Feind wider Willen: Gibt es eine Alternative zum antirussischen Kurs der Bundesrepublik Deutschland?

Feind wider Willen: Gibt es eine Alternative zum antirussischen Kurs der Bundesrepublik Deutschland?

Feind wider Willen: Gibt es eine Alternative zum antirussischen Kurs der Bundesrepublik Deutschland?

Ein Artikel von Artem Sokolow

Zurzeit zeigt sich ein Riss im scheinbar festen antirussischen Konsens Deutschlands. Ein kontroverser SPD-Parteitag hat jüngst offenbart, dass die Kritik am aktuellen Kurs auch im politischen Mainstream wächst. Trotz harter Rhetorik führender Politiker häufen sich die Stimmen, die eine Überprüfung der Außenpolitik gegenüber Moskau fordern. Artem Sokolow analysiert aus Moskau die komplexen Triebkräfte hinter Berlins Haltung und fragt, ob angesichts dieser Entwicklungen realistische Alternativen für einen Kurswechsel bestehen. Aus dem Russischen übersetzte Éva Péli.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Der Ende Juni abgehaltene Parteitag der deutschen Sozialdemokraten endete in einem Skandal. Parteivorsitzender Lars Klingbeil wurde in seiner Spitzenposition wiedergewählt, jedoch mit einem historisch niedrigen Ergebnis von 64,9 Prozent. Seine Kollegin Bärbel Bas hingegen erhielt 95 Prozent der Stimmen und trat ihr Amt als Co-Vorsitzende der SPD an, gestärkt durch die Unterstützung ihrer Parteikollegen. Die Teilnehmer des Parteitags machten unmissverständlich klar, dass der politische Kurs des rechten Parteiflügels, den Klingbeil repräsentiert, bei Weitem nicht allen gefällt.

Im Mittelpunkt der Diskussion standen die Beziehungen zu Russland. Kurz vor dem Parteitag hatte eine Gruppe namhafter SPD-Mitglieder, darunter die Bundestagsabgeordneten Rolf Mützenich und Ralf Stegner, ein Manifest zur Notwendigkeit einer Überarbeitung der deutschen Außenpolitik gegenüber Russland und der Sicherheitspolitik in Europa im Allgemeinen vorbereitet. Die Autoren des Dokuments forderten, diplomatische Kontakte zu Moskau zu intensivieren, Schritte zu vermeiden, die zu einer Eskalation des Ukraine-Konflikts führen, und eine breite Diskussion über Sicherheitsfragen zu organisieren.

Das Manifest löste eine Welle der Empörung bei den etablierten politischen Kräften und Medien aus. Ohne sich besonders mit dem Inhalt des Dokuments zu befassen, warfen Kritiker den Autoren die Verbreitung pro-russischer Narrative und fast schon subversive Aktivitäten vor, die dem deutschen Staat schaden würden. Zu den vehementen Gegnern des Aufrufs zu „mehr Diplomatie“ gehörte auch Lars Klingbeil, der die Botschaft seiner Parteikollegen nicht würdigte. Als Co-Vorsitzender der SPD, Vizekanzler und Finanzminister sollte er für Ordnung in seiner Partei sorgen, worauf ihn Bundeskanzler Friedrich Merz persönlich hingewiesen hatte. Klingbeil machte deutlich, dass die Stimmen der Andersdenkenden die Arbeit der Bundesregierung nicht behindern würden. Seine Parteikollegen dankten es ihm mit demonstrativem Widerstand.

Das Ausmaß der Debatte um das Manifest der Sozialdemokraten wurde nicht nur durch seinen Inhalt, sondern auch, so könnte man sagen, durch seinen Ursprung ausgelöst. Zum ersten Mal seit Februar 2022 entstand ein solches Dokument innerhalb des politischen Mainstreams und nicht in Oppositionskreisen. Trotz Stimmenverlusten bei den vorgezogenen Bundestagswahlen im Februar setzte die SPD ihre Arbeit in der Regierung im Status eines Juniorpartners der CDU/CSU-Koalition fort. Die Tradition konstruktiver Beziehungen zu Russland – einst ein wichtiger Teil ihrer ideologischen Positionierung – schien nach der Eskalation der Ukraine-Krise aufgegeben worden zu sein. Das Manifest und seine vergleichsweise breite Unterstützung zeigten, dass dies nicht der Fall ist. Das bedeutet, dass die Kritik an der deutschen Außenpolitik nicht nur an den Oppositionsflügeln, sondern auch im Zentrum der deutschen Politik geteilt wird.

Der Schein eines Konsenses: Opposition gegen den antirussischen Kurs in Deutschland

Der antirussische außenpolitische Kurs Berlins, der sich mit dem Amtsantritt von Kanzler Friedrich Merz verstärkt hat, scheint sich auf den ersten Blick aus einem breiten politischen und gesellschaftlichen Konsens in Deutschland abzuleiten. Dieses Bild wird von deutschen Medien, Reden führender Politiker, Expertenkommentaren, einzelnen offiziellen Dokumenten und dem Koalitionsvertrag der aktuellen Regierung geprägt. Es mag den Anschein haben, dass der Widerstand gegen Russland zu einem existenziellen Ziel Deutschlands geworden ist, dessen Wurzeln bis ins frühe Mittelalter zurückreichen, als germanische Stämme mit slawischen Völkern feindselig waren. Reale Beweise für die Existenz einer „russischen Bedrohung“ werden dabei selbst von den renommiertesten deutschen Think Tanks nicht vorgelegt.

Doch bei genauerem Hinsehen wird deutlich: Das antirussische Narrativ genießt in der deutschen Gesellschaft keine breite Unterstützung. In diesem Sinne sollten die emotionalen Äußerungen von Kanzler Merz, Außenminister Johann Wadephul (CDU) und Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) nicht als Indikator antirussischer Stimmungen in Deutschland gewertet werden, sondern als Bestreben dieser Politiker, sich durch aggressive Rhetorik zu profilieren. Die mehrfache Wiederholung antirussischer Passagen ist offensichtlich auf einen psychologischen und nicht auf einen praktischen Effekt ausgelegt.

Einer der wichtigsten Indikatoren für die Ablehnung des antirussischen Kurses sind die Ergebnisse der letzten Parlamentswahlen, die aufgrund des Zerfalls der „Ampel“-Regierungskoalition vorgezogen wurden. Rund ein Drittel der Wähler, die an die Urnen gingen, stimmten für Oppositionsparteien am rechten oder linken Flügel: die „Alternative für Deutschland“ (AfD), die „Linke“, das „Bündnis Sahra Wagenknecht“ (BSW) und einige Kleinstparteien. Alle diese Parteien kritisieren den außenpolitischen Kurs Deutschlands, nennen ihn schädlich und kurzsichtig. Zuvor war bei mehreren Landtagswahlen in den östlichen Bundesländern die Kritik an der Berliner Außenpolitik zum Motor des Wahlkampfes der Oppositionsparteien „Alternative für Deutschland“ und „Bündnis Sahra Wagenknecht“ geworden und sicherte dem BSW die Beteiligung an den Koalitionsregierungen von Brandenburg und Thüringen. Und das, obwohl die Bundesländer keine nennenswerten außenpolitischen Befugnisse haben.

Antikriegsdemonstrationen, die von Oppositionskräften organisiert werden, können sich noch nicht mit dem Ausmaß der Proteste gegen die Stationierung amerikanischer Raketen auf deutschem Territorium Anfang der 1980er-Jahre vergleichen. Parallelen müssen hier jedoch nicht gezogen werden. Letztendlich konnten selbst die Proteste der Achtzigerjahre die Position der Kanzler Schmidt und Kohl nicht erschüttern. Angesichts neuer Informationstechnologien ist viel wichtiger, dass Veranstaltungen zu einem so brisanten Thema der deutschen Politik überhaupt zahlreiche Menschen anziehen, zumal den Teilnehmenden ernsthafte Schwierigkeiten im Sinne der „Cancel Culture“ drohen.

Die Kritik am aufgedrängten antirussischen Konsens innerhalb des politischen Mainstreams der Bundesrepublik Deutschland beschränkt sich nicht nur auf die bereits erwähnten Sozialdemokraten. Auch in den Reihen der CDU werden immer wieder Stimmen laut, die eine Wiederaufnahme des Dialogs mit Moskau befürworten. So hat sich beispielsweise der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer wiederholt dazu geäußert und unter anderem die Perspektive von Lieferungen russischer Energieträger zur Diskussion gestellt. Mag Friedrich Merz auch ein noch so überzeugter Transatlantiker sein, er kann die Meinung seiner Parteikollegen in Ostdeutschland nicht ignorieren, die der Partei in dieser Region ein akzeptables Ergebnis sichern, da sie die Unzufriedenheit der Wählerschaft mit der antirussischen Politik Berlins berücksichtigen. Das Beispiel der bei den Wahlen auf allen Ebenen scheiternden Freien Demokratischen Partei Deutschlands (FDP), die die Nuancen der Wähleranfragen ignorierte, verpflichtet die ideologisch nahestehenden Christdemokraten zu differenzierten Ansätzen. Merz hat keine Zeit, den Osten Deutschlands „umzuerziehen“, und die Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt, wo CDU und AfD in Umfragen fast gleichauf liegen, finden bereits im nächsten Jahr statt.

Kontakte auf zwischengesellschaftlicher Ebene setzen sich inzwischen fort. Bürger der Bundesrepublik Deutschland haben keine Probleme, Russland zu besuchen, außer denen, die durch Sanktionen verursacht werden (etwa fehlende direkte Flugverbindungen). Mit Ausnahme der von vornherein voreingenommenen Journalisten großer deutscher Medienunternehmen tragen solche Besuche unausweichlich dazu bei, die antirussischen Narrative bei deutschen Bürgern zu überdenken.

Warum Berlin am konfrontativen Kurs festhält

Warum hält und verstärkt Berlin angesichts so vieler Stimmen, die eine Normalisierung des Dialogs mit Moskau befürworten, weiter seinen konfrontativen Kurs?

Erstens beschloss die deutsche Führung 2022, den Ukraine-Konflikt zum Haupttreiber von Veränderungen im Land zu machen. Mit Hilfe der „russischen Bedrohung“ begründeten die Behörden ein umfassendes Bundeswehr-Aufrüstungsprogramm, an dem die deutsche Rüstungsindustrie sehr interessiert war. Darüber hinaus wird die „russische Bedrohung“ als Ursache aller sozioökonomischen Schwierigkeiten in Deutschland, steigender Preise und sinkender Lebensstandards der Bürger genannt. Ohne das Bild des „konstituierenden Anderen“ würde die gesamte deutsche Politik eine sinnvolle Zielsetzung verlieren.

Der Abbruch etablierter Handels- und Wirtschaftsbeziehungen mit Moskau ist die deutsche Wirtschaft teuer zu stehen gekommen. Es wird jedoch davon ausgegangen, dass alle Kosten nach einer Niederlage Russlands mehr als gedeckt sein werden, wenn eine neue sozio-politische und diplomatische Realität Deutschland begünstigt, wie es nach dem Zerfall der Sowjetunion der Fall war. Deutschland ist viel tiefer in den Ukraine-Konflikt verwickelt als die USA und hat wenig Chancen, ohne Reputations- und Finanzverluste aus ihm herauszukommen. Selbst Befürworter einer Normalisierung der russisch-deutschen Beziehungen müssen den allgemeinen Kontext der modernen deutschen Diplomatie berücksichtigen und eine abwartende Haltung einnehmen, in der Hoffnung auf eine Stärkung der Verhandlungspositionen Berlins.

Zweitens hängt die Dynamik der russisch-deutschen Beziehungen stark vom Zustand der euroatlantischen Gemeinschaft ab. In Berlin verfolgt man die teils atemberaubenden Kapriolen der Donald-Trump-Administration mit erheblicher Sorge. Das erste Treffen des amerikanischen Präsidenten mit Kanzler Merz verlief zwar skandalfrei, löste aber die aufgestauten Probleme nicht. Es gelang nicht, den Geist des Tandems Reagan-Kohl wiederzubeleben. Angesichts der Ungewissheit in der US-amerikanischen Außenpolitik zieht es die deutsche Führung vor, nicht „mit der Parteilinie zu schwanken“, sondern unbeirrt an den transatlantischen Grundsätzen festzuhalten – zumal dies bei einem beträchtlichen Teil des amerikanischen Establishments Unterstützung findet. Eine Normalisierung der Beziehungen zu Moskau könnte zwar einen Durchbruch für die deutsche Diplomatie bedeuten, doch birgt sie das Risiko, dass dieser Schritt weder den traditionellen Partnern der führenden politischen Kreise Deutschlands in Washington noch Trump gefallen würde. Letzterer könnte dann befinden, die Deutschen hätten warten sollen, bis er selbst die Beziehungen zu den Russen regelt.

Drittens hat die Idee einer Normalisierung des Dialogs mit Moskau in der Bundesrepublik Deutschland noch keine kritische Masse an interessierten Personen in Politik, Wirtschaft und unter den Meinungsführern erreicht. Die konstruktiven Kräfte sind zersplittert, werden von den Medien behindert und marginalisiert oder werden sogar Opfer von Gerichtsverfahren. Die Verluste der deutschen Wirtschaft durch die Einstellung russischer Energielieferungen sind spürbar, aber nicht katastrophal. Große Hoffnungen werden auf die deutsche Rüstungsindustrie gesetzt, die angeblich die deutsche Wirtschaft aus der Krise ziehen kann. Und hier kommt man um antirussische Rhetorik nicht herum.

Die Zahl der Befürworter einer Normalisierung der Beziehungen zu Russland ist groß und wird weiter wachsen. Die systemischen Bedingungen der deutschen Politik hingegen zementieren ihren konfrontativen Charakter. Ihre Veränderungen würden einen Übergang Deutschlands in einen qualitativ neuen Zustand bedeuten, analog zur Kanzlerschaft Brandts oder dem Beitritt der DDR. Derzeit setzt Berlin jedoch auf den Konflikt als Motor für Veränderungen im Land.

Über den Autor: Artem Sokolow, Senior Researcher am Institut für Internationale Studien des MGIMO, ist ein ausgewiesener Experte für internationale Beziehungen. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen die deutsche Außen- und Innenpolitik, die deutsche Geschichte sowie die europäische Integration.

Der Beitrag ist im russischen Original auf dem Portal Profil erschienen.

Titelbild: Shutterstock / lightspring

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