Kein Grund zum Feiern: 10 Jahre Hartz-Kommission

Christoph Butterwegge
Ein Artikel von Christoph Butterwegge

Am 22. Februar 2002 richtete die rot-grüne Regierung eine Kommission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ ein, die Peter Hartz, seinerzeit Personalvorstandsmitglied der Volkswagen AG, leitete und eigentlich nur Vorschläge zur Organisationsreform der Bundesanstalt für Arbeit (Umwandlung der Nürnberger Behörde in eine moderne Dienstleistungsagentur) machen sollte. Nachdem diese wegen gefälschter Vermittlungsbilanzen ins Kreuzfeuer der Kritik geraten war, nutzten die sozialdemokratischen und bündnisgrünen „Modernisierer“ den Skandal, um den von ihnen beklagten „Reformstau“ auf dem Arbeitsmarkt aufzulösen. Von Christoph Butterwegge.

Der vom damaligen Bundesarbeits- und Sozialminister Walter Riester im Einvernehmen mit Frank-Walter Steinmeier (seinerzeit Leiter des Kanzleramts) berufenen Kommission gehörten 15 Mitglieder an. Darunter befanden sich neben Hartz weitere Manager sowie mehrere Unternehmensberater, ein Kommunalpolitiker und zwei Wissenschaftler. Vor- und Zuarbeiten leistete die Bertelsmann Stiftung, deren Konzepte zur Liberalisierung des Arbeitsmarktes die Richtschnur des angestrebten Reformprozesses bildeten. Deutlich unterrepräsentiert waren die Gewerkschaften, ihr Dachverband, der DGB, ebenso wie Betriebsräte und Initiativen der Erwerbslosen als unmittelbar Betroffene gar nicht vertreten.

Peter Hartz, ein sympathisch wirkender, kumpelhaft auftretender und harmoniesüchtiger Technokrat, glaubte allen Ernstes, den Arbeitsmarkt, den Wohlfahrtsstaat und die ganze Gesellschaft nach dem Muster eines sozialpartnerschaftlich orientierten Automobilkonzerns (um)gestalten zu können. Daher weitete er den ursprünglich sehr eingeschränkten Aufgabenbereich der Kommission im Sinne seiner Auftraggeber mehr und mehr aus. Persönlich mit dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder befreundet und in Gewerkschaftskreisen wie im Unternehmerlager gut vernetzt, gelang es Hartz mit seiner offenen, umgänglichen und verbindlichen Art, Meinungsverschiedenheiten innerhalb der von ihm geleiteten Kommission auszutarieren sowie Einmütigkeit zwischen allen Mitgliedern herzustellen. Obwohl zwischenzeitlich ein Minderheitsvotum angekündigt worden war, gab es bei der einzigen Abstimmung (über den Bericht) keinen Widerspruch mehr. Ohne den geschickt als Moderator der Kommission und als öffentlicher Kommunikator ihrer Ergebnisse fungierenden Peter Hartz wäre dabei kein über fast alle Parteigrenzen hinweg als „Bibel der Arbeitsmarktreform“ gefeiertes Dokument herausgekommen.

Historischer Exkurs: Hartz in Weimar

Karl Marx zufolge wiederholt sich Geschichte bisweilen als Farce, wofür die Tatsache spricht, dass Peter Hartz einen Namensvetter hatte, der in der Weimarer Republik als Kritiker des Wohlfahrtsstaates hervortrat, die Leistungsfähigkeit des bestehenden Sozialsystems anzweifelte und mehr Privatinitiative forderte. Gustav Hartz war 1924 für ein paar Monate DNVP-Reichstagsabgeordneter. 1928 erschien sein Buch „Irrwege der deutschen Sozialpolitik und der Weg zur sozialen Freiheit“, in dem Gustav Hartz viele gegenwärtig aktuelle Fragen stellte, auch wenn er noch nicht dieselben Antworten (z.B. Einführung der Praxisgebühr) gab: „Geht man nicht bedenkenlos ein dutzendmal zum Arzt, wenn einmal genügte – nur weil es die Kasse bezahlt?“

Überall sah Gustav Hartz „Faulenzer und Drückeberger“ den Sozialstaat plündern, für die „kein denkender Arbeiter einen Pfennig Arbeitslosenbeiträge bezahlen“ wolle. Um „den Mißbrauch der ungerechten und unnötigen Inanspruchnahme“ unterbinden zu können bzw. „asoziale Elemente“ nicht mehr „auf allgemeine Unkosten reisen“ zu lassen, wollte Hartz die Hilfe auf tatsächlich Bedürftige konzentrieren, was er sozialdarwinistisch begründete: „Eine soziale Politik darf nicht mit der Sorge um die Kranken, Invaliden, Witwen, Waisen und Arbeitslosen die Förderung der Lebenstüchtigen, Leistungsfähigen und Arbeitenden vergessen.“ Wer würde da nicht an die Parole „Leistung muss sich wieder lohnen“ denken, die heutige Neoliberale im Munde führen?

Gustav Hartz klagte über „die Bleigewichte des Bürokratismus“ und forderte eine Abkehr von dem Glauben, „daß der Staat alles selber machen muß.“ Einer seiner Lieblingsbegriffe hieß damals schon „Reform“. Als möglicher Ausweg erschien Hartz der Aufbau individuell-familiärer Vorsorge, gekoppelt an die Pflicht zur „eigenverantwortlichen Selbsthilfe“. Von den Erwerbslosen sprach Gustav Hartz – in gewisser Weise entsprechende Überlegungen seines bekannteren Namensvetters vorwegnehmend – als „Kunden“ (noch in Anführungszeichen), die sich nach ihrer Entlassung „sofort bei der Arbeitsvermittlung zu melden“ hätten, damit diese sie kennen lerne und „die beste Kontrolle“ habe.

Die „staatliche Zwangsversicherung“ wollte Gustav Hartz abschaffen und ein System der privaten Vorsorge errichten, das auf individuelles Zwangssparen hinauslief. Hiervon versprach er sich einen Mentalitätswandel, der die Beschäftigten mit dem bestehenden Wirtschaftssystem aussöhnen sollte: „Es erscheint mir fraglos, daß eine ganz andere Auffassung bei den Arbeitnehmern über den Wert des Kapitals und bezüglich der Verantwortung für seinen Verbrauch und seine Mehrung entstehen muß, wenn jeder das Wachsen seines Kapitals täglich bzw. wöchentlich vor Augen hat.“

An die Stelle der gesetzlichen Sozialversicherung wollte Gustav Hartz „soziale Gemeinschaften“ (Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, Genossenschaften, Religionsgemeinschaften usw.) mit von ihnen betriebenen „Sozialsparkassen“ treten lassen. Arbeitgeberbeiträge, die zwar noch nicht als „Lohnnebenkosten“ und „Standortnachteil“ dämonisiert wurden, den etablierten Parteien aber schon damals ein Dorn im Auge waren, sollten dem Bruttolohn zugeschlagen und 15 Prozent davon als Sparbetrag abgeführt werden. Um ihrer Sparpflicht nachkommen und genügend Kapital im Rahmen der Sozialkassen ansparen zu können, sollten die Arbeitnehmer/innen täglich mindestens neun Stunden im Büro oder Betrieb verbringen: „Eine Stunde Mehrarbeit am Tage, als Sparstunde genützt, würde weit sozialer wirken, als der Achtstundentag je an sozialer Wirkung zeitigen kann.“

Betrachtet man den heutigen Demografiediskurs und die damit verbundenen Horrorszenarien eines vom Aussterben bedrohten Volkes wirkt Gustav Hartz ebenfalls modern. Kostensteigerungen und Krisenerscheinungen des Sozialversicherungssystems führte er auf die demografische Alterung zurück: „Diese ‚Vergreisung‘ unseres Volkes hat eine dauernd steigende Zahl der Rentner und eine fortgesetzt steigende Rentenzahlungsdauer und absinkenden Beitragseingang im Gefolge.“ Man erlebe gerade das Vorspiel einer Tragödie, meinte Gustav Hartz weiter: „In einer Reihe von Jahren sind nicht mehr genug junge beitragszahlende Menschen da, die in der Lage sind, die Summen aufzubringen, die zur Ernährung einer immer größer werdenden Zahl von Alten und Invaliden nötig werden.“ Entweder müssten die Beiträge um nahezu das Doppelte steigen oder die Renten um etwa die Hälfte sinken.

Außerdem hielt Gustav Hartz eine „Höherbesteuerung der Ledigen und Kinderlosen“ für sinnvoll, die zu fordern man nicht wage, weil „der Mut zu einer positiven Bevölkerungspolitik“ fehle. Heute gibt es Vorstöße wie jenen der „Jungen Gruppe“ von 18 CDU/CSU-Bundestagsabgeordneten, die unter dem Titel „Für eine solidarische Demografie-Rücklage!“ eine Sonderabgabe für Kinderlose ab 25 Jahren fordern. Gustav Hartz schrieb damals Sätze voller Pathos: „Mit aller Deutlichkeit muß jedem zum Bewußtsein gebracht werden, daß die Zukunft unseres Volkes und Reiches eine ausreichende und gesunde Kinderschar und daß der Mensch immer noch das wertvollste ‚Produkt‘ ist. Wer an der Zukunft unseres Volkes durch eigene Kinder keinen Anteil hat – oder haben kann –, der soll wenigstens die Gegenwart für die Kinderreichen materiell erträglich gestalten helfen.“

Die Vorschläge der Hartz-Kommission und ihre legislative Umsetzung

Zurück zu Peter Hartz und seiner Kommission: Diese setzte nicht, wie es nötig gewesen wäre, bei den Ursachen der Massenarbeitslosigkeit, sondern auf der Erscheinungsebene an. Statt die jüngsten Strukturveränderungen des Kapitalismus zu analysieren und daraus ein in sich schlüssiges Konzept der Krisenbewältigung mittels seiner Beeinflussung durch eine aktive Wirtschafts-, Struktur- und Beschäftigungspolitik abzuleiten, trat sie der Erwerbslosigkeit Problem hauptsächlich im staatlich-administrativen und im Vermittlungsbereich entgegen. So konnten höchstens Symptome, nicht aber die Ursachen des Problems bekämpft werden. Gleichzeitig verfestigte sich der Eindruck, dass es die Betroffenen letztlich selbst verschulden, weil sie keinen Arbeitswillen zeigen, zu wenig Eigeninitiative entfalten und nur deshalb nicht sofort nach ihrer Kündigung eine neue Stelle finden.

Der im Unternehmensberatersprech gehaltene, 344 Seiten umfassende Kommissionsbericht enthielt 13 „Innovationsmodule“, darunter die Einrichtung von „JobCentern“, die „Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe“, bei den in „Agenturen für Arbeit“ umgetauften Arbeitsämtern einzurichtende Personal-Service-Agenturen (PSA), die „Familien-AG“ bzw. „Ich-AG“ (Unwort des Jahres 2002), die steuerliche Abzugsfähigkeit von privaten Dienstleistungen (Schaffung von Mini-Jobs in Privathaushalten), der „JobFloater“ und nicht zuletzt ein „Masterplan“, mit dem die „Profis der Nation“ das Ende der Arbeitslosigkeit herbeiführen sollten.

Bei der feierlichen Präsentation des Abschlussberichts seiner Kommission am 16. August 2002 im Französischen Dom der Bundeshauptstadt hob Peter Hartz ausdrücklich hervor, die Zahl der registrierten Arbeitslosen lasse sich damit in drei Jahren („bis zum 16. August 2005“) um 2 Millionen verringern. Gerhard Schröder, Walter Riester und sein Nachfolger, Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement (damals: SPD), wurden denn auch nicht müde zu versichern, die Bundesregierung wolle das Hartz-Gutachten „im Verhältnis 1:1“ umsetzen, was sich jedoch als unmöglich erwies.

Mit vier Gesetzen „für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ bemühte sich die bei der Bundestagswahl am 22. September 2002 knapp behauptete rot-grüne Koalition, einen Teil der Kommissionsvorschläge in Verwaltungshandeln umzusetzen. Da die Vorstellungen der liberal-konservativen Bundesratsmehrheit zur Deregulierung des Arbeitsmarktes weit über „Hartz“ hinausgingen, die beiden Regierungsparteien aber einen Konsens mit ihr anstrebten, wurde das Reformprojekt auch in seinen gar nicht zustimmungspflichtigen Teilen im Laufe eines langwierigen Vermittlungsverfahrens radikalisiert. Dies gilt für die Ausweitung des möglichen Einsatzbereichs und die „Entbürokratisierung“ der sog. Mini- bzw. Midi-Jobs ebenso wie für die Möglichkeit, Zeitarbeitnehmer/innen schlechter zu entlohnen als die Stammbelegschaften der entleihenden Firmen, und die Kürzung von Transferleistungen.

Bislang gab es eine Dreiteilung der Transferleistungen in Arbeitslosengeld (Alg), Arbeitslosenhilfe (Alhi) und Sozialhilfe. Schon lange vor Einrichtung der Hartz-Kommission beklagten Kritiker eine Politik der „Verschiebebahnhöfe“, weil manche Kommunen „ihre“ Sozialhilfebezieher/innen (meist für die Dauer eines Jahres) in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse brachten, um nach deren Beendigung nicht mehr für sie aufkommen zu müssen. Anschließend waren nämlich zuerst die Bundesanstalt für Arbeit (Zahlung von Arbeitslosengeld) und sodann der Bund (Zahlung von Arbeitslosenhilfe) für die ehemaligen Sozialhilfeempfänger/innen zuständig. Insofern war es plausibel, dass die Hartz-Kommission vorschlug, die Arbeitslosenhilfe durch ein „Arbeitslosengeld II“ zu ersetzen, dessen Bezug sie folgendermaßen regeln wollte: „Anspruch auf diese Fürsorgeleistung haben alle arbeitslosen und erwerbsfähigen Personen, die bedürftig sind, solange und soweit sie auf entsprechende Hilfen angewiesen sind, damit das Eingliederungsziel erreicht werden kann.“

Während sich die Hartz-Kommission in ihrem Bericht zur Höhe des Arbeitslosengeldes II nicht geäußert hatte, sagte Gerhard Schröder am 14. März 2003 in seiner Bundestagsrede, die unter dem Titel „Agenda 2010“ bekannt wurde, man müsse die Zuständigkeiten und Leistungen für Erwerbslose in einer Hand vereinigen, um die Chancen derjenigen zu erhöhen, die nicht nur arbeiten könnten, sondern auch wirklich wollten: „Das ist der Grund, warum wir die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenlegen werden, und zwar einheitlich auf einer Höhe – auch das gilt es auszusprechen –, die in der Regel dem Niveau der Sozialhilfe entsprechen wird.“ Hiermit schob der Bundeskanzler nicht nur den Erwerbslosen die Schuld an ihrem Schicksal zu, sondern bestätigte auch die Stammtischweisheit, wonach man nur die Arbeitslosenunterstützung auf das Existenzminimum senken muss, um die Betroffenen zur Annahme einer Stelle zu zwingen.

Was sich wegen des Zwittercharakters der Arbeitslosenhilfe – sie war einerseits durch Beitragszahlungen begründet und von der früheren Höhe des Arbeitsentgelts ihres Beziehers/ihrer Bezieherin abhängig, andererseits steuerfinanziert und bedürftigkeitsgeprüft – aufzudrängen schien, nämlich ihre „Verschmelzung“ mit der Sozialhilfe, führte in der Art, wie man dies mit Hartz IV tat, zu einer finanziellen Schlechterstellung vieler hunderttausend Menschen, die (eine höhere) Alhi erhalten hatten und nun auf das Sozialhilfeniveau herabgedrückt wurden oder ganz leer ausgingen. Traf die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe besonders ältere Arbeitnehmer, die sie bis zur Rente beziehen wollten, sind Familien, Kinder und Jugendliche die Hauptleidtragenden der relativ niedrigen Pauschalierung früher zusätzlich gewährter und nunmehr im Regelsatz aufgegangener Beihilfen, die als sog. wiederkehrende einmalige Leistungen etwa der Beschaffung von Winterkleidung, der Reparatur einer Waschmaschine oder dem Kauf von Schulbüchern für Kinder und Jugendliche dienten.

Das wie die Kommission nach deren Vorsitzendem benannte Gesetzespaket markiert eine historische Zäsur für die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates, aber auch von Armut bzw. Unterversorgung in der Bundesrepublik. Die sog. Hartz-Gesetze, vor allem das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, waren der gravierendste Eingriff in das deutsche System der sozialen Sicherheit seit 1945. Während Hartz IV mit der Arbeitslosenhilfe zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg eine für Millionen Menschen existenziell wichtige Sozialleistung abschaffte und die Repression gegenüber Erwerbslosen verstärkte, indem diese genötigt wurden, Beschäftigungsmöglichkeiten fast „zu jedem Preis“ oder „Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung“ (sog. 1-Euro-Jobs) anzunehmen, bildete das die Arbeitslosenhilfe ersetzende Arbeitslosengeld II, welches treffender „Sozialhilfe II“ hieße, eine Subvention für Unternehmer, die Lohndumping betrieben. Seine Höhe orientierte sich nicht mehr am früheren Nettoverdienst, sondern brach mit dem Prinzip der Lebensstandardsicherung und warf arbeitslose Facharbeiter und Ingenieure, die trotz jahrzehntelanger Berufstätigkeit nicht sofort eine neue Stelle fanden, nach einer kurzen Schonfrist auf das Sozialhilfeniveau von Personen zurück, die nie erwerbstätig gewesen waren.

Die rot-grünen Arbeitsmarktreformen errichteten eine Rutsche in die Armut, weil Erwerbslose nach einer Bezugszeit des Arbeitslosengeldes (I) von in der Regel höchstens 12 Monaten bloß noch ein Arbeitslosengeld II als reine Fürsorgeleistung bekommen. Armutspolitisch hatten die als „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ firmierenden Transferleistungen einen Doppeleffekt: Hartz IV machte zumindest einen Teil der vorher verdeckten Armut sichtbar, erzeugte aber zugleich weitere. Einerseits nehmen heute auch viele Geringverdiener/innen, sog. Freiberufler/innen und (Solo-)Selbstständige das Arbeitslosengeld II in Anspruch, die aus Gründen der Scham oder des persönlichen Stolzes nicht zum Sozialamt gegangen wären, um „Stütze“ zu beantragen, andererseits erhalten Millionen Langzeitarbeitslose, die früher Empfänger/innen von Arbeitslosenhilfe gewesen wären, seither weniger oder überhaupt kein Geld mehr, weil das Einkommen gut verdienender Ehemänner, Lebenspartner oder Mitbewohner im Rahmen des Konstrukts der „Bedarfsgemeinschaft“ bei Hartz IV sehr viel strikter auf den Leistungsanspruch der Antragsteller/innen (überwiegend Frauen) angerechnet wird.

In den Hochglanzbroschüren, die Hartz IV der Bevölkerung u.a. mit Hilfe des Werbeslogans „Fördern und Fordern“ nahe bringen sollten, wurde besonders hervorgehoben, dass erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger/innen nunmehr Alg II (Grundsicherung für Arbeitsuchende) erhalten, renten-, kranken- und pflegeversichert werden sowie in den Genuss der BA-Maßnahmen zur Arbeitsförderung kommen. Verschwiegen wurde, dass man Letzteres auch hätte bewirken können, ohne die Arbeitslosenhilfe als eine auf höherem Niveau angesiedelte Leistungsart abzuschaffen. Fast alle Sozialhilfebezieher/innen wurden im Eigeninteresse der kommunalen Entscheidungsträger von diesen als erwerbsfähig eingestuft, wodurch eine andere Schnittstellenproblematik mitsamt einem neuen „Verschiebebahnhof“ entstand.

Weil das Alg II als ergänzende Sozialleistung zu einem sehr niedrigen Lohn konzipiert war, hebelte es die Mindestlohnfunktion der Sozialhilfe aus. Armut, in der Bundesrepublik lange Zeit eher ein Rand(gruppen)phänomen, drang durch Hartz IV zur gesellschaftlichen Mitte vor, weil dieses Artikelgesetz die Prekarisierung von Beschäftigungsverhältnissen förderte. Einerseits sollte die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe bzw. die Abschiebung der Langzeitarbeitslosen in die Wohlfahrt den stark defizitären Staatshaushalt entlasten, andererseits wollte man durch die Einschüchterung der Betroffenen mehr „Beschäftigungsanreize“ schaffen. Über das am 1. Januar 2005 in Kraft getretene Gesetzespaket erreichte die Angst vor dem sozialen Absturz die Mittelschicht. Angst erzeugt im politischen Raum häufig irrationale Reaktionen, während sie im persönlichen Bereich zu Apathie und Resignation führt.

Seit den Hartz-Gesetzen müssen Grundsicherungsbezieher/innen auch Stellen annehmen, die weder tarifgerecht noch ortsüblich entlohnt werden. Nicht nur der Berufs- und Qualifikationsschutz, sondern auch die Würde der Betroffenen blieben bei den neuen Zumutbarkeitsregelungen auf der Strecke. Da nur noch die Sittenwidrigkeit als Sperre gilt (Frauen wurden gleichwohl bisweilen auf Beschäftigungsmöglichkeiten im Rotlichtmilieu verwiesen), steht den persönlichen Betreuern („Fallmanagern“) der Hartz-IV-Betroffenen ein großes Drohpotenzial gegenüber ihren „Kund(inn)en“ zur Verfügung. Deutlicher ausgedrückt: Noch mehr als bisher war der Willkür gegenüber Erwerbslosen damit Tür und Tor geöffnet.

Drastische Leistungskürzungen und verschärfte Zumutbarkeitsklauseln zwingen Erwerbslose, ihre Arbeitskraft zu Dumpingpreisen zu verkaufen, wodurch das Lohnniveau in der Bundesrepublik sinkt. Nicht zuletzt dadurch haben die sog. Hartz-Gesetze den Wohlfahrtsstaat und die (sozial)politische Kultur unseres Landes in wenigen Jahren stärker verändert, als dies zuvor Regierungs- und Regimewechsel, ja vielleicht sogar beide Weltkriege vermocht hatten. Vor allem Hartz IV führte zur Verschärfung der sozialen Schieflage im Land, zur Ausweitung der (Kinder-)Armut bis in die Mitte der Gesellschaft hinein und zu einer Verbreiterung des Niedriglohnbereichs. Letzteres war gewollt, wie die Tatsache zeigt, dass Bundeskanzler Gerhard Schröder auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos am 28. Januar 2005 kein Hehl aus der Freude seiner Regierung darüber machte, „einen der besten Niedriglohnsektoren“ in Europa geschaffen zu haben: „Wir haben einen funktionierenden Niedriglohnsektor aufgebaut, und wir haben bei der Unterstützungszahlung Anreize dafür, Arbeit aufzunehmen, sehr stark in den Vordergrund gestellt.“

Die genannten Reformen tragen Züge einer sozialpolitischen Zeitenwende, wie es sie zuletzt am Ende der Weimarer Republik gab. Bedingt durch katastrophale Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf die öffentlichen Haushalte, durfte die (mit dem Arbeitslosengeld II vergleichbare) „Krisenfürsorge“ seit 1932 das Niveau der allgemeinen Fürsorgeleistungen nicht mehr übersteigen. Was damals als „Aussteuerung“ der Arbeitslosen bezeichnet wurde, die schrittweise Herabstufung und Bestrafung von ökonomisch nur noch schwer Verwertbaren durch staatlichen Leistungsentzug, wiederholte sich bei Hartz IV auf vergleichbare Art und hielt auch semantisch Einzug in die Regierungspraxis. Problematisch erschien der – später in „Eingliederungsbeitrag“ umbenannte – „Aussteuerungsbetrag“ (in Höhe von ca. 10.000 EUR), den die Bundesagentur für Arbeit seither für jeden Arbeitslosen an den Fiskus entrichten musste, der nicht mehr das beitragsfinanzierte Alg (I) von ihr, sondern das steuerfinanzierte Alg II vom Staat erhielt.

In einer Gesellschaft, die immer mehr Bereiche der ökonomischen Verwertungslogik unterwirft, überrascht es nicht, dass sogar die Vermittlung von Arbeitslosen zwischen dem Bund und seiner dafür zuständigen Agentur auf der Basis monetärer Steuerungsmechanismen geregelt wird. Fehlanreize entstanden dabei insofern, als sich die BA folgerichtig auf vorübergehend Arbeitslose konzentrierte, während die Vermittlung von Langzeitarbeitslosen, also „schwierigeren Kunden“, nun auch finanziell weniger „lohnend“ erschien. Um die nötigen Summen zur Bezahlung der „Geldstrafe“ aufzubringen, kürzte man noch mehr als bisher im Arbeitsförderungsbereich, etwa bei Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung.

Aufgrund seiner Verwicklung in den sog. VW-Skandal um „Lustreisen“ für Manager wie Betriebsräte wurde Peter Hartz im Januar 2007, knapp fünf Jahre nach Einsetzung der Kommission, vom Landgericht Braunschweig zu einer Gefängnisstrafe auf Bewährung und einer hohen Geldstrafe verurteilt. Persönlich diskreditiert, hat sich Hartz seither aus der Öffentlichkeit weitgehend zurückgezogen. Wer allerdings glaubt, das von der Hartz-Kommission entwickelte Konzept zur Gesellschaftsentwicklung sei heute nicht mehr aktuell, irrt sich gewaltig. Den „überschuldeten“ Ländern im Euro-Raum wird es gerade als wirtschafts-, arbeitsmarkt- und sozialpolitisches Patentrezept empfohlen oder per Fiskalpakt aufoktroyiert. Ebenso wie die Absenkung des Rentenniveaus à la Riester (Teilprivatisierung der Altersvorsorge), Rürup (Einführung des „Nachhaltigkeitsfaktors“) und Müntefering (Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters) ist das Lohndumping à la Hartz zu einem Exportschlager der Regierung Merkel/Rösler geworden.

Gleichzeitig droht eine politische Legendenbildung: Deutschland, so heißt es allenthalben, werde mit der Finanz-, Wirtschafts- und Währungskrise deshalb besser fertig als andere Staaten und erlebe gerade ein „Beschäftigungswunder“, weil die Hartz-Reformen einen robusteren und flexibleren Arbeitsmarkt geschaffen hätten. Was ihren Beitrag zum Rückgang der Erwerbslosigkeit betrifft, hielten sich die Erfolge der Hartz-Gesetze freilich in engen Grenzen. Empirisch belegt ist, dass sich die durchschnittliche Dauer der Erwerbslosigkeit seit ihrem Inkrafttreten nicht verkürzt hat. Trotz des Wachstumsschubs im ersten Halbjahr 2011, vom damaligen Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle als „Aufschwung XXL“ gefeiert, ist die Zahl der Langzeitarbeitslosen kaum gesunken und hat die Zahl der Schwerbehinderten sogar zugenommen. Für den Anstieg der Beschäftigung, die häufig prekärer Art ist, sorgten die konjunkturell bedingte Zunahme der Arbeitsplatzangebote einerseits und die Aufspaltung früherer sozialversicherungspflichtiger Vollzeitstellen andererseits. Neben gezielten Maßnahmen der Bundesregierung zur Bereinigung der Arbeitslosenstatistik (Über-58-Jährige, die ein Jahr lang kein Arbeitsangebot bekommen haben, sind dadurch ebenso herausgefallen wie Menschen, die einen privaten Arbeitsvermittler haben) wirkten sich die kurzzeitig anziehende Weltkonjunktur und eine deutsche Exportoffensive aus, deren zweifelhafter Erfolg allerdings maßgeblich zu den ökonomischen Ungleichgewichten beitrug, die weniger leistungsstarke Länder wie Griechenland, Portugal und Spanien in eine Schuldenkrise trieben und heute den Euro destabilisieren.

Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Kürzlich sind seine Bücher „Armut in einem reichen Land“ sowie „Krise und Zukunft des Sozialstaates“, jeweils um die jüngsten Hartz-IV-Neuregelungen aktualisiert, bei Campus (Frankfurt am Main/New York 2012) bzw. im VS – Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden 2012) erschienen.

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