Fördern unsere Schulen den demokratischen Geist?

Fördern unsere Schulen den demokratischen Geist?

Fördern unsere Schulen den demokratischen Geist?

Udo Brandes
Ein Artikel von Udo Brandes

Schulen funktionieren nicht so, wie es in den Schulgesetzen eigentlich vorgesehen ist: Sie fördern nicht kritisches Denken und einen demokratischen Geist, sondern Konformismus und einseitig ausgerichtete Weltbilder. Das ist in komprimierter Form die Kritik eines Gymnasiallehrers, der das getan hat, was in einer Demokratie eigentlich selbstverständlich sein sollte: Er übte Kritik an den Verhältnissen an seiner Schule, was ihm sehr viel Ärger eingebracht hat. Deshalb schrieb er sein Buch „Mensch, lern das und frag nicht!“, in dem er deutsche Schulbücher und den Schulunterricht an sich analysiert. Dies war nur möglich, weil er sein Buch unter einem Pseudonym (Hauke Arach) veröffentlichte. Unser Autor Udo Brandes interviewte den Pädagogen zu seinem Buch und seiner Kritik am Schulunterricht an deutschen Schulen.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Herr Arach, wenn ich die zentrale Aussage Ihres Buches richtig verstehe, dann vermitteln Schulen keineswegs nur Wissen und Fähigkeiten, die Menschen in einer Gesellschaft brauchen (also zum Beispiel die Fähigkeit des Lesens und Schreibens), sondern ihre Aufgabe besteht immer auch darin, dafür zu sorgen, dass die jungen Generationen die in der Gesellschaft vorherrschende Ideologie verinnerlichen. Wörtlich schreiben Sie: „Sie (die Schulen; UB) sollen die Jugend formen für die Stabilisierung des jeweiligen Gesellschafts-, Eigentums- und Ökonomiemodells, den Nachwuchs heranziehen für Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft, Militär und Kirche.“ Könnten Sie mal ein paar prägnante Beispiele dazu nennen, die Ihre These belegen?

Ein Mathematikbuch der späten 30er Jahre stellte folgende Aufgabe: „Ein Bomber hat eine Stundengeschwindigkeit von 240 km. Er fliegt um 8.00 Uhr von der Grenze über Köln nach deinem Heimatort. Wann kann dein Elternhaus schon in Flammen stehen?“ Die Vorbereitung des Luftkriegs, das Schüren von Angst vor dem Feind aus dem Westen war das politische Ziel dieser Aufgabe.

Das Geschichtsbuch Geschichte und Geschehen 5/6 aus dem Klett Verlag fordert in einer Aufgabe auf Seite 133 zu den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki die Schüler auf: „Diskutiert, inwieweit die Bombardierung der Zivilbevölkerung in Deutschland und Japan für ein rasches Kriegsende gerechtfertigt war.“

Was ist daran problematisch?

Die Aussage, die Bombardierung habe den Krieg schneller beendet, ist eine Lüge. Das erläutere ich in meinem Buch detaillierter. Aber dass ein Lehrer mit seinen Schülern diskutieren soll, nicht ob, sondern inwiefern ein Atomwaffeneinsatz gerechtfertigt werden kann, ist für mich der moralische Exitus und politisch gefährlich.

Können Sie noch weitere Beispiele nennen?

Unsere Geschichtsbücher pflegen das Feindbild Russland sehr subtil, aber massiv. Ein Politikbuch lobt den Lobbyismus, ohne den es kaum denkbar sei, dass die Politik ein einziges vernünftiges Gesetz zustande bringen könne, das hinterher praktikabel wäre. Das völlige Ausblenden des Finanzbereichs in allen Schulbüchern, egal, ob es um Kriege, die Deutsche Einheit mit der Aneignung der DDR-Betriebe seitens westlicher Konzerne, das Armhalten Afrikas durch wirtschaftliche Knebelverträge oder die einseitige Darstellung des Klimawandels geht. Es fehlen die reichlich vorhandenen alternativen wissenschaftlichen Stimmen zum Thema Klima.

Noch mal zurück zur zentralen Aussage Ihres Buches: Schulen vermitteln einseitig die Ideologien der herrschenden Eliten, anstatt kritisches Denken zu lehren.

Richtig. Wir haben gute Schulgesetze formuliert, die Wirklichkeit der Schulbücher aber ist skandalös weit von ihnen entfernt. Wer den mündigen Bürger heranziehen will, muss seinem Nachwuchs beibringen, dass eine Demokratie angewiesen ist auf einen öffentlichen Debattenraum und die Schüler lehren, einander zuzuhören und ihre Urteile im Streitgespräch herauszubilden – weil es immer verschiedene Perspektiven gibt. Unsere aktuellen Schulbücher verkünden aber bei strittigen Themen eine bestimmte, politisch erwünschte Position als Wahrheit. Gegenpositionen fallen unter den Tisch. Es dominieren – wie in den Medien auch – einseitig die Sichtweisen der Kapital- und Finanzinteressen. Das ist einer Demokratie nicht würdig.

Sie zitieren in Ihrem Buch unter anderem das Bayerische Schulgesetz. Dort heißt es: „Die Schülerinnen und Schüler sind im Geist der Demokratie, in der Liebe zur bayerischen Heimat und zum deutschen Volk und im Sinn der Völkerverständigung zu erziehen.“ Was ist schlecht daran, wenn eine Schule ihre Schüler im Geiste der Demokratie und Völkerverständigung erziehen soll? Oder wenn, wie es im niedersächsischen Schulgesetz heißt, Schüler über die Grundlagen des europäischen Humanismus orientiert werden sollen?

Nichts ist daran schlecht. Die Schulgesetze sind gut! Nur glaube ich, dass heute ein Schulbuch, das diesen Werten gerecht würde, keine Zulassung mehr bekommen würde. Viele Schulbücher müssten nach meinem Urteil mit Blick auf die Schulgesetze aus dem Verkehr gezogen werden. Zwischen der Norm der Gesetze und der Wirklichkeit der Bücher klafft ein Abgrund.

Jede Gesellschaft hat ein bestimmtes Weltbild und vertritt bestimmte Ideologien. Läuft der Vorwurf, Schulen vermitteln ideologische Inhalte, nicht ins Leere? In unserer Gesellschaft gibt es einen mehrheitlichen Konsens darüber, dass Frauen gegenüber Männern gleichberechtigt sind und in jeder Hinsicht selbst über ihr Leben bestimmen dürfen, was bis Mitte der siebziger Jahre noch nicht der Fall war. Da brauchten verheiratete Frauen noch die Zustimmung ihres Ehemannes, wenn sie einer Erwerbstätigkeit nachgehen oder ein Konto eröffnen wollten. Streng genommen ist die Gleichberechtigung der Frauen aber auch ein Weltbild, das Schulen vermitteln, um Jugendliche in diesem liberalen Sinne zu formen.

Die Gleichberechtigung der Geschlechter ist für uns wesentlicher Bestandteil einer demokratischen Gesellschaft. Auch ein demokratisches Schulsystem muss für seine Werte einstehen. Wenn die Schulen die Jugend in liberalem und demokratischem Sinne formen würden, wäre das genau das, was ich mir wünsche. Wenn sie aber eine andere Agenda verfolgen, die Agenda des Neoliberalismus, des großen Kapitals, des Abbaus demokratischer Elemente, der Verhinderung, sich ein eigenes Urteil zu bilden, dann haben wir ein Problem. Sind wir dann noch eine demokratische Gesellschaft?

Nehmen wir doch mal den Bereich Geschichte/Politik. Nennen Sie doch mal zwei Beispiele, in denen Ihrer Meinung nach Sachverhalte falsch oder ideologisch verzerrt dargestellt werden.

Die Kriegsschuldfrage von 1914 ist ein Beispiel. Das Schulbuch (Geschichte und Geschehen 3/4, Klett Verlag, für Klasse 9) sieht die Kriegsschuld nur auf der Seite Deutschlands. Das ist angesichts des aktuellen Forschungsstandes schlicht falsch. Frankreich, Russland und vor allem England waren an einem Stopp des weiteren Aufstiegs des Deutschen Reichs interessiert. Das ist inzwischen bestens herausgearbeitet. Damit ist die deutsche Verantwortung für den 1. Weltkrieg natürlich nicht vom Tisch. Ich würde dies aber als Mitverantwortung bezeichnen und dem Deutschen Reich nicht die Alleinschuld geben.

Ideologisch verzerrt ist die Darstellung Russlands. Oskar Lafontaine sagte auf der Feier zum 20-jährigen Jubiläum der NachDenkSeiten (im Video auf der Website ab Minute 1:13:00): „Der Antisemitismus ist verwerflich, aber der Antislawismus, der Russenhass, der jetzt gepredigt wird, der ist genauso verwerflich und ein Verrat an unserer Geschichte.“

Der deutsche Rassismus führte zu etwa sechs Millionen Morden an Juden, der Vernichtungskrieg im Osten Europas, auch rassistisch motiviert, kostete etwa 27 Millionen Sowjetbürgern das Leben. Das Schulbuch Geschichte und Geschehen 5/6 für Klasse 10 widmet dem Thema Holocaust circa 13 Seiten, der Darstellung des Vernichtungskrieges aber gerade mal eine halbe Seite, ohne ins Detail zu gehen. Verschweigen führt zu Nichtwissen. Antisemitismus wird heute zurecht bekämpft, Russenhass durch Verschweigen aber ermöglicht. Der Kontrast könnte nicht größer sein. Wüssten unsere Schüler (auch die ehemaligen), wie der Krieg in der Sowjetunion geführt wurde, wäre die Lieferung deutscher Waffen in die Ukraine für den Kampf gegen Russland kaum möglich, wäre die Aussage unserer Außenministerin „Wir sind im Krieg mit Russland“ ein Grund für einen sofortigen Rücktritt. Das war jetzt ein aktuell relevantes Beispiel. Mein Lieblingsbeispiel ist die Darstellung Afrikas. Es transportiert ein Afrikabild, das aus dem 19. Jahrhundert stammt.

Sie benutzen in Ihrem Buch immer wieder den Begriff „Demokratiemanagement“. Was verstehen Sie darunter? Und was stört Sie daran?

Demokratiemanagement beginnt mit der Entstehung der neuzeitlichen Demokratie in den USA. Es bedeutet, der Masse des Volkes Freiheit und Demokratie vorzugaukeln, sie aber von allen Entscheidungsprozessen fernzuhalten. Nur dadurch wird übergroßer Reichtum möglich, werden Kriege führbar. Walter Lippman, einer der großen Vordenker des Demokratiemanagements, schrieb 1931: „Was Wähler, wenn sie beunruhigt sind, am meisten wollen, ist, gesagt zu bekommen, was sie wollen sollen“. Und das geschieht heute wie damals über die Medien: Erst wird Angst erzeugt, dann folgt die Abhilfe durch Handlungsanweisungen von oben. Früher hieß das Propaganda, heute heißt es mal PR, mal Öffentlichkeitsarbeit.

Viele glauben, Wahlrecht bedeute Demokratie. Aber Wahlen haben auf die Politik kaum Einfluss. Angela Merkel sagte in einer Rede am 3.3.2010: „Wir können im Rückblick auf die Geschichte der Bundesrepublik sagen, dass all die großen Entscheidungen keine demoskopische Mehrheit hatten, als sie gefällt wurden“. Meine Schlussfolgerung aus diesen beiden Zitaten: In unserem Parteienstaat entscheiden nicht die Wähler, sondern die Parteien, und in den Parteien entscheiden kleinste Führungszirkel.

Was müsste Ihrer Meinung nach an deutschen Schulen bzw. im deutschen Bildungssystem verändert werden? Und wie könnte dies erreicht werden?

Das Wichtigste wäre, dass sich die Behörden aus der inhaltlichen Gestaltung des Unterrichts heraushalten. Mit Lehrplänen, Curricula und Schulbuchzulassungen regieren die Behörden tief in den Unterricht hinein. Zu Beginn meiner Dienstzeit sprach man von der „pädagogischen Verantwortung des Lehrers“. Das ist vorbei. Im Beutelsbacher Konsens von 1977 verboten die Kultusministerien jede Art von Indoktrination. Heute haben wir de facto das Gegenteil. Der erste Schritt zu einer besseren Schule wäre, das Problem in seiner Dimension überhaupt erst einmal zu sehen. Dazu möchte ich mit meinem Buch einen Beitrag leisten. Wobei ich mir bewusst bin: Solche Bewusstseinsveränderungen sind ein sehr langwieriger Prozess.

Hauke Arach: Mensch, lern das und frag nicht! Wie unsere Kinder für die Zukunft vorbereitet werden, Anderwelt Verlag 2023, 174 Seiten, 12,90 Euro.

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Titelbild: Pixel-Shot/shutterstock.com

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