Umbrüche: Wie DDR-Bürger die neue Arbeitswelt im vereinigten Deutschland Anfang der 1990er-Jahre erlebten

Umbrüche: Wie DDR-Bürger die neue Arbeitswelt im vereinigten Deutschland Anfang der 1990er-Jahre erlebten

Umbrüche: Wie DDR-Bürger die neue Arbeitswelt im vereinigten Deutschland Anfang der 1990er-Jahre erlebten

Ein Artikel von Dirk Engelhardt

Nach dem Mauerfall war die Arbeitswelt mit ihren Volkseigenen Betrieben von heute auf morgen Vergangenheit. Millionen von Arbeitnehmern mussten sich plötzlich ihren Platz im Arbeitssystem des Kapitalismus suchen. Lieb gewonnene Jobgarantien gab es nicht mehr. Mühsam erarbeitete Qualifikationen wurden teilweise nicht mehr anerkannt, manche Berufe gab es auf einmal nicht mehr, dafür war Selbstständigkeit auf einmal legal. Windige Geschäftemacher witterten ihre Chance in Ostdeutschland und boten so manch unseriösen Job an. Unser Gastautor Dirk Engelhardt präsentiert hier die persönlichen Erinnerungen von Michael Braun (77), der die Fallstricke des neuen Arbeitslebens schildert, wie er sie in der DDR und nach der Wende erlebte.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Ich will mal mit der Schule in der DDR anfangen. Das fing an in der achten Klasse, da gingen wir pro Woche einen Tag in die Produktion – damit man weiß, wie die Leute arbeiten, wie man eine Feile hält, ganz elementare Dinge. Dann machte ich Abitur mit Facharbeiterbrief in Leipzig. Ich bin Dreher, gelernter Dreher, neudeutsch Zerspanungsfacharbeiter. Davon zehre ich heute noch. Ich bin ja Klimatechniker, und wenn ich auf einer Baustelle bin und etwas klappt nicht, dann gehe ich hoch und helfe mit. Heute sitzen die Ingenieure in ihren Architekturbüros, die sind weltfremd.

Ich hatte damals schon einen Freiheitsdrang und bin mit dem Fahrrad öfter rüber nach Polen gefahren. Studiert habe ich dann Thermodynamik in Bratislava, das Studium war auf Russisch, Englisch und Deutsch. Nun, Techniker verstehen sich. Ich wohnte bis zur neunten Klasse in Magdeburg, 500 Meter entfernt vom Flughafen, und da ich Interesse am Segelfliegen hatte, habe ich mit 17 den Segelflugschein gemacht.

Doch dann kam der Prager Frühling, und wir mussten alle wieder zurück in die DDR. Blöd, denn dann wurde ich sofort einberufen zur Nationalen Volksarmee (NVA). Das wollte ich partout nicht, und ich hatte dazu auch noch einen Einberufungsbefehl nach Berlin, an die Mauer. Doch die Gelbsucht rettete mich vor der Armee. Ich studierte dann weiter in Merseburg und habe dort das Diplom gemacht.

Entsprechend der Absolventenlenkung sollte ich nach BUNA oder Leuna [große Standorte der Chemieindustrie der DDR – Anm. d. Red.], und das wollte ich auf keinen Fall.

Mit der staatlichen Lenkung war dein Arbeitsplatz vorgegeben, das war schlimm. Egal, ob Du die Leistung gebracht hast oder nicht. Die dümmsten Leute kamen da zum Teil an die verantwortungsvollsten Stellen.

Was habe ich gemacht? Meine Diplomarbeit bestand zu 95 Prozent aus Experimenten. Ich habe das dann eben etwas verzögert, habe die Abgabezeit um ein halbes Jahr hinausgeschoben und bin so aus der Absolventenlenkung herausgefallen und konnte mich selbst in einem Betrieb bewerben. Ich habe mich in einem Betrieb in Berlin beworben und dort als Prüffeldschlosser angefangen.

Bis 1988 ging das gut, ich verdiente für DDR-Verhältnisse gut, Geld hat für mich aber nie eine Rolle gespielt. Meine Eltern arbeiteten beide an der Universität, finanziell ging es uns gut, ich wollte mich aber von zu Hause abnabeln. Schon während des Studiums habe ich Wochenendschichten bei den Buna-Werken gemacht, um von den Eltern unabhängig zu sein.

Den Vorwurf muss ich den DDR-Leuten machen: Wer wollte, der konnte. Es gab so viel Möglichkeiten in der DDR!

Dein Weg war zwar vorgegeben, egal ob du was konntest oder nicht, aber man konnte schon Wege finden, um seinen eigenen Weg aufzubauen.

Im RGW-Gebiet (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe) war die DDR im Bereich Klimatechnik führend, und so kam ich auch öfters ins Ausland, ins sozialistische Ausland, nach Angola, nach Kuba. Doch dort lebten wir DDR-Bürger wie in einem Ghetto, abgeschirmt, um so wenig wie möglich mit der einheimischen Bevölkerung in Kontakt zu kommen, vor allem nicht mit Westdeutschen. Ich spielte nie mit dem Gedanken, mich abzusetzen, ich war mit meinem Leben im Großen und Ganzen zufrieden. Meine Leistung wurde anerkannt, ich war nicht ganz blöd. Auf den Messen, die ich besuchte, erhielt ich viele Kontakte in den Westen. Ich war bestens informiert. Mitte der 80er-Jahre wurde vieles in der DDR-Industrie umgebaut, auch in der Klimatechnik. Die Vorgabe war „Erhöhung der Konsumgüterindustrie zur Befriedigung der Bedürfnisse der Bevölkerung“, wobei „Befriedigung“ wohl eher „Beruhigung“ meinte.

In meinen Verantwortungsbereich kamen Leute, die eine andere politische Einstellung hatten und politische Interessen vor wissenschaftlich-technische stellten. Da fingen die Probleme an. Da war ich froh, dass ich oft im Ausland war und dort meine Ruhe vor politischen Diskussionen hatte. 1988 bekam ich auf einmal eine Überprüfung der Wehrunterlagen zugestellt.

Der Pförtner im Wehrkreiskommando wusste mit meinen Unterlagen nichts anzufangen. In meiner Wartezeit beim Pförtner kamen noch zwei Typen, die der Pförtner nicht reinlassen wollte. Man konnte aber sehen und vor allem auch hören, wie sie mit dem Pförtner sprachen, woher diese Typen kamen.

Eine Stunde später saß ich genau diesen beiden Typen gegenüber. Nach vielem Blabla kam dann die Frage auf. „Sie sind doch prädestiniert auf Grund ihrer Funktion im Betrieb und ihrer Leistungen und ihrer Fähigkeiten, zur weiteren Stabilisierung unseres Staates mit uns zusammenzuarbeiten.“

Ohne darüber nachzudenken, da staune ich heute noch, habe ich da Nein gesagt. Darauf bin ich auch heute noch stolz, weil das eben meine innere Überzeugung war. Die beiden guckten komisch, tuschelten etwas – und das Gespräch, die Überprüfung der Wehrunterlagen war abrupt und ohne Diskussion zu Ende.

Ein paar Monate später wurde in meinem Bereich dann jemand anders Direktor. Dann weiter als Hauptabteilungsleiter, dann Abteilungsleiter, dann im Sommer 1989 normaler Mitarbeiter. Diesen Arbeitsvertrag habe ich nicht mehr unterschrieben. Ich lasse mich nicht verbiegen, ich habe meine Einstellung gehabt, obwohl ich Mitglied in der SED war und sogar Parteiorganisator. Rausschmeißen konnten die mich nicht, ich hatte keinen Fehler gemacht. Aber ich war unbequem. Es hat mich alles nicht beeindruckt.

Ja, was mache ich nun? Da – es war 1989 – habe ich überlegt, was ich mache. Meine Idee war, mir eine Rikscha zusammenzuschweißen aus alten Fahrradteilen und Touristen durch Ostberlin zu kutschieren. Ich wollte sie herausfordern und sehen, wie lange die das aushalten, dass ich meinen Arbeitsvertrag nicht unterschreibe.

Dann kam auf einmal der Mauerfall.

Nach Westberlin zu gehen, Kaufrausch, da hatte ich null Interesse. Ich sah relativ schnell, dass mein Betrieb die Wende nicht überstehen wird, die großen Klimafirmen aus der ganzen Welt teilten sich den Kuchen damals auf.

Kommerz ging vor energieeffiziente und für alle nutzbare Klimatechnik.

Doch aus meiner Direktorenzeit hatte ich ja die ganzen Kontakte. Noch im Dezember habe ich eine bekannte Firma für Klimatechnik angeschrieben und für Januar eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch in die deutsche Niederlassung in Hamburg bekommen.

Bei diesem Vorstellungsgespräch unterschrieb ich sofort einen unbefristeten Arbeitsvertrag. Lange Gehaltsverhandlungen gab es nicht, das kannten wir als DDR-Bürger ja auch nicht.

Im Grunde war mir das Gehalt nicht wichtig. Ich konnte das auch gar nicht einschätzen, da ich ja neu im Westen war. Ich sollte einen Audi A6 bekommen, doch ich hatte gar keinen Führerschein!

Wer wollte, hatte in dieser Zeit alle Möglichkeiten. Das sage ich immer wieder. In Berlin habe ich dann in einer Ferienfahrschule so schnell wie möglich den Führerschein gemacht und bin nach Hamburg gezogen.

Eine Win-win-Situation: Mein neuer Arbeitgeber hatte nun in seinem Portfolio den Markt aller sozialistischen Länder und ich hatte einen Job, im Prinzip den gleichen, den ich in meinem ehemaligen Betrieb hatte.

Der Anfang war nicht einfach, ein langsames Antasten und Zueinanderfinden. Die Firmenkultur war doch grundsätzlich anders. Mein DDR-Betrieb hatte Technik zum beiderseitigen Nutzen verkauft, meine neue Firma hat Produkte für maximalen Gewinn verkauft.

Doch Leistung überzeugt letztendlich, im Vertrieb und auch in der Produktion.

Im Prinzip habe ich dort dasselbe gemacht wie zu DDR-Zeiten. Forschung und Entwicklung für die ganzen neuen Produkte, von der Idee zur Entwicklung, vom Bau zur Montage. Die haben dann auch meine zahlreichen Kontakte nach Osteuropa erhalten. In der Firma arbeiteten rund 50 Leute. Die Arbeit machte mir Spaß, in ihrem Bereich war die Firma Weltmarktführer. Doch in der Produktion hatten die ähnliche Probleme, wie wir sie in der DDR hatten. Manchmal war die Konstruktion nicht richtig, oder Ähnliches. Da bin ich dann runter gegangen in die Werkshalle, und da sind die richtig erschrocken.

Woher weiß ich das? Woher kannst du das, wurde ich gefragt. Die dachten, da kommt ein Kollege aus dem Osten, ein blöder Ossi, von Tuten und Blasen keine Ahnung, und dann weist er uns an. Ich hoffe, dass ich damals nicht so überheblich rüberkam, wenn ich Anweisungen gab.

Mein Handicap war: Ich bin Verkäufer nur über die Technik, nicht über das Geld. Das lief im Westen anders.

Einige Jahre lief es in dieser Firma sehr gut. Doch 1999 realisierte das Stammhaus, dass sie das Exportgeschäft lieber direkt aus Schweden machen wollten. Ich hatte ja die Kontakte hergestellt, ich sprach die ganzen Sprachen, die die Schweden im Bereich Osteuropa nicht sprechen. Da wurde ich dann entlassen, mit fadenscheinigen Gründen.

Aber mein Erfolg in dieser Firma muss so groß und dadurch bekannt gewesen sein, dass einige Headhunter mich abwerben wollten. Dann hatte ich wieder großes Glück, da waren Firmen, die mich abwerben wollten. Es waren Firmen, die ins Osteuropa-Geschäft reinwollten.

Ich kam zu einer Firma in Köln, leider eine nicht so anspruchsvolle Klimatechnik. Ich war nicht einen Tag arbeitslos.

Das ging wieder einige Jahre gut. Doch dann ging der Chef in Rente, und es musste ein Nachfolger her. Da wurde ich aus der Firma rausgedrängt, aufgrund privater Beziehungen in der Nachfolge, das war 2004.

Das sind eben Dinge, die wir Ossis nicht gelernt haben.

Ich habe dann gesucht, gesucht, gesucht – und wieder was Neues angefangen. Und zwar in einem Großhandel für Klimatechnik am Rand von Berlin, vermittelt durch die Arbeitsagentur mit einer Probezeit, in der die Firma einen erheblichen finanziellen Zuschuss für meine dortige Arbeit erhielt. Mit dem Ende der Zahlung dieses Zuschusses konnte ich dann gehen. Interessant war für mich, wie schnell sich ehemalige DDR-Betriebe an das neue System gewöhnen können.

Es war aber kein Problem für mich, neue Arbeit zu finden. Das war in einem Haustechnik-Großhandel, mit kleinen Projekten und vor allem auch, dass neue und innovative Technik mit im Vordergrund stand.

Doch dann kam der lange Arm der Stasi, der seine Finger ausstreckte.

Auf einmal musste ein neuer Mitarbeiter als Chef eingestellt werden. Dieser „Mitarbeiter“ war 1988 für mein Ende in meinem damaligen DDR-Betrieb mitverantwortlich. Seine gespielte große Freude, mich wiederzusehen, hat meinen Entschluss, die Firma von heute auf morgen zu verlassen, nur bestätigt.

2010 gab es dann eine neue Regelung für einen Vorruhestand. Da hatte ich zwar einen erheblichen Rentenabzug, aber Geld interessierte mich nicht.

Da entschied ich mich, als Nichtchrist, den Camino de Santiago 1.200 Kilometer zu laufen, und bin dann weiter bis ans Ende der Welt gepilgert. Nicht aus Resignation, sondern nur, um zu testen, halte ich das physisch und auch psychisch durch. Allein diesen Weg zu machen.

Das Ergebnis:

Für mich hat ein neues, ein zweites Leben begonnen.

Was ist Geld wert?

Ich bin stolz.

Mehr oder weniger habe ich mir meinen Lebensweg selbst gesucht, gefunden und auch zum größten Teil ohne Protektion realisiert. Meine Ideale: technische Lösungen, die für alle nützlich sind, gehen vor Kommerz.

Ich habe zwei Gesellschaftssysteme kennengelernt. In einem steht der Mensch mehr im Vordergrund, in dem anderen eigentlich nur das Geld.

Ich habe ein Häuschen in Katalonien, weit abgelegen von aller Zivilisation, das baue ich mir jetzt aus.

Titelbild: Shutterstock / A.J.StockPhotos

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