“).
Keine Angst zu haben, kann von Vorteil sein, aber Angst kann uns schützen.
Im Interview mit dem Southern Star von letzter Woche betont Kitty O’Brien, dass sie wieder für die Rechte der Palästinenser auf die Straße gehen wolle, sobald es der Gesundheitszustand zulässt. Laut Kitty O’Brien waren die im Krankenhaus Arbeitenden alle sehr freundlich zu ihr und diese Erfahrung scheint das genaue Gegenteil der Attacke durch die Polizei gewesen zu sein.
Im obigen Artikel der Irish Times bezeichnet Kitty O’Brien den Polizeieinsatz nicht als einen Einzelfall, sondern als Teil einer systematischen Unterdrückung des Protests gegen die Haltung Deutschlands im Gaza-Konflikt. Es werden weitere Attacken auf Protestierende erwähnt:
„Freunde von mir hatten gebrochene Nasen, gebrochene Handgelenke, in einem Fall sogar die Wirbelsäule gebrochen und unzählige andere Verletzungen davongetragen, die ich gar nicht alle aufzählen kann.
Deutschland sollte international dafür angeprangert werden, wie es Demonstranten in einem Land behandelt, das sich als demokratisch bezeichnet. Das ist absolut bizarr. Jeder Versuch, uns zum Schweigen zu bringen, wird nicht funktionieren, denn Palästina wird weiterhin einem Völkermord ausgesetzt. Ich kann es kaum erwarten, wieder auf die Straße zu gehen und diesen Polizisten ins Gesicht zu sehen.“
Diese Aussagen zeugen von Entschlossenheit und es tritt auch die Entrüstung über die offizielle deutsche Position im Palästina-Israel-Konflikt zutage, und dass dies von jemandem, der in Irland aufgewachsen ist, nicht zu verstehen ist.
Aus irischer Sicht erscheint es unglaublich, wie aktiv und offen Deutschland seit fast zwei Jahren die Angriffe auf Gaza unterstützt. Irische Politiker aller Couleur sprechen im Zusammenhang mit Gaza offen von Genozid. Der öffentlich-rechtliche Sender RTE gab letztens bekannt, dass man sich nicht am Eurovision Song Contest 2026 beteiligen werde, falls Israel daran teilnimmt.
Demnächst wird im irischen Parlament eine Gesetzesvorlage diskutiert, in der es um die Sanktionierung von Gütern aus den von Israel besetzten palästinensischen Gebieten geht.
Die große Mehrheit der Irinnen und Iren sieht, dass der Konflikt nicht erst am 7. Oktober 2023 angefangen hat, sondern schon Jahrzehnte vorher, und dass der 7. Oktober schrecklicher Teil einer „Wie du mir, so ich dir“-Logik beider Seiten war.
In Irland, das auch eine lange Geschichte der Besatzung und einen blutigen Befreiungskrieg mit anschließendem Bürgerkrieg hinter sich hat, kann man nicht verstehen, dass Deutschland die Besatzungsmacht Israel so massiv und unkritisch unterstützt.
Dass Deutschland und Deutsche während des Holocaust unglaubliche Verbrechen an den europäischen Juden begangen haben, wird hier in Irland auch gesehen.
Es fehlt in Irland allerdings das alles durchdringende Schuldgefühl, welches es in Deutschland gibt und welches zumindest die deutsche Regierung dazu bringt, kaum etwas von dem, was Israel bzw. die israelische Regierung tut, kritisch zu hinterfragen. Inwieweit sich die Positionen der israelischen Regierung von den Positionen der Mehrheit der israelischen Bevölkerung unterscheiden, wäre sicher Stoff für einen weiteren Artikel.
Die Schuld, die Deutschland auf sich geladen hat, soll hier von mir überhaupt nicht infrage gestellt werden. Die grausamen Verbrechen, die Deutsche während der Nazizeit begangen haben, beschäftigen mich immer wieder. Was hat die Deutschen und die eigenen Vorfahren dazu gebracht, diese Dinge zu tun bzw. nicht einzuschreiten? Es hat damals natürlich eine starke Repression gegeben und man war von Willkür bedroht.
Die Coronazeit war in dieser Hinsicht recht erhellend, denn man konnte sehen, wie kollektiver Wahn auch in der Gegenwart funktioniert und wie starker Gruppendruck entstehen kann.
Zu einer sich aus dieser historischen Schuld ergebenden wie auch immer gearteten Verantwortung gegenüber den Juden/dem jüdischen Volk/Israel gehört meiner Meinung nach aber auch, dass man die Menschen/das Land, welches man vorgibt zu beschützen, davor bewahrt, schwere Fehler zu begehen. Vor allem, wenn es sich um Mord und Totschlag handelt, der wiederum Generationen brauchen wird, um zu verheilen.
Wahrscheinlich ist dieser letzte Satz eine naive Sicht der Dinge und im Grunde geht es im derzeitigen Nahostkonflikt um knallharte Machtpolitik und die Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen.
Mir ist auch klar, dass das entfesselte Vorgehen des israelischen Militärs zum Teil aus einem im Holocaust entstandenen nationalen Trauma herrührt. Es ist verständlich, dass es in dem geografisch kleinen Land Israel durch diese Geschichte ein Gefühl der Bedrohung gibt, das durch Rhetorik und Aktionen der Nachbarländer auch noch geschürt wurde und wird.
Das Verhalten der Nachbarländer wiederum hat sich wohl zu einem nicht unbeträchtlichen Teil aus den Demütigungen ergeben, die Israel diesen Nachbarn zugefügt hat.
Aus rein zwischenmenschlicher Sicht und meiner 58-jährigen Erfahrung kann ich mir nicht vorstellen, dass es zwischen Israel und seinen Nachbarn einen dauerhaften Frieden geben wird, der auf der Dominanz einzelner Staaten, und im derzeitigen Fall Israels Dominanz, beruht.
Der irische Autor Hugo Hamilton beschreibt in diesem Artikel (leider hinter einer Bezahlschranke) seine Verwunderung über den derzeitigen deutschen Standpunkt zu dem, was in Gaza passiert. Hugo Hamilton hat eine deutsche Mutter und er ist in den fünfziger Jahren in Dublin aufgewachsen. Auch er beschreibt die Attacke auf Kitty O’Brien und sein Entsetzen darüber. Er beschreibt, dass es mit der Meinungsfreiheit in Deutschland nicht mehr weit her ist, wenn Wörter wie „Genozid“ oder „Apartheid“ bei Markus Lanz nicht benutzt werden dürfen. Er beschreibt eine „moralische Lähmung“ in Deutschland, wenn es um das Thema Israel geht. Er sagt, dass er manchmal nicht wisse, welcher Teil in ihm deutsch und welcher irisch ist, dass der deutsche Teil sich für die deutsche Haltung zur Palästinafrage schäme, er aber stolz darauf ist, dass das in Irland anders ist, und dass es hier engagierte Personen wie Kitty O’Brien gibt.
Mir geht es ähnlich. Wie Hugo Hamilton befürchte ich, dass Deutschland sich einmal mehr auf der falschen Seite der Historie befindet.
Es scheint so, als sei nicht nur nichts aus der Geschichte gelernt worden, sondern als ob in Deutschland aktiv und radikal die falschen Konsequenzen gezogen werden. Man gibt vor, eine – die jüdische – Bevölkerungsgruppe unterstützen zu wollen, und unterdrückt dafür Palästinenser, andere Muslime und alle, die sich mit ihnen solidarisieren, und den Rest von Demokratie gleich mit.
Der australische Filmemacher Anthony Loewenstein, dessen Urgroßeltern in Auschwitz ermordet wurden, beschreibt dies in dieser sehenswerten Dokumentation.
Auch er befürchtet, dass man in Deutschland die falschen Schlüsse aus der Geschichte gezogen hat und dass das, was in Deutschland vorgeblich zum Schutz von Juden unternommen wird, diese eigentlich gefährdet und rechtsradikale Kräfte wie die AfD stärkt. In der Dokumentation kommen Menschen verschiedener Herkunft zu Wort. Ein Antisemitismusbeauftragter, Künstler, ein palästinensischer Koch, ein Polizeibeamter, und auch einem AfD-Funktionär wird zugehört. Es ergibt sich ein vielschichtiges Bild. Dass Loewenstein schildert, man habe sich in Deutschland erst seit den 80er-Jahren mit der Nazivergangenheit beschäftigt, deckt sich nicht mit meinem Verständnis bzw. meiner Erfahrung.
Auch ich denke, dass wir gerade dabei sind, weiter in Richtung totalitärer Herrschaft abzugleiten.
Ob Demonstrieren dagegen helfen wird, bleibt fraglich, aber man fühlt sich besser, wenn man Widerstand leistet. Gleichzeitig müssen wir versuchen, andere Menschen und deren Positionen zu verstehen und zum Dialog bereit zu sein.
Titelbild / Bilder: © Moritz Müller