In einem exklusiven Interview in Berlin gewährte der Ex-CIA-Analytiker Ray McGovern Einblicke in die aktuelle Weltlage. Gemeinsam mit seiner Kollegin Elizabeth Murray war McGovern für Gespräche und Veranstaltungen nach Deutschland gekommen. Als erfahrene Geheimdienstmitarbeiter setzen sie sich mit der Gruppe Veteran Intelligence Professionals for Sanity (VIPS) für den Frieden ein. McGovern, bekannt für seine kritische Haltung gegenüber der US-Außenpolitik, äußert sich in diesem Gespräch unter anderem zur russischen Sicherheitspolitik, der Rolle von Atomwaffen und der westlichen Reaktion auf aktuelle Konflikte. Er spart nicht an deutlicher Kritik an der deutschen Politik, insbesondere im Hinblick auf die Zerstörung von Nord Stream, und bewertet die Zukunft der NATO und das Konzept der „russischen Bedrohung“ neu. Das Interview mit Ray McGovern führte Éva Péli.
Éva Péli: Herr McGovern, das neue Buch der russischen Experten Dmitri Trenin, Sergej Karaganow und Sergej Awakjanz, das die aktuelle russische Sicherheitsstrategie formuliert, liegt nun auch auf Deutsch vor. Wie bewerten Sie die Perspektiven der russischen Experten zu dieser sicherheitspolitischen Neuausrichtung Russlands?
Ray McGovern: Karaganow kenne ich als Hardliner, als sehr harten Mann. Trenin scheint sehr gut vernetzt zu sein und steht meiner Einschätzung nach Putins engsten Beratern, seinen engsten Vertrauten, wahrscheinlich näher. Er verfügt sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in Russland über die nötige Erfahrung. Putin lässt Karaganow natürlich gewähren und Interviews führen, doch ich sehe ihn eher auf der extremen Seite, wo er beispielsweise in der Ukraine schneller und aggressiver vorgehen möchte.
Lange Zeit galt Dmitri Trenin als Brückenbauer zwischen dem Westen und Russland. Jetzt aber scheint sich seine Denkweise ähnlich wie die von Karaganow zu entwickeln. Einige Leute in Deutschland sagen, Trenin gehöre inzwischen auch zu den Hardlinern und radikalisiere sich.
Ich würde eher sagen, dass man angesichts der Ereignisse in der Ukraine nicht neutral bleiben konnte. Als Russland in die Ukraine einmarschierte, traf Trenin eine klare Entscheidung: Er konnte nicht in beiden Lagern stehen und musste sein Amt als Leiter vom Carnegie Institut in Moskau niederlegen. Das war eine bewusste Entscheidung. Ich halte ihn immer noch für sehr hörenswert. Ich habe großen Respekt vor Trenin und glaube, dass er in vielerlei Hinsicht Gehör gefunden hat. Er hat gerade einen Artikel veröffentlicht, den ich noch einmal lesen muss.
Ja, in diesem Artikel schreibt Trenin, dass eine multipolare Welt eine multipolare nukleare Welt sein wird.
Muss eine multipolare Welt eine multipolare Nuklearwelt sein? Ich frage mich, warum das behauptet wird, und hoffe sehr, dass es nicht so kommt.
Herr McGovern, russische Strategen sind besorgt, der Westen habe seine Furcht vor Atomwaffen verloren, was sie als Bedrohung für die Sicherheit Russlands interpretieren. Sie argumentieren, dass die gegenseitige Angst vor nuklearen Waffen während des Kalten Krieges eine stabilisierende Wirkung hatte und diese Angst daher wiederbelebt werden müsse. Wie bewerten Sie diese These und ihre Implikationen für die aktuelle globale Sicherheitsarchitektur?
Sie sprechen von einer nachlassenden Angst vor Atomwaffen in der Öffentlichkeit, einer Gewöhnung an deren Existenz, und dem stimme ich zu. Für meine Generation, die den realen Einsatz von Atomwaffen noch erlebt hat, ist die Perspektive eine andere. Die heutige leichtfertige oder oberflächliche Rhetorik von Politikern in Bezug auf Nuklearwaffen ist zutiefst beunruhigend. Es bedarf einer Rückkehr zur Vernunft.
Ich erinnere an John Kennedys Warnung: Die schlimmste Situation entsteht, wenn eine Atommacht vor der Wahl steht, sich zurückzuziehen oder Atomwaffen einzusetzen. Diese Grundregel des Kalten Krieges wurde bis zum Ukraine-Konflikt beachtet. Auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden keine direkten Drohungen gegen eine Atommacht ausgesprochen, da dies unweigerlich den Einsatz von Atomwaffen als ultima ratio zur Vermeidung einer Niederlage provozieren könnte.
Die Art und Weise, wie Russland im Kontext der Ukraine bedroht wird, ist daher irrational, es sei denn, man ist bereit, die Konsequenzen eines nuklearen Konflikts in Kauf zu nehmen. Diesen Punkt haben wir als „Veteran Intelligence Professionals for Sanity“ wiederholt hervorgehoben und versucht, der Biden-Regierung zu vermitteln – leider ohne erkennbares Interesse oder Gehör.
Die westliche Reaktion auf die russische Strategie scheint in erster Linie in weiterer Militarisierung, mehr Waffen statt Diplomatie zu bestehen. Wie schätzen Sie diese Entwicklung ein? Warum ist das so? Wäre durch Diplomatie nicht viel mehr zu erreichen?
Nun, wir wissen, dass die herrschende Meinung „keine Diplomatie, einfach weitermachen“ lautet. Es gibt jedoch einen wichtigen Unterschied: Präsident Trump hat signalisiert, mit den Russen sprechen zu wollen. Es gab bereits Treffen auf Außenministerebene, was neu ist und unter Biden nicht passierte. Dafür sollten wir dankbar sein. Man kann also nicht behaupten, Trump sei gegen Verhandlungen; tatsächlich war er es, der Anfang Mai die Zusammenkunft von Ukrainern und Russen sowie Russen und US-Amerikanern gefördert hat. Das ist alles positiv zu bewerten.
Andere Persönlichkeiten in Europa, wie zum Beispiel Merz, Macron und Starmer, lehnen Verhandlungen ab, und das kann ich nicht nachvollziehen. Ich habe keine Vorstellung, warum sie ein Risiko für einen Krieg in Europa eingehen wollen. Das ist verrückt, aber es ist Realität. Die Russen beobachten das und denken sich: „Mein Gott, die sind verrückt, und Trump ist unberechenbar.“
Wenn ich Putin beraten würde, würde ich ihm sagen: „Herr Putin, es sieht so aus, als wäre Trump zu einem Deal bereit. Er hat zwar viel Widerstand, aber er wird vielleicht nicht mehr lange im Amt sein. Die letzte Person, die versuchte, auf die Sowjetunion zuzugehen, war John Kennedy – und er wurde getötet. Herr Putin, bitte seien Sie sich bewusst, dass Sie möglicherweise nur ein begrenztes Zeitfenster für Verhandlungen mit Trump haben, bevor er die Bühne verlässt.“ Das wäre ein zusätzlicher Anreiz für Putin, zu sagen: „In Ordnung, wir sind flexibel. Wir wollen weder Polen noch die baltischen Staaten einnehmen. Herr Trump, gehen Sie und sagen Sie zu Hause, dass Sie uns überzeugt haben, Polen, die baltischen Staaten und nicht einmal die gesamte Ukraine einzunehmen. Sagen Sie ihnen das, Sie bekommen ein Versprechen, ich kann es auf ein Stück Papier schreiben. Geben Sie uns dann die Sicherheit einer Pufferzone, in der wir uns darauf verlassen können, nicht von verrückten Ukrainern angegriffen zu werden. Ansonsten müssen wir bis zum Äußersten gehen.“
Würde er das tun?
Ich glaube, Putin will aus guten Gründen nicht bis zum Äußersten gehen. Er will kein weiteres Vietnam. Die Menschen in der Ukraine würden zu einer echten Bedrohung, wenn das ganze Land eingenommen wird, es gäbe Terrorismus. Ich denke, er ist geduldig, er gewinnt, er hat keine Eile, und die ukrainische Armee wird wahrscheinlich vollständig außer Gefecht gesetzt sein, bevor es zu einer endgültigen Einigung kommt. Dann hängt es davon ab, wie viel Putin Trump zugestehen wird, um die Tatsache einer endgültigen Niederlage zu kaschieren, sodass Trump sich hinstellen und sagen kann: „Okay, das haben wir zu anständigen Bedingungen geregelt. Jetzt wenden wir uns, mein Gott, dem Nahen Osten und China zu.“ Gott weiß, was dann passiert.
Mein zentraler Punkt ist, dass wir hier eine Dr.-Jekyll-und-Mr.-Hyde-Dynamik sehen. Bezüglich der Ukraine ist Trump auf dem richtigen Weg, und deshalb sollten wir ihn nicht kritisieren. Es stimmt: Er schwankt und seine Positionen sind oft inkonsistent – die Russen nehmen dies ebenfalls wahr und kommentieren es. Doch sie sind bereit, langfristig zu denken, und diese Perspektive sollten auch wir einnehmen. Meine Ansicht widerspricht jenen Freunden, die Trump als bloßen Doppelzüngler im Iran-Konflikt sehen. Ich bin überzeugt, dass er dort von Netanjahu und bestimmten Neokonservativen aus seinem Umfeld in eine Falle gelockt wurde.
Man präsentierte ihm anfangs eine Situation, in der der Iran acht Stunden lang keine Luftverteidigung hatte. Trumps Reaktion darauf war: „Oh, das ist exzellent.“ Er brüstete sich sogar mit den Worten: „Ich weiß davon. Ich weiß alles.“ – ein direktes Zitat. Als die Iraner jedoch daraufhin die Oberhand gewannen, revidierte Trump seine Aussage mit: „Ich wusste nichts davon.“ Er sagte nicht „Ich weiß nichts“, sondern betonte sein fehlendes Vorwissen. Die Entwicklung zwang dann die Israelis, an Trump heranzutreten und dringend einen Waffenstillstand zu fordern, da die iranischen Aktionen ihre Infrastruktur massiv schädigten. Dem kam er nach.
Welcher war Ihrer Meinung nach Deutschlands größter Fehler in diesem Konflikt um die Ukraine? Welchen Spielraum hat die deutsche Regierung zwischen Russland und den USA? Und welche Empfehlungen würden Sie Berlin für eine Konfliktlösung geben?
Ich war bestürzt, dass Kanzler Scholz nichts gegen die Zerstörung von Nord Stream einzuwenden hatte. Das war ein schwerwiegender Fehler. Es zeigte, dass Deutschland, oder zumindest seine Führung, sich immer noch als Vasall der USA betrachtet.
Meine Botschaft an sie wäre: Werdet endlich erwachsen, um Himmels willen! Nach dem Krieg konnten wir ihre kindliche Haltung verstehen. In der Teenagerphase, unter Willy Brandt, gab es Anzeichen von Reife. Und als Willy Brandt kam, war er schon fast ein junger Erwachsener. Aber, mein Gott, was ist in den letzten Jahrzehnten passiert? Sie sind wieder in die Kindheit zurückgefallen. Sie sind nicht einmal mehr Jugendliche. Wir brauchen Erwachsene, die Deutschlands Interessen verteidigen.
Es ist erschreckend, dass die deutsche Bevölkerung nicht ausreichend informiert wird und somit keinen Einfluss auf Regierungsentscheidungen nehmen kann. Das ist keine Demokratie, sondern eine Oligarchie, kontrolliert von Medien, die wirtschaftlichen und militärisch-industriellen Interessen dienen und deren Befehle ausführen. Dies ist die größte politische Veränderung, die ich beobachtet habe: Es gibt keine freien Medien mehr, außer den alternativen. Deshalb schätze ich es sehr, hier interviewt zu werden und meine Erfahrung denen zur Verfügung zu stellen, die sich dafür interessieren.
Europa ist aktuell von einer „Koalition der Willigen“ geprägt, aber auch von Ländern wie Ungarn und der Slowakei, die davon abweichen. Angesichts dieser Uneinigkeit und der zahlreichen Konflikte: Wie schätzen Sie Europas nahe Zukunft ein?
Kurzfristig ändert sich wenig. Mittelfristig ist die NATO jedoch am Ende. Wenn Staaten wie die Slowakei, Ungarn und die Türkei abweichen, ist Artikel 5 unglaubwürdig. Fünf Prozent des BIP für Verteidigung? Das erscheint mir unrealistisch und unbezahlbar für die meisten Länder. Angesichts von Trumps ungewisser Zukunft in zehn Jahren glaube ich, die NATO steht vor dem Aus.
Das ist richtig so. Der Warschauer Pakt löste sich 1991 auf – wozu noch die NATO? Die „russische Bedrohung“ ist ein fiktives Konstrukt, um Budgets und Militärausgaben zu rechtfertigen. Es gab vor dem Kiewer Putsch keine Anzeichen dafür, dass Putin die Krim an Russland angliedern wollte. Russland konnte es sich nicht leisten, seinen wichtigsten eisfreien Hafen an die NATO zu verlieren. Wäre die NATO davon ausgegangen, damit durchzukommen, wäre das wahnwitzig gewesen. Wenn klar wird, dass diese Bedrohung konstruiert ist – wie die irakischen Massenvernichtungswaffen –, dann kann, sobald die Ukraine-Frage gelöst ist, ein Umdenken und Handeln einsetzen.
Titelbild: Éva Péli
Ray McGovern: Konzernmedien fahren schwere Geschütze in Ukraine auf
“Putin hat einen großen Bruder in Xi”
Neue Erkenntnisse zu Nordstream und Rolle der USA? – „Ich weise das mit Abscheu und Empörung zurück“