Radikale Prediger und Influencer mobilisieren vor allem online eine beachtliche Anhängerschaft, besonders unter Jugendlichen. Obwohl diese islamistischen Extremisten nur einen kleinen Bruchteil der etwa 5,5 Millionen hiesigen Muslime ausmachen, prägen ihre Taten und Parolen das öffentliche Islambild unverhältnismäßig stark. Von Detlef Koch.
Laute Rufe nach einem „Kalifat“ hallen auf deutschen Straßen, während anderswo muslimische Schüler und Schülerinnen sich unvermittelt dafür rechtfertigen müssen, keine Sympathisantinnen von Terroristen zu sein[1]. Diese gleichzeitigen Realitäten markieren das Spannungsfeld zwischen Islamismus und Islam in unserer Gesellschaft.
Erst Anfang dieses Monats hat das Bundesinnenministerium die islamistische Gruppe „Muslim Interaktiv“ verboten – ein drastischer Schritt, der verdeutlicht, wie ernst die Gefahr islamistischer Radikalisierung hierzulande genommen werden muss. Bundesinnenminister Alexander Dobrindt fand dazu deutliche Worte:
„Wer auf unseren Straßen aggressiv das Kalifat fordert, in unerträglicher Weise gegen den Staat Israel und Juden hetzt und die Rechte von Frauen und Minderheiten verachtet, dem begegnen wir mit aller rechtsstaatlichen Härte. Wir lassen nicht zu, dass Organisationen wie „Muslim Interaktiv“ mit ihrem Hass unsere freie Gesellschaft zersetzen, unsere Demokratie verachten und unser Land von innen heraus angreifen.“[2]
Mit solchen Worten unterstreicht die Regierung, dass sie islamistischen Umtrieben entschlossen entgegentreten will. Tatsächlich mobilisieren radikale Prediger und Influencer längst vor allem online eine beachtliche Anhängerschaft, besonders unter Jugendlichen. Das islamistische Personenpotenzial[3] umfasst in Deutschland über alle islamistischen Strömungen hinweg mittlerweile rund 28.280 Personen. Obwohl diese Extremisten nur einen kleinen Bruchteil der etwa 5,5 Millionen hiesigen Muslime ausmachen, prägen ihre Taten und Parolen das öffentliche Islambild unverhältnismäßig stark.
Gleichzeitig wächst jedoch die Gefahr einer pauschalen Stigmatisierung von Muslimen. Laut einer Untersuchung aus dem Jahr 2023 empfindet 52 Prozent der Bevölkerung[4] den Islam als bedrohlich. Zugleich haben islamfeindliche Straftaten 2023 dramatisch zugenommen: Die Polizei registrierte 1.464 Delikte, mehr als doppelt so viele wie im Vorjahr[5]. Nach der barbarischen Widerstandsaktion der Hamas auf israelische Zivilisten im Oktober 2023 schnellte die Zahl solcher Übergriffe in die Höhe, und vielerorts fühlten sich muslimische Bürger und Bürgerinnen plötzlich unter Generalverdacht. Selbst der Bundespräsident und andere führende Politiker forderten Muslime damals öffentlich auf, sich vom Hamas-Terror zu distanzieren – ein Appell, den viele gläubige Bürger und Bürgerinnen als Misstrauensvotum empfanden.
Vor diesem Hintergrund ist die Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus nicht bloß eine semantische Feinheit, sondern eine gesellschaftliche Notwendigkeit. Ein aufgeklärter, differenzierter Blick muss Machtstreben und Extremismus im Gewand der Religion klar benennen – ohne dabei eine ganze Glaubensgemeinschaft unter Generalverdacht zu stellen. Anders ausgedrückt: Der Islam als Glaube verdient Schutz und Respekt als Teil unserer pluralistischen Gesellschaft, während Islamismus als politische Ideologie der Ungleichheit und Unfreiheit entschlossen bekämpft werden muss. Islamismus darf nicht einmal als Religion wahrgenommen werden, sondern muss als Ideologie gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit begriffen werden. Nur eine solche begriffliche wie politische Trennung wird dem Gebot der Stunde gerecht – diese Differenzierung sind wir unserem Gewissen schuldig.
Die verführte Jugend: Psychologie der Rekrutierung
„Jugendliche radikalisieren sich selten aus Fanatismus – meist aus Sehnsucht.“ Dieser Satz bringt auf den Punkt, was Studien zeigen: Junge Menschen geraten nicht aus blindem Eifer, sondern aus Sehnsucht nach Identität, Anerkennung und Zugehörigkeit in extreme Milieus[6]. Oft stehen Orientierungslosigkeit, Frustration und das Gefühl, keinen Platz in der Gesellschaft zu haben, am Anfang. Ausgrenzungserfahrungen oder antimuslimischer Rassismus können eine Leere hinterlassen, die nach Sinn und Gemeinschaft verlangt[7].
Genau an diesem Punkt setzen islamistische Anwerber an. Gruppierungen wie Realität Islam, Generation Islam oder Muslim Interaktiv präsentieren sich als Antwort auf die innere Zerrissenheit muslimischer, aber auch noch nicht-muslimischer Jugendlicher. Sie stilisieren Muslime zu Opfern einer feindlichen Umwelt und liefern einfache Schuldige. So heißt es etwa: „Du bist nicht integriert, du bist assimiliert.“ Integration in die „ungläubige“ Gesellschaft gilt als Sünde und Schwäche, Gehorsam gegenüber der eigenen Gemeinschaft als Stärke. Der Islamismus dient hier als Allzweckantwort: Schwarz-weiße Moralkonzepte ersetzen die universelle Ethik menschlicher Werte wie Wahrheit, Rechtschaffenheit, Frieden, Liebe und Gewaltlosigkeit. Männliche Selbstermächtigung kanalisiert ohnmächtige Wut. Es entsteht eine enge „Bruderschaft“ mit eigenen Symbolen und Schlagworten, die Jugendlichen das Gefühl gibt, dazuzugehören. „Kalifat ist die Lösung“ lautet folgerichtig ein Motto – die Schaffung eines Kalifats wird als Heilmittel aller Missstände verkauft, als weltweiter Schutzschild für Muslime[8].
Diese Dynamik wird durch soziale Medien rasant beschleunigt. Auf TikTok, Instagram oder Telegram finden sich Jugendliche schnell in Echokammern, die Empörung und Rachefantasien anstacheln.
Hier ein Auszug aus einem Chatprotokoll eines 18-jährigen jungen Mannes (Rechtschreibung überarbeitet):
„Der Islam ist politisch!! 90 Prozent. Und der Islam wird siegen, ob du willst oder nicht.
Und wir werden ein Kalifat bekommen, wo wir Da`wah[9] in die Länder bringen und auch nach Deutschland. Wir werden auf Pferden angeritten kommen!!! Mit der Flagge des Propheten Mohammed (saw). Es ist schon vorbestimmt. Die Schicksalsfrage ist nur, wann wir siegen werden und wieder zur Scharia zurückkehren werden. Die Dreckskufar[10] werden keine Macht haben. Und sie werden alle inschāʾallāh Muslime. Wenn wir Macht haben, ist erstmal Schicht im Schacht für diese ganzen Kindermörder, die unseren Geschwistern Leid antun. [Namhafter deutscher Politiker] der elendige Kafir (Ungläubige). Er wird so brennen. Und die ganzen anderen Verräter auch. Und wenn wir hier die Macht haben, wird jede Frau ein Kopftuch tragen und nach islamischen gesetzten regiert werden. Und es wird sehr bald sein.“
Die Köpfe von Generation Islam & Co. beherrschen das perfekt: Mit professionellen Videos und drastischen Bildern inszenieren sie Empörung als Lifestyle. Selbst ernannte Prediger agieren als „Hatefluencer“, sprechen Jugendsprache und wissen genau, wie man aus Sehnsucht Abhängigkeit formt[11]. Auch die Anhängerschaft zieht performativ mit: Man posiert mit dem Tauhīd-Finger[12] und stilisiert sich als furchtloser „Gotteskrieger“. Wer virtuos Wut gegen „die Lügner“ inszeniert, erntet digitale Anerkennung und steigt im Rang. So entsteht eine Eigendynamik, in der Zweifel unterdrückt werden – ausgesiebt von Gleichgesinnten und verstärkt durch Algorithmen.
Islamistische Akteure knüpfen an reale Ohnmachtsgefühle an. Sie nutzen Diskriminierung, internationale Konflikte oder Gewalttaten als Brennstoff für das Narrativ eines angeblichen „Kriegs gegen den Islam“. Im abgeschotteten Resonanzraum wächst der Groll – und mit ihm die Bereitschaft, extreme „Lösungen“ zu akzeptieren. Solche Parolen zeigen, wie aus gekränkter Sehnsucht ein aggressiver Absolutheitsanspruch wird.
Wichtig bleibt, zwischen friedlichem Islam und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in religiösen Gewändern zu unterscheiden. Umso dringlicher ist Aufklärung, welche die psychologischen Mechanismen offenlegt. Die Sehnsucht nach Sinn und Gemeinschaft darf nicht den falschen Propheten überlassen werden.
Hizb-ut-Tahrir (HuT): Totalitäre Logik und Feindbilder des Islamismus
Hizb-ut-Tahrir verkörpert exemplarisch das totalitäre Weltbild des Islamismus und bildet die ideologische Grundlage für Muslim Interaktiv, Realität Islam und Generation Islam. Die pan-islamistische Organisation propagiert einen Gottesstaat in Form eines globalen Kalifats und lehnt die Demokratie radikal ab. Souverän ist für HuT nicht das Volk, sondern das, was sie für Gott halten, allein – Volkssouveränität gilt als Unglaube (Kufr). Folglich kennt HuTs Ideologie keinen Pluralismus: Politische Opposition oder Meinungsvielfalt sind nicht vorgesehen. Alle Lebensbereiche – von Politik über Gesellschaft bis Moral – sollen der religiösen Doktrin unterworfen werden. Zweifel oder abweichende Meinungen werden als Auflehnung gegen Gott diffamiert, weltliche Freiräume systematisch negiert. Die gesamte Welt wird als bipolares Lagerdenken entworfen – hier die Gläubigen, dort die „Ungläubigen“ –, ohne Raum für Neutralität oder Grautöne. Kompromisse werden so per Dogma systematisch verunmöglicht.
Islamismus als politische Sakralisierung der Feindschaft
Tatsächlich entwirft HuT ein ganzes Panorama von Feindbildern. Der Westen und die gesamte Sphäre des „Unglaubens“ (dār al-kufr) erscheinen als metaphysischer Gegenpol zum Islam. In HuT-Schriften wird der Westen pauschal als moralisch verdorbener Aggressor beschrieben: „Der Westen, dem der Islam und die Muslime aufs Äußerste verhasst sind, attackiere den Islam […] indem er Lügen über den Islam verbreite“. Auch wenn dieser Vorwurf in Teilen der Wahrheit entspricht, gestaltet sich die Beziehung komplexer als dargestellt. Politische Errungenschaften wie Säkularismus, Liberalismus oder Gleichberechtigung gelten HuT als dekadente Verfallserscheinungen. Diese Dämonisierung externalisiert alle Missstände: Kolonialismus und „kufr“-Ideologien hätten die islamische Welt gespalten und geschwächt. Zu diesem externen Feindbild tritt ein verschwörungsgeladener Antisemitismus. So unterstellt HuT Juden (und auch Christen) pauschal, sie seien unverbesserliche „Ungläubige“, die im Bündnis darauf hinarbeiteten, den Islam zu zerstören. Kontakt mit ihnen solle man möglichst meiden – eine klare Dämonisierung ganzer Religionsgemeinschaften.
Auch gegen Andersdenkende in den eigenen Reihen verfährt HuT verbal aggressiv. Muslimische Befürworter von Demokratie oder säkulare Regierungen werden als „Heuchler“ und Verräter diffamiert. Sie gehören in HuTs Schwarz-Weiß-Denken zum Lager des ṭāġūt (der „Götzenherrschaft“) und stehen somit jenseits der Gemeinschaft der „wahren“ Muslime. Diese Logik rechtfertigt, dass loyale HuT-Anhänger allein als vollwertig gelten, während Abweichler nur maximal geduldet, aber nie als gleichberechtigt akzeptiert würden. Schließlich richtet sich HuTs Feindschaft auch gegen Frauenrechte. Im angestrebten Kalifat sind Frauen dem Mann untergeordnet und ihres autonomen öffentlichen Lebens beraubt. HuT propagiert ein streng patriarchales Rollenmodell: Frauen sollen primär Ehefrau und Mutter sein; Führungspositionen oder selbstbestimmte Bewegungsfreiheit werden ihnen abgesprochen. Eine HuT-Schrift schreibt etwa vor, die Ehefrau dürfe das Haus nicht ohne Erlaubnis ihres Mannes verlassen – tue sie es doch, gelte sie als „aufsässig“ nāšiz und verliere ihren Unterhaltsanspruch. Solche Aussagen entmenschlichen Frauen zu Objekten männlicher Kontrolle. Insgesamt werden alle fremd definierten Gruppen – Nichtmuslime, Juden, „Ungläubige“ allgemein, säkulare Muslime, emanzipierte Frauen – von HuT abgewertet, dämonisiert und als Feinde konstruiert. Diese extreme Menschenfeindlichkeit im HuT’schen Weltbild spiegelt exakt das von Wilhelm Heitmeyer beschriebene Syndrom: Ganze Kollektive von „Anderen“ werden als minderwertig oder gefährlich markiert, um die eigene Überlegenheitsidee zu befeuern.
Gleichzeitig erhebt HuT den eigenen Herrschaftsanspruch in den Rang einer heiligen Mission. Der Kampf für das Kalifat wird als göttlicher Auftrag verklärt, als Heilsdrama, in dem HuT als avantgardistische Retterin der muslimischen Welt auftritt. Jede politische Zielsetzung – von der Einführung der Scharia bis zur „Befreiung“ Jerusalems – wird moralisch überhöht und mit quasi-eschatologischer Rhetorik aufgeladen. HuT inszeniert sich als Werkzeug des göttlichen Plans, der die Umma von Ungerechtigkeit und westlicher Demütigung erlösen werde. In dieser Selbstsakralisierung liegt eine gefährliche Dynamik: Wer HuTs Machtanspruch widerspricht, gilt als Feind Gottes. Die eigene Herrschaftsideologie wird gegen Kritik immunisiert, da jede Opposition als blasphemisch oder verräterisch stigmatisiert wird. So wird der Führungsanspruch der Partei moralisch absolut gesetzt – Herrschaft wird sakral, und Gewalt erscheint (zumindest perspektivisch) gerechtfertigt, solange sie „Gottes Sache“ dient. Der ideologische Lohn ist totale Legitimation: HuT präsentiert das angestrebte Regime als einzig wahre gerechte Ordnung, die über allem Zweifel steht.
In Summe offenbart HuTs Ideologie die Mechanismen eines totalitären Weltbilds, das feindselige Abgrenzung mit religiöser Überschätzung der eigenen Macht verbindet. Damit widerspricht HuT fundamental den Werten sowohl einer offenen Gesellschaft als auch der islamischen Ethik. Zentralen islamischen Prinzipien wie Barmherzigkeit (raḥma), Gerechtigkeit (ʿadl), Würde (karāma) und Geschwisterlichkeit (ukhuwwa) setzt HuT ein gnadenloses Freund-Feind-Denken entgegen. Während der Koran die angeborene Würde jedes Menschen betont (vgl. Qur’ān 17:70) und kein Zwang in der Religion fordert, predigt HuT Ungleichwertigkeit und Zwangsherrschaft. Wo der Prophet Milde und Nachsicht übte, kennt HuT nur Härte und Konformität. Diese Diskrepanz zeigt: Islamismus à la HuT ist nicht Ausdruck religiöser Frömmigkeit, sondern die politische Pervertierung religiöser Begriffe – eine sakralisierte Feindschaftsideologie, die Humanität sowohl im säkularen als auch im religiösen Sinne negiert.
Das Leiden der Muslime: Von der unheilvollen Gleichsetzung
Islamistische Ideologien wie die der Hizb-ut-Tahrir zerstören die innerislamische Pluralität und treffen zunächst die Muslime selbst. Unter dem totalitären Deutungsanspruch selbsternannter Kalifatsvorkämpfer bleibt kein Raum für abweichende Stimmen: Sufismus, liberale Theologie, unkonventionelle Geschlechterrollen oder individuelle Spiritualität gelten ihnen als Irrwege. In Deutschland haben HuT-nahe Netzwerke wie „Muslim Interaktiv“ und „Generation Islam“ Andersdenkende als „Feinde des Islam“ gebrandmarkt und so eine Atmosphäre der Einschüchterung geschaffen. Auch die bekannte liberale Muslimin Seyran Ateş geriet dadurch ins Visier – sie steht inzwischen unter dauerhaftem Polizeischutz[13].
Diese Hetze erzeugt auch innerhalb der muslimischen Gemeinschaft enormen Druck: Wer sich dem Kollektivismus der Islamisten verweigert, muss mit sozialer Ächtung, Shaming-Kampagnen oder Boykott rechnen. Kritiker werden verleumdet oder sogar zu „Abtrünnigen“ erklärt (Takfīr).
Doch verkennen die Islamisten damit gerade die spirituelle Tiefe des Islams. Schon der klassische Gelehrte Abū Ḥāmid al-Ġhazālī (gest. 1111) betonte die Läuterung des Herzens und Tugenden wie Geduld, Liebe und Barmherzigkeit als Kern wahren Glaubens[14]. Nichts davon findet sich im erbarmungslosen Dogmatismus der Islamisten. Stattdessen propagieren sie ein Weltbild, in dem blindes Normbefolgen über Empathie und Gewissen gestellt wird. Echte Muslime, die Gottes Barmherzigkeit oder die Vielfalt muslimischer Lebenswege betonen, gelten ihnen als gefährliche Störenfriede.
Exemplarisch für den inneren Vernichtungswillen der Extremisten steht der Hass, den fundamentalistische Kreise selbst auf Ex-Muslime projizieren: Als der säkulare Aktivist Amed Sherwan ein Symbolbild für queere Muslime veröffentlichte, erhielt er tausendfache Morddrohungen von Islamisten[15].
Im Ergebnis wirkt Islamismus zunächst gegen die Muslime selbst – gegen jene nämlich, die sich dem absoluten Deutungsanspruch dieser Ideologie nicht unterwerfen. Indem islamistische Akteure innerislamische Dissidenz unterdrücken, verraten sie die barmherzige Botschaft des Islam und verursachen Leid und Angst in den Gemeinden, die sie vorgeblich „schützen“ wollen.
Spiritualität statt Ideologie
Die drei semitischen Religionen teilen einen gemeinsamen ethischen Kern. Schon die Tora verkündet die unveräußerliche Würde jedes Menschen als Abbild Gottes[16] (Gen 1,27), und der Koran erklärt, Gott habe den Kindern Adams Würde verliehen[17] (Koran 17:70). Zentral ist auch das Liebes- und Gerechtigkeitsgebot: Im Evangelium heißt es „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ (Matthäus 22,39); der Koran mahnt: „Gewiss, diejenigen, die glauben, und diejenigen, die dem Judentum angehören, und die Christen und die Ṣābier – wer immer an Gott und den Jüngsten Tag glaubt und rechtschaffen handelt –, die haben ihren Lohn bei ihrem Herrn, und keine Furcht soll sie überkommen, noch werden sie traurig sein.“ (vgl. Koran 2:62). Diese Botschaften zeigen: Die Würde, Mitmenschlichkeit und Akzeptanz anderer Religionen bilden das Fundament von Judentum, Christentum und Islam. Sie basieren auf dem Glauben an den Einen Gott, der als Ursprung der Einheit aller Menschen verstanden wird – nicht als Quelle ihrer Spaltung.
Wo die spirituelle Tradition des Islam auf innere Läuterung setzt, verengt der Islamismus den Glauben zu einer Ideologie des äußeren Feindes. So bedeutet iḥsān – Exzellenz des Charakters – im Islam, Gutes zu tun, gerade auch, wenn niemand zuschaut, und Frieden zu suchen statt Konfrontation. Dieser innere Weg der Verfeinerung des Herzens steht im krassen Gegensatz zum Feinddenken ideologischer Extremisten. Islamisten definieren den ǧihād nur noch als bewaffneten Kampf und erklären jede spirituelle oder gewaltfreie Deutung des Wortes für irrelevant. Hier die Rechtgläubigen, dort die „Ungläubigen“. Begriffe wie kufr (Unglauben), ṭāġūt (verwerfliche Tyrannei) oder nifāq (Heuchelei) dominieren dort die Rhetorik – ideologische Kampfbegriffe, die wichtiger genommen werden als Barmherzigkeit und Geduld.
Die theologische Gegenposition zu dieser Verengung betont die Verantwortung des Gewissens und die spirituelle Vertiefung. Große islamische Denker wie Abū Ḥāmid al-Ġhazālī (1058–1111) haben gelehrt, dass der wahre Kampf im Inneren stattfindet: Es gehe darum, das Herz von schlechten Neigungen zu reinigen und Charakter und Verstand zu veredeln. Al-Ġhazālī betonte, die höchste Wahrheit sei „nur durch die Erleuchtung des Herzens“ zu erreichen – nicht durch äußere Machteroberung. In diesem Licht wird deutlich: Wo authentischer Glaube den Menschen zur Selbstprüfung, Demut und moralischen Exzellenz anhält, verhärtet der Islamismus die Religion zu einem Machtinstrument. Die spirituelle Dimension des Islam – wie auch des Judentums und Christentums – fordert den Gläubigen auf, zuerst sich selbst zu überwinden und das Gemeinsame im Anderen zu erkennen. Der wahre Muslim sucht die Einheit in der Vielfalt und stellt die Verantwortung des Gewissens über blinden Gehorsam.
Appell an Juden, Christen & Muslime: Extremisten keinen Raum geben
Zu lange wurde aus Sorge geschwiegen – jetzt ist Handeln gefragt. Wenn Extremisten den Glauben als Waffe instrumentalisieren, dürfen die Gläubigen der drei Religionen nicht länger schweigen. Sie müssen klarstellen: Kein Fanatiker darf sich auf den Glauben berufen. Glaube ist keine Kampfparole, sondern ein ethischer Auftrag zur Nächstenliebe – diesen Kern gilt es zu verteidigen.
Die religiösen Gemeinden sind gefordert: In Moscheen, Kirchen und Synagogen muss Hass und Extremismus klar widersprochen werden – beides verrät die eigenen Glaubensgrundsätze und die Werte unserer Demokratie. Wenn die radikalen Ränder laut werden, darf die Mitte der Gläubigen nicht schweigen.
Interreligiöse Initiativen zeigen, wie Begegnung Vorurteile abbaut. Die Abrahamischen Teams etwa bringen mit Formaten wie „3 Religionen – 1 Thema“ Vertreter der drei Religionen in den Dialog[18]. Kreative Aktionen – ob interreligiöse Marathon-Staffeln oder Friedensgebete – führen vor Augen, dass Einheit in Vielfalt möglich ist. So öffnet etwa die Osmanische Herberge[19] in der Eifel, ein Sufi-Zentrum, ihre Türen für Menschen aller Religionen.
Nicht zuletzt muss die öffentliche Hand aktiv werden. Staat und Bildungswesen sollten interreligiöse Projekte stärker fördern – finanziell und im Lehrplan. Angebote wie die Abrahamischen Teams gehören fest in Schulen verankert.
All das eint eine Botschaft: Religiöse Menschen tragen gemeinsam Verantwortung, Extremisten keinen Raum zu geben. Sie müssen vereint für die Würde jedes Menschen einstehen und unmissverständlich klarmachen: Religion darf nie wieder als Deckmantel für Hass missbraucht werden. Es ist Zeit, Flagge zu zeigen – für Toleranz, Freiheit und Frieden.
Darin zeigt sich letztlich: Nicht der Glaube bedroht die Freiheit – sondern der Verlust des Gewissens.
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[«2] Bundesministerium des Innern (BMI)
[«3] Das islamistische Personenpotenzial setzt sich aus den Mitglieder- und Anhängerzahlen der einzelnen Beobachtungsobjekte des BfV im Phänomenbereich „Islamismus / islamistischer Terrorismus“ zusammen. Insgesamt ergibt sich für das Jahr 2024 aus den ausreichend gesicherten Zahlenangaben ein Islamismuspotenzial von 28.280 Personen.
[«4] Bertelsmann Religionsmonitor
[«5] BMI Politisch motivierte Kriminalität 2023
[«6] Clark McCauley und Sophia Moskalenko, „Mechanismen der Radikalisierung von Individuen und Gruppen“, Bürger & Staat 61, Nr. 4 (2011): 219–224. Siehe auch Fathali M. Moghaddam, „The Staircase to Terrorism: A Psychological Exploration“, American Psychologist 60, Nr. 2 (2005): 161–169.
[«7] Wilhelm Heitmeyer, Desintegration und Gewalt: Radikalisierung und Terror (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2018), 33–41. Heitmeyer beschreibt soziale Ausgrenzung und Anerkennungsverlust als Nährboden für orientierungslose, wütende Jugendliche.
[«8] Bundesamt für Verfassungsschutz, Verfassungsschutzbericht 2024 (Berlin: BMI, 2025), 226. Hier werden Narrative von „Wertediktatur“ und Kalifat als „Lösung“ der HuT-nahen Gruppen Generation Islam, Muslim Interaktiv u.a. beschrieben.
[«9] Aufruf zum Islam
[«10] Kufar = Ungläubige/Leugner (Mehrzahl)
[«11] Ansar Ahmad Arshad, „Radikalisierung: Wenn Jugendliche im Namen des Glaubens verloren gehen“, Revue der Religionen, 27. Oktober 2025. Der Autor – ein Imam – warnt vor „Hassfluencern“, die jugendliche Unsicherheit instrumentalisieren (Zitat: „wissen, wie man aus Sehnsucht Abhängigkeit formt“).
[«12] Der erhobene Zeigefinger ist eine Schwurgeste beim Sprechen der Shahada (islamisches Glaubensbekenntnis).
[«13] Susanne Schröter, „Verbot von ‘Muslim interaktiv’ – Die Vorkämpfer des Kalifats“, Cicero Online, 5. November 2025.
[«14] Mouhanad Khorchide, „Ende der Bevormundung“, in: Die Politische Meinung, 13. April 2015.
[«15] Florian Chefai, „Morddrohungen gegen Ex-Muslim“, Humanistischer Pressedienst (hpd.de), 30. Dezember 2020.
[«16] Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie.
[«17] Und Wir haben ja die Kinder Ādams geehrt; Wir haben sie auf dem Festland und auf dem Meer getragen und sie von den guten Dingen versorgt, und Wir haben sie vor vielen von denen, die Wir erschaffen haben, eindeutig bevorzugt.
[«18] Abrahamische Teams und Interreligiöser Dialog






