„Hybris und Nemesis“ – Rainer Mausfelds schonungslose Machtkritik

„Hybris und Nemesis“ – Rainer Mausfelds schonungslose Machtkritik

„Hybris und Nemesis“ – Rainer Mausfelds schonungslose Machtkritik

Ein Artikel von Eugen Zentner

Der Kognitionsforscher Rainer Mausfeld beschäftigt sich schon lange mit der neoliberalen Ideologie, der Umwandlung der Demokratie durch Eliten und mit den psychologischen Techniken der Meinungslenkung, die diese nutzen, um ihre herrschende Position zu sichern. Seine Gedanken zu diesen Themen hat er in Büchern wie „Warum schweigen die Lämmer“ oder „Angst und Macht“ ausgebreitet, in mutigen Werken, die Machtkritik äußern und zum Kern des autoritären Geistes der Gegenwart vordringen. Auch seine jüngste Publikation schlägt in die gleiche Kerbe. In „Hybris und Nemesis“ variiert Mausfeld seine Grundthesen, stellt sie aber in einen viel größeren Kontext. Entlang historischer Linien zeigt er auf, wie der Begriff der Demokratie seiner ursprünglichen Bedeutung beraubt worden ist und heute als Herrschaftsinstrument dient. Von Eugen Zentner.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Um seine These zu untermauern, geht Mausfeld in der Zivilisationsgeschichte 5.000 Jahre zurück. Schon zu jenem Zeitpunkt haben die Menschen das erkannt, was heute zum Grundproblem liberaler Demokratien geworden ist: Macht und Reichtum streben danach, sich ungezügelt zu potenzieren. Es bedarf daher einer robusten Einhegung. Aus diesem Grund wurde schon recht früh ein Schutzinstrument entwickelt – die egalitäre Leitidee der Demokratie. Mit ihr, schreibt Mausfeld, „verbindet sich bis heute die Hoffnung, dem parasitären Mehrhabenwollen, das seit Beginn der Zivilisationsgeschichte den gesellschaftlichen Zusammenhalt bedroht, eine Grenze zu ziehen und die Entstehung parasitärer Eliten zu verhindern“. Dieser dialektische Prozess von Elitenbildung und -kontrolle wird an Beispielen Mesopotamiens, des alten Chinas oder des antiken Athens nachgezeichnet, wobei Mausfeld auch die strukturellen Mängel der Lösungsansätze akzentuiert.

Die Eliten hätten schon immer Schlupflöcher finden und die Bedingungen für sich nutzen können, selbst wenn neuartige Formen der gesellschaftlichen Organisation entstanden seien: „Diese eröffneten den jeweiligen Machteliten wirksamere Wege der Ausbeutung und neue Möglichkeiten für eine stabilere Organisation ihrer Macht. Gegenüber diesen neuen Organisationsformen von Ausbeutung und Macht erwiesen sich die zuvor gewonnenen Instrumente einer Aufsteiger- und Elitenkontrolle als weitgehend unwirksam.“ In diesem Zusammenhang veranschaulicht der Kognitionsforscher, dass Machthaber in früheren Zivilisationen noch auf die Welt des Übernatürlichen zurückgreifen mussten, um eine starke Identifikation der Untertanen mit dem Herrscher zu bewirken. Später seien mit dem Kapitalismus und der „Enttheologisierung von Herrschaft“ andere ideologische Mittel entwickelt worden, um eine ebenso effektive Identifikation zu erreichen.

Diese psychologischen Manipulationstechniken stellen seit jeher eines der wichtigsten Forschungsfelder des mittlerweile emeritierten Professors dar und prägen seine Bücher. Mausfeld weiß, dass sich Machteliten zunehmend auf Erkenntnisse aus der Soziologie und Psychologie stützen, um die Meinung der „Untertanen“ in eine bestimmte Richtung zu lenken. Wie sich bestimmte Funktionsprinzipien des menschlichen Geistes für derartige Manipulationszwecke ausnutzen lassen, veranschaulicht Mausfeld in „Hybris und Nemesis“ anhand einiger Beispiele, unter anderem mithilfe einer Abbildung, auf der visuell exakt gleiche Objekte durch geeignete Kontextualisierungen als extrem unterschiedlich erscheinen. Noch leichter, so der Autor weiter, ließen sich die moralischen Sensitivitäten manipulieren: „Hierfür genügen bereits sehr elementare sprachliche Mittel, um ein und denselben Sachverhalt so zu kontextualisieren, dass er einmal als moralisch gut und ein anderes Mal als moralisch verwerflich oder böse erscheint.“

Derartige Techniken machen laut Mausfeld das aus, was er in Anlehnung an den Soziologen Michael Mann „ideologische Macht“ nennt. Dieser Begriff steht im Vordergrund, wenn der Autor einen vergleichenden kulturanthropologischen Blick auf früheste Formen gesellschaftlicher Organisationsweisen wirft und dabei erläutert, wie die Mittel der Machtbegrenzung im Laufe der Zivilisationsgeschichte zunehmend als Instrumente einer Machtstabilisierung missbraucht wurden. Ideologische Macht, so Mausfeld, entstehe, „wenn es einer Gruppe gelingt, die sinnstiftenden Denkkategorien, Deutungszusammenhänge und Rahmenerzählungen zu beeinflussen und zu kontrollieren, mit denen Menschen sich ein gedankliches Bild ihrer gesellschaftlichen Wirklichkeit machen“. So mussten später tradierte Normen und Werte in dem jeweiligen ideologischen Kontext bloß so uminterpretiert werden, dass die Herrscher ein Monopol zu deren Sicherung und Durchsetzung zugeschrieben bekamen und die Beherrschten dies als legitim ansahen.

Nach dem gleichen Verfahren sei der Begriff der Demokratie umgedeutet worden. Diese habe ursprünglich als emanzipatorisches Instrument zum Schutz des Zusammenhalts einer Gesellschaft und zur Sicherung natürlicher individueller Freiheitsrechte gedient, so Mausfeld. Sie „war als zivilisatorisches Schutzinstrument gegen parasitäre Eliten entwickelt worden und zielte auf eine konsequente Einhegung von Macht durch die gesellschaftliche Basis ab“. Allerdings hätten die Macht- und Besitzeliten früh erkannt, dass sich das Wort „Demokratie“ als höchst wirksames Instrument der Stabilisierung und Ausweitung von Macht nutzen ließe: „Bindet man es in einen geeigneten ideologischen Rahmen ein, der verdeckt, dass der Begriff entleert und seiner ursprünglichen Bedeutung beraubt wurde, so lassen sich mit diesem Wort die natürlichen Bedürfnisse nach Freiheit und Selbstbestimmung ruhigstellen.“

Die wirkungsvollsten Formen dieser ideologischen Macht habe der Kapitalismus hervorgebracht. Gegen sie seien die zuvor entwickelten zivilisatorischen Schutzinstrumente weitgehend fruchtlos. Mausfeld erklärt dies mit der Widersprüchlichkeit, die in dem Begriff „liberale bzw. kapitalistische Demokratie“ steckt. Ihr Kernproblem bestehe gerade darin, dass sie auf Gleichheitsversprechen beruhe, die allein schon durch ihre Wirtschaftsordnung und ihre Eigentumsverhältnisse nicht einlösbar seien: „In diesem Sinne sind Kapitalismus und Demokratie grundsätzlich unvereinbar.“ Mausfelds Analyse fußt größtenteils auf der Vorarbeit des US-amerikanischen politischen Philosophen Sheldon Wolin, dem er ein ganzes Kapitel widmet, um dessen Konzept des „umgekehrten Totalitarismus“ in das eigene Gedankengebäude einzubetten.

Dabei geht er auch kritisch auf das Konzept formal freier Wahlen ein. Im Zeitalter der Durchökonomisierung aller Bereiche hielten diese lediglich die Illusion demokratischer Partizipation aufrecht, seien aber im Grunde politisch völlig irrelevant, weil die Machtausübenden bereits die psychologischen Prozesse der Meinungsbildung kontrollierten. Wer über die finanziellen Mittel verfüge, entsprechende Kampagnen zu entwickeln und zu organisieren, könne andere in ihrer Urteilsbildung und in ihren Entscheidungen beeinflussen und ihnen damit seinen Willen aufzwingen.

Dargestellt werden diese Zusammenhänge in einer enorm abstrakten Sprache. „Hybris und Nemesis“ ist kein einfach zu lesendes Buch, aber eines, das aufgrund des beachtlichen Reflexionsgrades inspirierend wirkt. Es beruht sowohl auf theoretischen als auch empirischen Erkenntnissen, die Mausfeld nicht nur aus den Krisen der jüngsten Zeit destilliert, sondern auch aus den Werken zahlreicher Geistesgrößen. Er zitiert Ingeborg Maus und Wolfgang Reinhard, Karl Marx, John Stuart Mill und Adam Smith, Machiavelli und Hannah Arendt, aber auch Dichter der Antike. Sie ist zugleich die Inspirationsquelle für den Titel des fast 500 Seiten starken Buches.

Mausfeld spielt damit auf die griechische Mythologie an und zieht Parallelen zur Gegenwart. „Vor unendlich langer Zeit, in längst vergangenen Zeiten“, beginnt sein Prolog, „lebten Menschen in Eintracht und Zufriedenheit. Zwietracht, Vereinzelung oder gar ein Mehrhabenwollen auf Kosten anderer waren ihnen fremd. Als jedoch einige wenige anfingen, sich Vorteile auf Kosten der Gemeinschaft zu verschaffen, nahm die Geschichte ihren Lauf.“ Aidos und Nemesis, die göttlichen Verkörperungen von Scham und des gerechten Zorns, seien die letzten Gottheiten gewesen, die bei dem verderbten Menschengeschlecht blieben. „Wenn auch sie die Menschen verlassen“, schreibt Mausfeld weiter, „bleibt nur noch das Recht des Stärkeren, und menschliche Begierden nach Macht und Reichtum werden endgültig die menschliche Geschichte zerstören.“

Es ist gerade Nemesis, die Mausfeld der Hybris der sich selbst überschätzenden Machtelite gegenüberstellt. Was sie verkörpert, sei heute dringlicher denn je. Das schamlose Ausnutzen von Macht und die Missachtung von Recht und Sittlichkeit müsse bestraft und begrenzt werden, damit die Gesellschaft nicht verfällt. Was ist also zu tun? „Die vordringlichste Aufgabe“, formuliert Mausfeld seinen Appell im Epilog, „besteht mithin darin, in allen Bereichen gesellschaftlichen Lebens Schritt für Schritt an der Schaffung einer für einen solchen grundlegenden gesellschaftlichen Umbau fruchtbaren Atmosphäre zu arbeiten.“ Es könne aber nur gelingen, wenn sich die Einsicht durchsetze, dass alle Machtstrukturen ihre Existenzberechtigung nachzuweisen und sich in der Öffentlichkeit gegenüber zu rechtfertigen haben.

Im Hinblick auf die desolaten Verhältnisse heute sieht Mausfeld dringenden Handlungsbedarf. „Uns bleibt nicht mehr viel Zeit“, lautet seine Warnung. „Entweder beginnen wir angesichts des zivilisatorischen Abgrunds, in den uns die Entzivilisierung von Macht zu führen droht, entschlossen nach Höhlenausgängen aus dem ideologischen Gewölbe zu suchen und geeignete demokratische Schutzbalken gegen entfesselte Macht zu errichten. Oder wir finden uns mit dem Status quo gegebener Machtverhältnisse ab, schweigen weiter wie bisher und überlassen es nachfolgenden Generationen, über die Gründe unseres Nicht-Handelns und über die Gründe unseres Schweigens nachzudenken.“