Macht drängt nach mehr Macht und Reichtum nach mehr Reichtum, eine Dynamik, die den Zusammenhalt einer Gesellschaft gefährdet und sie zu zerstören droht: Dies ist eine der frühesten Einsichten der Zivilisationsgeschichte. Macht bedarf daher stets einer robusten Einhegung. Das bedeutendste Schutzinstrument für eine Zivilisierung von Macht stellt die egalitäre Leitidee der Demokratie dar. Der Psychologe Rainer Mausfeld zeigt in seinem neuen Buch „Hybris und Nemesis. Wie die Entzivilisierung von Macht in den Abgrund führt“ entlang historischer Linien auf, dass der Begriff der Demokratie seiner ursprünglichen Bedeutung beraubt worden ist und heute als Demokratierhetorik für Herrschaftszwecke missbraucht wird. Dadurch ist es in den vergangenen Jahrzehnten zu einer Entzivilisierung von Macht gekommen, deren psychische, gesellschaftliche und ökologische Auswirkungen die menschliche Zivilisation insgesamt bedrohen. Es folgt ein Auszug aus Mausfelds neuem Buch.
Auszug Seiten 366 bis 368:
Mit jeder Krise der vergangenen Jahrzehnte wurde der Raum des Politischen, in dem es um die Verhandlung von Angelegenheiten geht, die als politische jeden angehen, weiter verengt. Das Wesen des Politischen besteht gerade im Fehlen von Einvernehmlichkeit. Eine Konformität der Meinungen ist der Tod des Politischen. Der Raum des Politischen ist gerade das Herzstück der Demokratie. Das Wesen der Demokratie besteht darin, egalitäre Prozeduren anzubieten, durch die sich die Pluralität und Heterogenität unterschiedlicher Interessen, Werte und Meinungen für ein politisches Handeln miteinander in Einklang bringen lassen. Verkörpert wird der Raum des Politischen durch den öffentlichen Debattenraum, der zudem Möglichkeiten zur Erkundung von alternativen Sicht- und Handlungsweisen und damit zu einem kollektiven Lernen bietet. Wird der öffentliche Debattenraum zerstört, wird der Demokratie die Luft zum Atmen entzogen.
Da freilich der Demokratie in einer kapitalistischen Demokratie schon deswegen die Grundlage entzogen ist, weil die Kontrolle der Meinungsbildung zu ihrer Funktionslogik kapitalistischer Demokratien gehört, gelangt auch die immer umfassendere Zerstörung des öffentlichen Debattenraumes bei der überwiegenden Mehrheit kaum ins Bewusstsein. Denn es sind ja schließlich auch weiterhin eine freie Meinungsartikulation und auch fundamentaler Dissens möglich – und sogar erwünscht, um die Illusion einer demokratischen Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Für kritische Stimmen gilt dies jedoch nur so lange, wie sie politisch wirkungslos bleiben (siehe Kapitel 7.5). Da in Krisen die Gefahr steigt, dass Dissens politisch wirksam werden könnte, kommt in ihnen der Begrenzung und der Ächtung von Dissens eine besondere Bedeutung zu.
In diesen Fällen verschärfen daher die exekutiven Staatsapparate kapitalistischer Demokratien in Verbindung mit ökonomischen Zentren der Macht ihre Bemühungen, die Stabilität herrschender Machtverhältnisse durch eine rigorose Kontrolle des öffentlichen Informationsraumes zu sichern.[1] Erinnert sei hier nur an die von Edward Snowden öffentlich gemachten Geheimdokumente über die automatisierte verdachtsunabhängige globale Massenüberwachung der Telekommunikation und insbesondere des Internets durch die USA – in Verbindung auch mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz und der Bundesnachrichtendienst (BND) – und über andere geheimdienstliche Aktivitäten zur Kontrolle und Manipulation des öffentlichen Informationsraumes. Über die Snowden-Dokumente hatte 2013 der Journalist Glenn Greenwald im Guardian ausführlich berichtet. Darin geht es nicht nur um passive Überwachung. Zur Kontrolle des Informationsraumes gehören auch aktive staatliche Manipulationen durch Streuen von Desinformation und durch Angriffe bis hin zu Zerstörung der Reputation unliebsamer Personen und Organisationen. Es geht also wesentlich auch um eine Kontrolle und Zerstörung von Dissens. Beispielsweise finden sich unter den Snowden-Dokumenten interne Arbeitsdokumente der geheimen Arbeitsgruppe »Joint Threat Research Intelligence Group« (JTRIG) des britischen Geheimdienstes »Government Communications Headquarters« (GCHQ).[2] Eines dieser Dokumente trägt den Titel Die Kunst der Täuschung: Training für verdeckte Online-Operationen (The Art of Deception: Training for Online Covert Operations). Darin legt die damals 150 Mitarbeiter umfassende Arbeitsgruppe ihre beiden Hauptziele und die dazu verwendeten Methoden dar. Diese Ziele sind zum einen, alle Arten von gefälschtem Material ins Internet zu stellen, um den Ruf ihrer Zielpersonen oder Zielorganisationen zu zerstören, und zum anderen psychologische und sozialwissenschaftliche Einsichten und Methoden einzusetzen, um den politischen Online-Diskurs im Regierungssinne zu manipulieren.[3] Bei der Auflistung der dazu geeigneten Methoden bezieht sich das Dokument ausdrücklich auf psychologische Befunde, durch die sich psychische Schwachstellen identifizieren lassen, wie man unliebsame Personen diskreditieren und ihren Ruf ruinieren kann. Diese Techniken müssten durch eine wachsende Zahl hochtrainierter JTRIG-Agenten »erbarmungslos optimiert« werden.
Da freilich die Techniken, den Ruf einer Person zu ruinieren und sie als öffentliche Person zu zerstören, sehr elementarer Natur sind und daher von jedem, der Zugang zu den Massenmedien hat, in höchst wirksamer Weise angewandt werden können, bedarf es eigentlich keiner spezialisierten Geheimdiensttruppen. Wenn die Jagd auf Dissidenten von staatlicher Seite erst freigegeben ist, finden sich stets genügend Journalisten, Intellektuelle und ›Experten‹ für ein solches Geschäft. Diese Praxis der Rufzerstörung und der Diffamierung politisch unliebsamer Personen und Organisationen gedeiht auf dem Nährboden des Opportunismus ganz von selbst und führt schleichend zu einer Zerstörung des öffentlichen Debattenraumes. Die 2014 in die Öffentlichkeit gelangten JTRIG-Dokumente belegen noch einmal, dass, wie immer in der Geschichte, auch im digitalen Zeitalter die systematische Desinformation der Öffentlichkeit ihren Ursprung im Zentrum der Regierungsapparate hat.
Seit dieser Zeit sind die Techniken der Kontrolle der öffentlichen Meinung und der Ächtung von Dissens weiter »erbarmungslos optimiert« worden. Zudem wurde das Geschäft einer Kontrolle von Narrativen und einer Ächtung von Dissens in weiten Teilen privatisiert. Heute wird in großer Intensität in Dutzenden von Think Tanks, Stiftungen, NGOs und militärisch- strategischen Zentren unter Begriffen wie »perception managemen«, »PsyOps«, »strategic communication« oder »cognitive warfare« daran gearbeitet, »die Narrative zu kontrollieren«. Im Jahr 2015 meldete der Guardian:
≫Die britische Armee schafft eine Spezialeinheit von Facebook-Kriegern, die in psychologischen Operationen und der Nutzung sozialer Medien geschult sind, um unkonventionelle Kriegsführung im Informationszeitalter zu betreiben. […] Vor dem Hintergrund von 24-Stunden-Nachrichtenmeldungen, Smartphones und sozialen Medien wie Facebook und Twitter wird die Truppe versuchen, das Narrativ zu kontrollieren.≪[4]
Buchtipp: Rainer Mausfeld: „Hybris und Nemesis. Wie die Entzivilisierung von Macht in den Abgrund führt – Einsichten aus 5000 Jahren“, 512 Seiten, Westend Verlag, 20.11.2023
[«1] Zu historischen Hintergründen siehe z.B. Foster & Mc-Chesney (2014).
[«2] Vgl. The Intercept vom 24.02.2014, online unter: theintercept.com/2014/02/24/jtrig-manipulation/, abgerufen am 01.08.2023.
[«3] Darüber berichtete die FAZ am 25.02.2014 unter der Überschrift »Diskreditieren Sie Personen und Organisationen! Das ist eines der Ziele des britischen Geheimdiensts. Geheime Dokumente zeigen, wie der GCHQ im Internet für die Zerstörung Einzelner sorgt.« Online unter: www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/ueberwachung/britischer-geheimdienstso-werden-menschenvernichtet-12820556.html, abgerufen am 01.08.2023.
[«4] »The British army is creating a special force of Facebook warriors, skilled in psychological operations and use of social media to engage in unconventional warfare in the information age. […] Against a background of 24-hour news, smartphones and social media, such as Facebook and Twitter, the force will attempt to control the narrative.« Online unter: theguardian.com/uk-news/2015/jan/31/british-army-facebookwarriors-77th-brigade, abgerufen am 01.08.2023.