Stefan Kühl: Der Sudoku-Effekt – Hochschulen im Teufelskreis der Bürokratie. Eine Streitschrift

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Vergleichbarkeit, Zweigliedrigkeit, „European Credit Transfer and Accumulation System“ – kurz ECTS –, Modularisierung, Workload, Akkreditierung, Evaluation, Qualitätssicherung, das sind nur einige der Schlagworte, die sich mit einer Studienreform verbinden, die in Deutschland zusammenfassend als Bologna-Prozess bezeichnet wird.
Der Bielefelder Soziologieprofessor Stefan Kühl hat in seiner Streitschrift[*] den Versprechen der Bologna-Reform die – für manche – überraschenden negativen Folgen gegenüber gestellt. In der Einleitung seines Buches kommt er zu folgendem Resümee:
„Es bildeten sich so immer mehr die Konturen einer Kunstwährung heraus, die mit Eigenschaften des Transfers, Sammelns, Speicherns und Tauschens aufgeladen wurde. Gerade unter Planungsgesichtspunkten erhielt die Kunstwährung ECTS so eine hohe Attraktivität, weil plötzlich viele vorher eher im Dunkeln von Seminaren, Vorlesungen und Studierstuben ablaufenden Prozesse wenigstens von ihrem Zeitaufwand her berechen-, kontrollier- und planbar erschienen. Das Ergebnis war jedoch eine bis dahin nicht gekannte Komplexitätssteigerung in der Konzeption und Durchführung von Studiengängen an den Universitäten, die sich mit dem Begriff des „Sudoku-Effekts“ am besten erfassen lässt.“

Komplexitätssteigerung als Folge einer Hochschulreform – eine Einleitung

…Wenn man die Abschlusserklärung der Bildungsminister liest, die sie auf ihrer Konferenz in Bologna kurz vor der Wende zum 21. Jahrhundert verkündeten, fühlt man sich fast an einen religiösen Text erinnert, wenn beispielsweise unter dem Titel „Europäischer Hochschulraum“ nicht weniger als ein „Europa des Wissens“ versprochen wird, in dem den „Bürgern die notwendigen Kompetenzen für die Herausforderungen des neuen Jahrtausends“ vermittelt werden sollen (Bologna-Erklärung 1999: 1f.)…

Die Kritik an der Bologna-Reform erscheint angesichts dieser Versprechen fast als Blasphemie. Mit Formulierungen wie ein „Studieren alla bolognese“ machen sich die Kritiker über eine Reform lustig, die ihrer Meinung nach Studierende zu Wissensmarionetten verkommen lässt. Wenn man von den „Bildungs-Taliban“ hört, die im Namen von Bologna die Universitäten systematisch zerstören, die Diagnosen von „Humboldts Albtraum“ liest und sieht, wie der unaufhaltsame „Niedergang der Universität“ an die Wand gemalt wird, kann man fast den Eindruck gewinnen, dass die durch die europäischen Bildungsminister angestoßenen Veränderungen an den Hochschulen als ähnlich gefährlich eingeschätzt werden wie eine Übernahme der Hochschulen durch islamische oder christliche Fundamentalisten…

Die Versprechen der Bologna-Reform

Auf den ersten Blick überraschen diese Kontroversen, denn die Ziele der Studienreform alla Bologna sind so formuliert, dass niemand dagegen sein kann…

Weil die Universitäten lediglich sicherstellen müssten, dass die in ihren Fachbereichen erbrachten Studienleistungen mit denen anderer Universitäten vergleichbar sind, sie gleichzeitig aber alle Freiheiten zur Ausbildung eigener Profile hätten, würde sich – so die Hoffnung der Bildungsplaner – der Wettbewerb zwischen den Universitäten um gute und motivierte Studierende verstärken. Da die Möglichkeiten der Ministerien, über Rahmenstudienordnungen auf die Gestaltung von Studiengängen Einfluss zu nehmen, stark reduziert werden, könnten sich die Universitäten ohne aufwendige staatliche Genehmigungsformen mit attraktiven Studiengängen dem Wettbewerb um Studierende nicht nur aus Europa, sondern gerade auch von außerhalb des europäischen Hochschulraums stellen. Diejenigen Hochschulen, die ihre Studiengänge am konsequentesten umbauen, würden, so das pathetische Versprechen, „langfristig im Wettbewerb um die ‚besten Köpfe‘ gewinnen“…

Die überraschenden Folgen der Bologna-Reform

Das Mittel der Wahl zur Herstellung der Vergleichbarkeit ist – neben einem zweigliedrigen Aufbau des Hochschulstudiums in ein grundständiges Bachelorstudium und ein aufbauendes Masterstudium – besonders die verpflichtende Einführung eines Punktesystems, mit dem der Zeitaufwand der Studierenden für jede Veranstaltung, jede Prüfung, jede Laborphase, jedes Praktikum im Voraus genau kalkuliert werden soll. Dieses System mit dem etwas umständlichen Namen „European Credit Transfer and Accumulation System“ – kurz ECTS – soll es ermöglichen, Studienleistungen, die beispielsweise an der Université Paris-X-Nanterre erbracht wurden, problemlos mit Studienleistungen an der Universität Bielefeld und der Oxford University zu vergleichen – und weitergehend dann auch gegenseitig zu verrechnen…

Ob die hehren Ziele der Bologna-Reform erreicht werden, ist heftig umstritten und wird vermutlich noch längere Zeit umstritten sein…Einen Effekt hat die Bologna-Reform jedoch sowohl aus Sicht der Verfechter als auch der Kritiker auf alle Fälle hervorgerufen – eine bis dahin nicht dagewesene Steigerung der Komplexität. Die Komplexität der Studiengangsplanung wird inzwischen von Beobachtern mit der sozialistischen Planwirtschaft verglichen. „Wie weiland in der staatlich gesteuerten Ökonomie des Ostblocks“ vergeblich versucht wurde, „die Karotten und Stahlträgerernte der nächsten fünf Jahre bis auf die einzelne Wurzel und bis auf die konkrete Tonne Stahl“ vorauszuberechnen, werde jetzt, so Armin Nassehi (2009), vergeblich versucht, für alle Studiengänge einen „vollständig durchgeplanten Studienverlauf“ zu erstellen…

(Man braucht) keine ausgefeilte Methodik, um die Komplexitätseffekte der Bologna-Reform zu bestimmen. Eine – zugegebenermaßen willkürliche – Anschauungsempirie wird in den meisten Fällen ausreichen.

Erstens: Bologna stellt ganz neue Anforderungen an das „Studierendenverwaltungswesen“. Die Effekte der Komplexitätssteigerung könnte man messen, indem man an den einzelnen Universitäten die Zunahme von Stellen im Bereich der Prüfungsämter, der Studiengangsverwaltung oder der Justiziariate erfasst. Aber häufig reicht schon der sogenannte „Schlangentest“ aus. Schon bei dem Gang durch ein Institut oder eine Fakultät kann man anhand der Schlangen vor den Türen mit einem Blick erkennen, wo die Engpässe in der Betreuung von Studierenden liegen. Die längsten Schlangen von Studierenden bildeten sich bisher vor den Türen derjenigen Professoren, die entweder besonders populär sind oder wegen ihrer Präsenz auf Fachkongressen, auf Gutachterreisen oder in Massenmedien so selten anwesend ist, dass sie in ihren wenigen Präsenzzeiten an der Uni eine große Menge von Studierenden abfertigen müssen. Der Bologna-Prozess scheint in vielen Universitäten jetzt jedoch dazu geführt zu haben, dass sich die längsten Schlangen nicht mehr vor den Türen des Lehrpersonals bilden, sondern vor den Türen des Prüfungsamtes. Wer es nicht glaubt, möge einfach einmal selbst den Test an seiner Universität machen.

Zweitens: Studierende sind für Lehrende „Black Boxes“. Man weiß nicht genau, was in ihren Köpfen vor sich geht, womit sie sich gerade beschäftigen, was sie umtreibt. Jedoch können die Fragen, die sie an die Lehrenden richten, als grober Indikator für das dienen, was sie gerade beschäftigt. Den Komplexitätsgrad eines Studiengangs kann man deshalb daran erkennen, mit welchen Fragen Studierende gerade zu Beginn eines Seminars, einer Vorlesung oder einer Übung auf den Lehrenden zukommen. Man könnte dabei den Eindruck gewinnen, dass sich durch die Einführung der Bachelor- und Masterstudiengänge die Fragen zu einem nicht unerheblichen Teil von inhaltlichen Aspekten der Veranstaltung zu Fragen der Anrechenbarkeit verschoben haben. Nicht selten scheinen sich Lehrende ganze Sitzungen lang mit Fragen der Art zu beschäftigen, ob man in dieser Veranstaltung auch zwei Leistungspunkte mehr erwerben kann, ob statt einer Hausarbeit auch das noch durch die Studienordnung verlangte Referat gehalten werden darf oder an wie vielen Sitzungen man teilnehmen muss, um die aktive Teilnahme bestätigt zu bekommen.

Drittens: Den Komplexitätsgrad kann man auch daran ausmachen, wie gut Lehrende ihre Studiengänge kennen. Die Regelungs- und Vernetzungsdichte der sich vervielfältigenden Bologna-Studiengänge scheint inzwischen so hoch zu sein, dass Lehrende häufig selbst die eigenen Studiengänge nicht mehr verstehen. Angesichts der Komplexität der Studiengänge können Fragen nach Leistungsnachweisen, nach Verrechenbarkeit von Modulen oder nach zu belegenden Veranstaltungen im Rahmen eines Studiengangs von den Professoren häufig selbst nicht mehr beantwortet werden. Wenn überhaupt, durchschauen nur noch die Spezialisten in der Studienberatung und in den Prüfungsämtern die Besonderheiten der jeweiligen Studiengänge. Wer dies einmal überprüfen will, muss einfach nur versuchen, sich von einem beliebigen Lehrenden den Bachelor- oder Masterstudiengang erklären zu lassen, in dem er oder sie regelmäßig unterrichtet.

Die Ursachen der Komplexitätssteigerung

Wie ist es zu dieser Komplexitätssteigerung im Zuge der Bologna-Reform gekommen?

Komplexitätssteigerung entsteht… dadurch, dass plötzlich ganz andersartige Elemente – beispielsweise neben den Veranstaltungen auch ECTS-Punkte oder Module – bei Entscheidungen zusätzlich mit in Betracht gezogen werden müssen und diese Elemente auch noch auf ganz verschiedene Art und Weise miteinander in Beziehung gesetzt werden müssen…

Die Komplexitätssteigerung im Bologna-Prozess wurde dadurch erzeugt, dass die in ECTS-Punkten berechneten Seminare, Übungen, Vorlesungen, Klausuren, Hausarbeiten und mündlichen Prüfungen in „thematischen Containern“ – sogenannten Modulen – zusammengefasst werden und alle diese verschiedenartigen Elemente auf vielfältige Art und Weise miteinander kombiniert werden können, ohne jedoch beliebige Kombinationsmöglichkeiten zuzulassen. Im Sinne einer „flexiblen Studiengangsgestaltung“ sollen Module nicht jeweils nur mit einem anderen Modul kombiniert werden, weil ein Modul im Idealfall in verschiedenen Studiengängen verwendet werden soll. Aber auch die Kombination von jedem Modul mit jedem anderen Modul – im Prinzip eine stark komplexitätsreduzierende Maßnahme – wird untersagt, weil es wenig Sinn macht, Studierenden im Rahmen eines Studiengangs die beliebige Kombination so unterschiedlicher Module wie „Probleme des Genitivs und Dativs“, „Anwendungen der Integralrechnung“, „Geschichte des Nationalstaates“ und „Enzymbildung“ zu ermöglichen…

Die Bürokratisierung komplexer Beziehungsmöglichkeiten

Die Komplexitätssteigerung durch die Einführung von in ECTS-Punkten berechneten und in Modulen zusammengefassten Veranstaltungen und Prüfungen wäre … kein Problem, wenn sie entsprechende Mechanismen der Selbstorganisation auslösen würde. Aber genau diese Mechanismen der Selbstorganisation scheinen sich im Rahmen der Bologna-Reform nicht auszubilden. Die Ursache dafür ist, dass die Kombination von Lerneinheiten nicht den Selbstorganisationsfähigkeiten von Studierenden überlassen werden kann. Schließlich kann man, so die nachvollziehbare Logik, es den Studierenden ja nicht selbst anheimstellen, wie sie die verschiedenen an einer Universität angebotenen Veranstaltungen und Prüfungen miteinander kombinieren, sondern man muss in Studien- und Prüfungsordnungen, in Fächerspezifischen Bestimmungen und in Modulhandbüchern genau definieren, wie die jeweils mit Zeitstunden hinterlegten Module – und die in sie eingebetteten Veranstaltungen und Prüfungen – miteinander kombiniert werden dürfen und wie nicht. Statt curricularem Laisser-faire, wo Studierende alles mit allem kombinieren könnten, müssten, so die Argumentation, den Studierenden die Wahlmöglichkeiten durch „Ordnungen“ genau vorgegeben werden.
Diese verbindliche Festlegung von Kombinationsmöglichkeiten, auf deren Anerkennung man sich nicht nur innerhalb der Universität, sondern auch außerhalb der Universität verlassen kann, hat einen Namen: Bürokratie

Die Herausforderung in Bezug auf das Management der Komplexität besteht darin, dass die sich mit der Bologna-Reform vervielfältigenden Kombinationsmöglichkeiten von Veranstaltungen und Prüfungen, deren Zeitaufwand jeweils in der neuen Berechnungseinheit „ECTS-Punkte“ ausgedrückt und in Modulen zusammengefasst wird, in den Ordnungen rechtssicher fixiert werden müssen. Wer sich die Dimension eines solchen Unterfangens vor Augen führen will, muss nur die im Rahmen der Bologna-Reform in Form von Studien- und Prüfungsordnungen, Fächerspezifischen Bestimmungen und Modulhandbüchern festgehaltenen diesbezüglichen Regelungen einer einzigen Hochschule in ihrer Papierfassung auf einen Stapel legen und diesen dann mit den Studien- und Prüfungsordnungen aus der Zeit vor Bologna vergleichen.
Angesichts der Vervielfältigung von rechtssicher fixierten Regelungen wird die Bologna-Reform häufig als massive Bürokratisierung der Universitäten wahrgenommen. Ein „starrer Schematismus“ mit „aufgeblähten Verwaltungen“, „exzessiven Modularisierungen“, „überflüssigen Akkreditierungen“, „vervielfachten Graduierungen, „unnötigen Evaluierungen“, „verwirrenden Zertifizierungen“ und „zahllosen Reglementierungen“ überziehe, so die Klage, „wie ein Schimmelpilz die europäischen Universitäten“ (Liessmann 2009: 7). Die Zurechnung von Leistungspunkten für jeden Handgriff der Studierenden verlange von Universitäten inzwischen nicht nur eine „hochkomplexe Logistik“, sondern auch „ausgeprägte bürokratische Fähigkeiten“ von Studierenden und Lehrenden (Steinert 2010: 311). Angesichts des „Bürokratismus“ an den Hochschulen wird es häufig nur noch als Hohn wahrgenommen, dass die Bologna-Reform – mit ihrer Reduzierung der staatlichen Vorgaben – immer noch als eine Entscheidung gegen die Bürokratisierung der Hochschulen verkauft wird (vgl. Gaston 2010: 37).

Aber wie ist es im Rahmen der Bologna-Reform zu dieser Bürokratisierung in den Hochschulen gekommen? Weswegen hat die Zurücknahme detaillierter staatlicher Regulierungen nicht zu einer Abnahme, sondern zu einer Zunahme von Verregelungen geführt?

Jenseits der Suche nach den üblichen Verdächtigen

…Die europäischen Bildungsminister, die Assoziation europäischer Hochschulen und der Dachverband der nationalen Studierendenvertretungen in Europa, die alle die Grundprinzipien der Bologna-Reform unterstützen, fühlen sich durch den Vorwurf, dass der Bologna-Prozess von einem „ökonomistisch“ verengten Konzept von Bildung ausgehe, schlichtweg nicht angesprochen, weil sie die Bologna-Reform als ein breites Bildungskonzept verstehen, in dem es darum geht, Studierende in ganz unterschiedlichen Feldern zu fördern und zu fordern…

Sicherlich: Die Rolle, die die Anlehnung an Wirtschaftslogiken in der Umgestaltung des Hochschulwesens zurzeit spielt, darf nicht unterschätzt werden. Viele Hochschulleitungen übernehmen – mehr oder minder gedrängt durch die Bildungsministerien – aus der Wirtschaft Managementkonzepte wie Leistungsvereinbarungen, Qualitätssicherung oder Controlling – in der Regel, ohne sich vorher über die paradoxen Effekte, die diese Managementkonzepte in den Unternehmen produziert haben, zu informieren. Die Einrichtung von durch Externe besetzten „Aufsichtsräten“ an Universitäten in verschiedenen europäischen Ländern führt wegen der in der Regel fehlenden Detailkenntnisse der Räte, der seltenen Ratssitzungen und der Abhängigkeit von der Zuarbeit der Stabsstellen der Hochschulen erst einmal nur zur erheblichen Stärkung der Hochschulleitung, aber vermutlich sickert die eine oder andere Formulierung von einem aus einem Unternehmen oder einer Gewerkschaft stammenden Hochschulrat schon einmal in die Strategieentscheidung eines Rektorats ein. Und auch der Würgereiz, den manche Universitätsangehörige angesichts von teilweise aus der Wirtschaft übernommenen Begriffen wie „Employabilität“, „Kompetenzorien-tierung“ und „Kundenzentrierung“ oder anderen zusammengesetzten Sprachblasen-Collagen bekommen, ist nachvollziehbar.
Aber eines darf nicht übersehen werden: Geplant und verabschiedet werden die Regelungen für Studiengänge zu allererst auf der Ebene der einzelnen Institute, Fachbereiche und Fakultäten…Der primäre Ansprechpartner für die Bürokratisierungstendenzen der neuen Studiengänge sind also die Institute, Fachbereiche und Fakultäten, aus denen häufig die lautesten Klagen über die Entwicklungen an den Hochschulen zu kommen scheinen…

Die These von den ungewollten Nebenfolgen

Die Komplexitätsexplosion an den Hochschulen, die damit verbundene Bürokratisierung des Studiums und auch die in den meisten Fällen damit einhergehende Verschulung kann, so die These, nicht vorrangig auf die Intentionen oder auch nur Ungeschicklichkeiten einzelner Personen zurückgeführt werden. Kaum ein Studiengangsplaner setzt sich hin und überlegt, wie er die Wahlmöglichkeiten für Studierende zum Beispiel in einem Masterstudiengang möglichst auf null reduzieren kann. Keine Arbeitsgruppe zur Studienreform entwickelt bewusst Strategien, um Studierenden im Rahmen ihres Studiums möglichst viele Kontakte zum Prüfungsamt zu ermöglichen. Kein Dekanat bringt bewusst eine Kurzbeschreibung eines Studienganges in die Fakultätskonferenz ein, die so kompliziert ist, dass die Details nur noch von den Spezialisten in der Studienberatung verstanden werden können.
Die Komplexitätssteigerung mit einer damit einhergehenden Bürokratisierung der Studiengänge kann vielmehr – ein Konzept des Soziologen Robert Merton verwendend – als „ungewollte Nebenfolge“ der Einführung eines neuen Instruments der Studiengangsplanung und -steuerung identifiziert werden: der Einführung der ECTS-Punkte als einer Art Kunstwährung zur Bestimmung des Arbeitsaufwandes von Studierenden. Diese ursprünglich lediglich für den Vergleich und Transfer von Studienleistungen zwischen zwei Universitäten geschaffene Kunstwährung wurde im Rahmen des Bologna-Prozesses mit immer mehr zusätzlichen Eigenschaften aufgeladen. Die ECTS-Punkte können von Studierenden in kleinen, bei den Prüfungsämtern angesiedelten elektronischen Schließfächern gesammelt werden, sie können – Stichwort „lebenslanges Lernen“ – auch über einen längeren Zeitraum gespeichert werden, um sie später einmal als Element für Qualifikationen nutzen zu können. Sie können transferiert werden, um sich Leistungen, die man an einer Universität erworben hat, an einer anderen Universität anrechnen zu lassen. Und sie können gegen ein definiertes Produkt – einen Bachelor- oder Masterabschluss – getauscht werden…

Es ist nicht zu bestreiten, dass die Umstellung auf ein zweigliedriges Studium, die Zusammenfassung von Veranstaltungen und Prüfungen in Modulen, die Ersetzung von Abschlussprüfungen durch studienbegleitende Prüfungen und die Definition von kompetenzorientierten Lernzielen – sogenannte „learning outcomes“ – jeweils eigene Herausforderungen für die Hochschulen mit sich bringen. Aber die Schwierigkeiten der Hochschulen mit diesen neuen Elementen sind erst in Kombination mit der Einführung von ECTS-Punkten als einer neuen Kunstwährung zu verstehen…

Kleine Punkte, große Wirkung – Zur Einführung einer neuen Kunstwährung

ECTS-Punkte „sind“, so die Formulierung im typischen Bürokratendeutsch – oder sollte man Bürokrateneuropäisch sagen – „ein quantitatives Maß für die Gesamtbelastung des Studierenden“ (KMK 2004: 3). Schon bei dieser technokratisch klingenden Definition setzte bei einigen Lehrenden, die nur an der Abhaltung eines guten Unterrichts für ihre Studierenden interessiert sind, das Interesse am Verstehen und Nachvollziehen dieser Kunstwährung aus. Es dauerte deswegen einige Zeit, bis alle Lehrenden und Studierenden mühsam erlernt hatten, dass diese zur allgemeinen Verwirrung auch häufig Leistungspunkte genannten Einheiten keine beschönigende Bezeichnung für Noten darstellen, sondern dass mit ihnen die Zeitstunden gemessen werden, die ein „durchschnittlicher Student“ mit der Vorbereitung des Lehrstoffs, der Prüfungsvorbereitung, der Abfassung einer Hausarbeit, der Absolvierung eines Praktikums und der Anfertigung einer Abschlussarbeit verbringt…

Durch die ECTS-Punkte soll es also – so jedenfalls die Vorstellung der Bildungsplanung – möglich sein, jede Stunde, die ein Studierender mit seinem Studium verbringt, im Voraus zu kalkulieren. Dabei wird – in der Regel, ohne systematisch empirische Erhebungen über faktisches Studierverhalten in verschiedenen Studiengängen herangezogen zu haben – davon ausgegangen, dass der Student Otto Normalverbraucher und die Studentin Erika Mustermann in Deutschland, Ungarn, Rumänien oder Belgien durchschnittlich im Semester 900 Stunden studieren (30 Leistungspunkte, wobei ein Leistungspunkt für 30 Stunden steht), während österreichische, spanische und kroatische Normalstudierende lediglich 750 Stunden pro Semester mit ihrem Studium verbringen (30 Leistungspunkte pro Semester, wobei ein Leistungspunkt für 25 Stunden steht). Die so errechneten Stunden pro Semester werden dann auf die Stunde genau auf die Anforderungen, die an einen Studierenden mit Unterricht, Unterrichtsvorbereitung, Prüfungsvorbereitung, Prüfung und Praktika in einem Semester gestellt werden, heruntergebrochen…

ECTS-Punkte – Das zentrale Element zum Verständnis der Hochschulreform

Vor der Einführung des ECTS-Systems bestand das Interesse der Universitäten lediglich darin, sicherzustellen, dass Studierende eine vorgeschriebene Anzahl von Vorlesungen, Seminaren, Übungen, Hausarbeiten, Klausuren und mündlichen Prüfungen erfolgreich absolvierten. Gezählt wurde lediglich in der vermutlich für Außenstehende kompliziert klingenden Einheit der „Semesterwochenstunden“ – also den Stunden, die ein Studierender während des Semesters pro Woche in Veranstaltungen verbringt…

Die Renaissance der Arbeitswerttheorie an den Hochschulen

Mit der Einführung des ECTS-Systems und der damit einhergehenden Verrechnung von Leistungen in Zeitstunden wurde jetzt – für Beteiligte, die ihr Studium in den siebziger Jahren absolviert haben, vermutlich bewusst, für die meisten Beteiligten jedoch unbewusst – eine alte volkswirtschaftliche Idee, die Arbeitswerttheorie, in die Praxis umgesetzt (vgl. dazu Keller 2008: 49f.; Liessmann 2008: 110). Nach der auf Karl Marx – und davor besonders auf den Nationalökonomen David Ricardo – zurückgehenden volkswirtschaftlichen Arbeitswerttheorie wird der Wert einer Ware nicht durch die auf dem Markt zu erzielenden Preise bestimmt, sondern einzig und allein durch die Arbeitszeit, die zu ihrer Herstellung notwendig ist. Mit Karl Marx lässt sich die Idee hinter den ECTS so formulieren, dass der „Wert einer Ware“ – hier also einer Studienleistung – durch „die zu ihrer Herstellung erforderliche Arbeitsmenge“ bestimmt wird. Deswegen müsse der „Wert der Arbeit“ – bei Marx der Arbeitslohn, beim ECTS die Bescheinigung von Studienleistungen – „gleichfalls durch die Arbeitsmenge bestimmt werden, die zu seiner Herstellung erforderlich ist“ (Marx 1953: 487)…

Das Problem bei der Einführung von „ECTS-Punkten“ als neue Kunstwährung besteht darin, dass man sie nicht einfach nur für das Eintragen in Anwesenheitslisten in Vorlesungen, das Absitzen in Seminaren, das Nachweisen von am Schreibtisch verbrachten Lesezeiten oder das Abfassen von Papieren vergeben kann. Schließlich geht es in Universitäten auch nach der Post-Bologna-Logik nicht vorrangig um den Nachweis von Anwesenheiten, sondern um den Nachweis des Erlernten, Reflektierten und Angewendeten. Deswegen muss – so jedenfalls die Vorstellung der Bologna-Vordenker – noch mal abgeprüft werden, ob die in ECTS gemessene aufgewendete Zeit des Studierenden auch wirklich zum Wissenserwerb geführt hat. Über schriftliche Klausuren, Multiple-Choice-Klausuren, Referate, Arbeitsberichte, mündliche Prüfungen oder Hausarbeiten müsse, so die an den meisten Universitäten dominierende Vorstellung, von den Studierenden bewiesen werden, dass die mit dem Studium verbrachte Zeit „Effekte“ hat. Nur für einen solchen durch Prüfungen zertifizierten Wissenserwerb dürften dann letztlich ECTS-Punkte vergeben werden…

In welchen Einheiten werden Leistungen erworben und getauscht? Zur Bedeutung der Module

Aus nachvollziehbaren Gründen ist es jedoch kompliziert, den mit jedem einzelnen ECTS-Punkt verbundenen Wissenserwerb abzuprüfen. Bei 180 Leistungspunkten, die man für das Eintauschen gegen einen Studienabschluss in einem Bachelorprogramm braucht, würde das in drei Jahren 180 Einzelprüfungen bedeuten. Aber auch die Abprüfung jeder mit zwei, drei oder vier Leistungspunkten bemessenen Übung, Vorlesung oder Seminarveranstaltung würde bei einem Bachelor zu dreißig bis fünfzig Einzelprüfungen in drei Jahren führen. In einigen Universitäten mag das unter Bologna-Bedingungen inzwischen Realität geworden sein (leider ist das an sehr vielen Hochschulen der Fall (WL)), aber an den meisten Universitäten wird dies gerade auch aufgrund der Belastung für das korrigierende Lehrpersonal als nicht machbar eingeschätzt.
Allein durch die Verrechnung aller Studienleistungen in „ECTS-Punkte“ und die Konditionierung der Vergabe von ECTS-Punkten an eine bestandene Prüfung ist eine Sogwirkung für die Einführung von Modulen entstanden, in denen thematisch ähnliche Vorlesungen, Seminare und Übungen zusammengefügt werden und das dort zu vermittelnde Wissen durch eine einzige Prüfung abgenommen werden kann (siehe dazu schon Rüttgers 1997: 3). Diese Module müssen, so die Vorgabe in den meisten Ländern, mit Inhalten und Qualifikationszielen, mit Lehrformen, mit Voraussetzungen für die Teilnahme, mit Verwendbarkeit des Moduls und mit den Voraussetzungen für die Vergabe von Leistungspunkten beschrieben werden. Es muss also bis ins Detail festgelegt werden, welche Vorlesungen, welche Seminare und welche Übungen im Rahmen des Moduls belegt werden müssen, welche Klausuren zu schreiben sind, welche Essays und Hausarbeiten abzufassen sind und wie viel Zeit die Studierenden für die Vor- und Nachbereitung von Sitzungen verbringen sollen. Der Wert der Kunstwährung ECTS zeigt sich also erst, wenn das Lernpensum in Module gegossen ist.
Auch wenn die ECTS-Punkte der Einführung von Modulen in einer Reihe von europäischen Staaten den Weg bereitet haben, darf nicht übersehen werden, dass sich hinter der Modularisierung ein seit längerer Zeit propagiertes hochschuldidaktisches Konzept verbirgt (vgl. dazu Huber 2001: 50ff.). Schon in den Reformdiskursen nach dem Zweiten Weltkrieg hat es immer wieder die Forderung gegeben, unterschiedliche Veranstaltungstypen und Lernformen in thematisch orientierte Module zusammenzufassen (siehe nur die durch die Studentenbewegung in den späten 1968er Jahren inspirierten Überlegungen von Weizsäckers 1970). Aber während der Modulgedanke in vielen Ländern in der Nachkriegszeit lediglich ein Gedankenspiel war, das höchstens in Pilotprojekten von Reformuniversitäten einmal ausprobiert wurde, hat die Einführung der Kunstwährung ECTS dem Modularisierungsgedanken europaweit den entscheidenden Schub versetzt…

Zum Management einer Kunstwährung – Die Rolle von Akkreditierung, Qualitätssicherung und Evaluation

Wie bei jeder Währung muss auch bei den Leistungspunkten verhindert werden, dass die Tauscheinheit einfach von jedem selbst hergestellt wird. Dabei scheint das Risiko nicht so sehr darin zu bestehen, dass sich jeder Studierende in mühsamer Heimarbeit seine ECTS-Punkte selbst „bastelt“. Eine Gefahr wird vielmehr darin gesehen, dass Billiganbieter ihre eigenen ECTS-Punkte auf den Markt bringen. Schließlich braucht es ja lediglich eine Einrichtung, die Studierenden gegen entsprechende monetäre Entlohnung Leistungspunkte ausstellt, ohne dass für das Erreichen dieser Leistungspunkte ein entsprechender Aufwand aufgebracht werden musste.
Die Rolle des Hüters einer Bildungswährung kann von verschiedenen Institutionen übernommen werden. Das am längsten erprobte Verfahren besteht darin, dass der Staat jeden Studiengang genehmigt und die Studierenden automatisch in diesen mit einem staatlichen Gütesiegel ausgestatteten Studiengängen ECTS-Punkte erwerben können. Eine andere mit der Etablierung des europäischen Hochschulraumes geschaffene Möglichkeit besteht darin, die Genehmigung von Studiengängen an halbstaatliche oder gar private Akkreditierungsagenturen auszulagern. ECTS-Punkte können in dem Fall nur dann zwischen Universitäten getauscht und am Ende gegen einen Studienabschluss eingelöst werden, wenn sie im Rahmen eines offiziell akkreditierten Studiengangs erworben wurden. Man kann aber auch – so die dritte Möglichkeit – die Genehmigung der Studiengänge in die Hand von Hochschulen geben, darauf vertrauend, dass gerade die staatlichen Universitäten schon kein Schindluder mit der Vergabe von ECTS-Punkten treiben werden…

Die Genehmigung eines Studiengangs durch Bildungsministerien, Akkreditierungsagenturen oder Universitäten allein reicht aber nicht aus. Schließlich wird dadurch lediglich sichergestellt, dass die Planung eines Studiengangs inklusive der Berechnung der Arbeitsstunden der Studierenden den Bologna-Kriterien entspricht. Ob sich im alltäglichen Betrieb beispielsweise eine zu laxe Vergabe von ECTS-Punkten einschleicht, die Arbeitsbelastung in einzelnen Modulen durch überdimensionierte Anforderungen eines Lehrenden überdimensional anwächst oder der Erwerb von ECTS-Punkten in der Praxis nicht ausreichend durch Prüfungen abgesichert wird, kann nur durch eigene Sicherungsmechanismen der Universität kontrolliert werden.
Die Etablierung einer Kunstwährung an den Universitäten wurde deswegen mit einer Diskussion über Mechanismen des „Qualitätsmanagements“ an Universitäten verquickt…

Das Qualitätsmanagement an Universitäten kann sich deswegen – abgesehen von der Gewährleistung, dass überhaupt irgendeine Form von Evaluation in den Lehrveranstaltungen stattfindet – nur auf die Einhaltung formaler Standards konzentrieren. Somit sind durch die Europäische Union finanzierte Handreichungen auch voller Aussagen, dass durch ein universitätsweites Qualitätsmanagement sichergestellt werden muss, dass der Zeitaufwand für jeden ECTS-Punkt realistisch eingeschätzt wird, dass der benötigte Zeitaufwand der Studierenden regelmäßig überprüft wird und dass bei Diskrepanzen die kalkulierten ECTS-Punkte, die Lernziele oder die Lernmethoden angepasst werden müssen. Es wird zur „guten Praxis“ erklärt, dass alle Module eines Studiengangs mit „geeigneten Lernzielen“ beschrieben werden und für jede Komponente eines Moduls klare Informationen über die zu vergebenden Kreditpunkte verfügbar sind (European Communities 2009: 18 und 26). Mit diesem Verfahren wird zwar nicht sichergestellt, dass die Studierenden während ihres Studiums etwas lernen, aber es kann überzeugend nach außen signalisiert werden, dass die ECTS-Punkte sich zur Verrechnung in diesem Studiengang oder mit anderen Studiengängen eignen…

Was kann man mit einer Kunstwährung machen? Die „Aufladung“ mit zusätzlichen Eigenschaften

Erst in den Jahren nach der Bologna-Erklärung zeichnete sich ab, dass das ECTS-System nicht nur ein Transfersystem für einzelne Leistungen sein soll, sondern auch dafür genutzt werden kann, alle Anforderungen in einem Studium in ECTS-Punkten zu be- und verrechnen. Durch die Abbildung aller erwarteten Leistungen in Form dieser Zeitwährung wurde es möglich, die Kunstwährung dafür zu nutzen, dass alle Studierenden – nicht nur diejenigen, die an mehreren Hochschulen studiert haben –, am Ende ihre Punkte gegen ein definiertes Endprodukt, einen Bachelor- oder Masterabschluss, tauschen konnten.
Voraussetzung für diesen Tausch gegen einen Abschluss ist, dass diese ECTS-Punkte auch gesammelt werden können. Im Rahmen des Bologna-Prozesses wurde deswegen von vielen Universitäten die Möglichkeit eingeführt, dass die Studierenden ihre Punkte in kleinen, bei den Prüfungsämtern angesiedelten elektronischen Schließfächern sammeln konnten. Aus einem Transfer-System wurde so zusätzlich immer mehr auch ein Akkumulations-System, weswegen früh schon eine Umbenennung von ECTS – „European Credit Transfer System“ – in EUROCATS – „European Credit Accumulation and Transfer System“ gefordert wurde (vgl. z.B. Dalichow 1997: 44)…

Es bildeten sich so immer mehr die Konturen einer Kunstwährung heraus, die mit Eigenschaften des Transfers, Sammelns, Speicherns und Tauschens aufgeladen wurde. Gerade unter Planungsgesichtspunkten erhielt die Kunstwährung ECTS so eine hohe Attraktivität, weil plötzlich viele vorher eher im Dunkeln von Seminaren, Vorlesungen und Studierstuben ablaufenden Prozesse wenigstens von ihrem Zeitaufwand her berechen-, kontrollier- und planbar erschienen. Das Ergebnis war jedoch eine bis dahin nicht gekannte Komplexitätssteigerung in der Konzeption und Durchführung von Studiengängen an den Universitäten, die sich mit dem Begriff des „Sudoku-Effekts“ am besten erfassen lässt.


[«*] Bei dem oben stehenden Text handelt es sich um Auszüge aus der Einleitung des Buches von Stefan Kühl „Der Sudoku-Effekt – Hochschulen im Teufelskreis der Bürokratie“, einer Streitschrift, die im Februar 2012 im transcript Verlag erschienen ist. Das Buch umfasst 172 Seiten und kostet 19,80 Euro.

Wir danken Stefan Kühl für seine Erlaubnis Auszüge aus seinem Text auf den NachDenkSeiten veröffentlichen zu dürfen.

Für die bei Textauszügen unumgänglichen sprachlichen und gedanklichen Sprünge bin ich verantwortlich. Ich habe versucht die Kernaussagen des Einleitungskapitels herauszufiltern.
Wer sich ein Gesamtbild machen möchte, sollte das ganze Buch lesen.

Anmerkung: Ich teile die Kritik an der Bürokratisierung des Studiums durch die Bologna-Reform, meine jedoch, dass diese „kafkaeske“ (Stefan Kühl) Bürokratisierung an den Hochschulen, jedenfalls nicht nur – mehr oder weniger ungewollt – der Kunstwährung ECTS oder der Modularisierung der Studiengänge geschuldet ist. Sonst müssten ja überall in Europa an den Hochschulen die gleichen beklagenswerten Zustände herrschen. Das mag für die frankophonen Länder noch zutreffen, in Großbritannien, wo es ja seit eh und je den Bachelor und den Master gibt, oder in Italien oder Spanien ist dies weit weniger der Fall. Besonders in Deutschland wurde der Bologna-Prozess in starkem Maße von der im Jahr 2000 auf dem Frühjahrsgipfel der Staats- und Regierungschefs beschlossenen sog. Lissabon Strategie überlagert. Als deren Ziel wurde ausgegeben, bis 2010 „die Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen.“

Der von Stefan Kühl ausgemachte Sudoku-Effekt ist m.E. vor allem auch Ausdruck einer „Verbetriebswirtschaftlichung“ (Heribert Prantl) des Denkens, das nahezu alle Politikfelder erfasst hat und das einhergeht mit einem „Verlust der Urteilskraft“ (Konrad Paul Liessmann) an unseren Hochschulen.
Die Übertragung betriebswirtschaftlicher Prinzipien auf Lehre und Studium verlangt eben nach Messen, Vergleichen, Output-Kennziffern, Workload-Berechnungen, Prüfungen, Evaluierungen oder Akkreditierungen etc.
Stefan Kühl wendet sich zwar dagegen, von einem „neoliberalen Umbau“ der Hochschulen zu reden, weil sich die Hochschulangehörigen damit nicht angesprochen fühlen, was er aber beschreibt und kritisiert, ist nichts anderes als die Übertragung der Wettbewerbs- und Marktideologie auf Lehre und Studium.

Siehe zum Bologna-Prozess auf den NachDenkSeiten u.a.:

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Hochschulen und Wissenschaft

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