Leserbrief zu Neoliberales Herrschaftssystem: Warum heute keine Revolution möglich ist

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

(Der NDS-Beitrag hier)

Liebe Macher der Nachdenkseiten

Mit Interesse bemerke ich, dass der Artikel der Süddeutschen in den Nachdenkseiten unterschiedliche Wertungen erfährt. Gestatten Sie mir deshalb, mich mit meiner Wortmeldung diesem Beitrag zu nähern.

Im Zeitalter der Globalisierung ist Neoliberalismus weltumspannend. Um diesen zu bewerten, ist also Betrachtung der ganzen Welt nötig. Wenn der Autor nun behauptet, dass die Macht nicht mehr repressiv sei, hat es den Anschein, dass er die Welt nur aus dem Fenster seiner Gelehrtenwohnung und auch nur so weit überblicken will. Denn zum Neoliberalismus gehören z. B. auch die repressive Troika in Griechenland, die kriegerische Zerstörung verschiedener Staaten im Nahen Osten durch den Westen oder auch die Sanktionsandrohungen gegen Hartz-IV-Empfänger. Fragen Sie die Betroffenen. Sie werden derartige Aktionen regelmäßig als repressiv wahrnehmen. Und wenn eine Kassiererin wegen Verzehrs eines angetrockneten Hackepeterbrötchens gekündigt werden kann, so geschah das in genau der Welt, von welcher der Autor behauptet, die Macht des Neoliberalismus gründe sich im Verführen.

Verführt werden nur diejenigen, von denen sich der Neoliberalismus noch einen Vorteil – und sei es der Vorteil des Stillhaltens – verspricht. Und die hätschelt er bisweilen. Wahrscheinlich gehört der Autor zu dieser Personengruppe.

Ahnungslose kann man verführen, nicht aber Wissende. Verführung bei diesen ist deshalb nichts anderes als Bestechung, da sie das nötige intellektuelle Potenzial besitzen, die „Verführung“ zu erkennen. Der Autor empfiehlt sich hier übrigens als Wissender.

Was ist der Unterschied zwischen Abhängigkeit und Gefügigkeit? Wieder so eine Behauptung, die der Geisteswissenschaftler unbewiesen dem Leser offeriert. Wird man durch Gefügigkeit abhängig, oder bei Abhängigkeit gefügig? Die Überschrift stimmt auch nicht: das unterworfene Subjekt sei sich seiner Unterworfenheit nicht bewusst. Das trifft eben nur für einen Teil der Unterworfenen zu. Wie anders ist zu erklären, dass bei Umfragen zur Kapitalismuskritik viele dieses System scharf kritisieren?

Wenn weiter davon gesprochen wird, wie durch “Freundlichkeit” das Machtgefüge unsichtbar werde, so hätte der Autor an dieser Stelle den Ursachen der Ahnungslosigkeit der Massen nachgehen können. Statt dessen nennt der Herr Wissenschaftler diese immerwährende Blendung “Freiheit”. Mithin also Freiheit durch Dummheit. Das Kunststück, wie das System die Freiheit ausbeute, erklärt er nicht. Schließen sich Ausbeutung und Freiheit nicht eher aus? Also wäre an dieser Stelle von eingebildeter Freiheit zu reden. Das tut er aber nicht.

Die Behauptung, dass heute der Typ des “Selbst-Unternehmers” die gegenwärtige Produktionsweise ausmache, zeigt schlaglichtartig, dass der Autor selbst in den Denkgewohnheiten des Neoliberalismus gefangen ist, unabhängig davon, dass Massenproduktion immer die Produktion durch Massen braucht, mögen diese auch schrumpfen. Als Alternative zu diesen Massen bleibt heute nämlich nur noch Arbeitslosigkeit. Aber keinesfalls Privatunternehmertum. Unternehmer ist ja keiner, der etwas unternimmt. Dann wäre jeder der eine Wanderung unternimmt, ein Unternehmer. Unternehmer im volkswirtschaftlichen Sinn ist einer, der die Tätigkeit der nachhaltigen Gewinnerzielung betreibt. Also Profit macht. Wo aber wurde der Arbeiter gefunden, der aus dem Unternehmen, in welchem er arbeitet, Profit zieht? Wahrscheinlich nur im Gefängnis. Einsitzend wegen Diebstals. Der Begriff Selbstunternehmer ist also eine typisch neoliberale Schimäre. Als Schimäre wird dieser Begriff aber hier nicht gekennzeichnet. Für den Autor muss es also zur Normalität gehören, einen Ausgebeuteten als Unternehmer zu bezeichnen. Das sollte den Leser misstrauisch machen.

Früher war innerhalb der Unternehmen Solidarität möglich, sagt der Wissenschaftler. Ist es ihm entgangen, dass z.B. der Kampf um die Bildung von Betriebsräten ein Zeichen dafür ist, dass unter den Beschäftigten sehr wohl Solidarität angestrebt wird? Gegen die Zumutungen des Neoliberalismus im jeweiligen Betrieb? Und dass es Firmenleitungen gibt, die – übrigens repressiv – die Bildung von Betriebsräten verhindern wollen? Es hat den Anschein, dass insbesondere der Autor zu den erschöpften, depressiven, vereinzelten Individuen gehört, von denen er hier berichtet, und die seiner Darstellung nach weder aus noch ein wissen.

Man könne den Neoliberalismus nicht marxistisch erklären. Als Beweis für diese kühne Behauptung will er erkannt haben, dass heute die “berühmte Entfremdung von der Arbeit” nicht stattfände. Hier kommt der Verdacht auf, dass der Autor Marx nicht verstanden hat, sollte er ihn jemals studiert haben. Die Entfremdung von der Arbeit ist nichts anderes als der Umstand, dass der Arbeitnehmer Dinge tun muss – im Produktionsprozess – damit er außerhalb des Produktionsprozesses sich selbst verwirklichen kann. Also malochen, um sich außerhalb der Arbeit das Menschsein leisten zu können. Aber eben nicht innerhalb der Arbeit. Denn sonst gäbe es in der Welt des Autors keine burnouts. Natürlich gibt es sogenannte Lustberufe – Schauspieler z, B. Dort geht mit Zwang auf Dauer gar nichts. Das ist aber gesellschaftlich nicht ins Gewicht fallend.

Dass man Kommunismus kaufen und verkaufen könne, sagt über den Autor nur, dass er sich nicht genügend mit dem Thema Kommunismus befasst hat, wenn er Wohlstand per se als Kommunismus bezeichnet. Und dass deshalb die Revolution ausfalle, mag man ihm als frommen Wunsch nachsehen.

Jutta Dittfurth sagte einmal sinngemäß, dass, wer gegen die Zumutungen des Kapitalismus sei, an dessen Überwindung arbeiten solle. Eines ist sicher, der Autor, Herr Byung-Chul Han, hat mit seinem Beitrag kund getan, dass er den Kapitalismus nicht als Zumutung empfindet.

Byung-Chul Han hat die Welt nur interpretiert. Es kommt darauf an, sie zu ändern. Was frag ich da nach Revolution! Und nach Byung-Chul Han…..

E. W., Pirna


Zu dem Beitrag von Byung-Chul Han in der Süddeutschen Zeitung, zu den Anmerkungen von Orlando Pascheit und Albrecht Müller und zu dem Leserbrief auf diesen Artikel in den NachDenkSeiten gingen eine Reihe von interessanten Diskussionsbeiträge [PDF] ein, die wir unseren Leserinnen und Lesern nicht vorenthalten wollen.

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