Rückblick im SPIEGEL zeigt Strategie 2005/6

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Wer den letzten „Spiegel“ des vergangenen Jahres noch greifbar hat, dem ist zu empfehlen, den so genannten Aufmacher mit dem Titel “Das Jahr der Schildkröte” zu lesen. Darin wird einiges sichtbar erstens von der Strategie der Regierungsparteien für die Jahre 2005 und 2006 und zweitens von der Strategie und Widersprüchlichkeit der Meinungsführer des deutschen Neoliberalismus – die Mehrheit der Berliner Spiegel-Redaktion ist ein wichtiger Teil dessen.
Hier einige Auszüge, teilweise mit kleinem Kommentar:

DER SPIEGEL 53/2004 27.12.2004
Rückblick: Wenig Bewegung auf der Reformbaustelle Deutschland

Überschrift und Vorspann:

Das Jahr der Schildkröte
2004 hat Gerhard Schröder seine Rolle gefunden, Angela Merkel ihre verloren. Der Kanzler zeigte sich standhaft, die Oppositionsführerin musste Federn lassen. Doch insgesamt ist das Land nicht viel weiter gekommen. Die Reformen greifen noch nicht, die Probleme nehmen zu.”

2004 war ein Jahr des Verschleißes. Die Regierung hat sich in der Umsetzung der Reformen erschöpft, die Opposition in der Erarbeitung eines Reformprogramms und die Bevölkerung, zum Teil, im Widerstand gegen Reformen. Deutschland wirkt müde, aber auch verändert. Es war kein vergebliches Jahr, wenn sich die Politiker dazu aufraffen könnten, das Erreichte als Basis für den nächsten Schritt zu nehmen.“

Kanzler Schröder: Steherqualitäten nach Jahren beständiger Wackelei.“

Bildunterschrift unter einem schnell voranschreitenden Kanzler Schröder.

Bericht über Schröders Reaktion auf einen Eierwerfer in Wittenberge:

Schröder zeigte sich unbeeindruckt von der Attacke. ‘ Wir werden diesen Prozess gegen jeden Protest durchsetzen, weil wir fest davon überzeugt sind, dass es eine vernünftige Alternative für unser Land und unsere Menschen nicht gibt’, rief er den Wittenbergern zu. (…) Er wirkte nie so ernsthaft wie im Kampf um die Reformen. In Wittenberge, sagen seine Vertrauten, war der Wendepunkt.”

Die SPD kommt in den Umfragen noch immer nicht über 34 Prozent hinaus. Und Schröder hat kaum Erfolge seiner Reformpolitik zu vermelden. Es ist noch zu früh für eine Bilanz, aber ein bisschen Bewegung nach oben hätte man sich schon gewünscht. Stattdessen wurden die Prognosen für das kommende Jahr gerade nach unten korrigiert. Viel mehr als ein Prozent Wachstum ist wohl nicht drin.
Das ist das Traurige des Jahres 2004. Es wurde so viel Aufwand betrieben für Reformen, auf der Bühne und auf der Probebühne, aber Deutschland ist allenfalls im Schildkrötentempo weiter gekommen. Und wer hat jetzt noch Kraft für den nächsten Anlauf? (…)“

Die Reformen haben zwar nichts, vor allem nicht den Wirtschaftsaufschwung, gebracht. Aber es soll so weitergehen. Allein schon die Tatkraft und die Bewegung beeindrucken.

Nach Merkels Erfahrungen wird Schröder den Teufel tun, das eigene Überleben an eine neue, radikalere Reformen zu binden. So wurde 2004 auch zu dem Jahr, an dessen Ende der Reformelan in der Politik gestoppt wurde. Das ist doppelt schade, weil 2004 auch das Jahr ist, indem sich die Deutschen darin einübten, Reformen zu erdulden und mitzutragen.“

Die meinungsführenden Eliten machen eine Tugend daraus, dem Volk ihre politische Linie – die Reformen zu Lasten der Sozialstaatlichkeit – aufzuzwingen.

Es begann als ein Jahr des Widerstands. … die Gewerkschaften kündigten große Protestwellen an. Dann kam der Sommer, und in Ostdeutschland gingen Zehntausende gegen Hartz IV auf die Straße.
Aber all dies verebbte relativ schnell. So glauben 87 Prozent der Bundesbürger, dass weitere Reformen notwendig seien. Gerade mal drei Prozent sagen, die bisher eingeleiteten Schritte gingen schon zu weit und seien ungerecht.
Aber 79 Prozent der Bürger sind bereit, bei gleichem Lohn länger zu arbeiten, um die deutsche Wirtschaft im internationalen Wettbewerb zu stärken und um Arbeitsplätze zusichern. Es sieht so aus, als hätten sich die Ansprüche verkleinert. Man sucht ein neues Maß….“

Es wird wie üblich insinuiert, wir hätten ein Wettbewerbsproblem und Arbeitszeitverlängerung würde Arbeitsplätze sichern

Die Umfrage wird ohne Quellenangabe zitiert. Sie kann also willkürlich sein. Allerdings ist vermutlich richtig, dass ein Teil der von Hartz IV Betroffenen resigniert hat. Das kann sich in Umfragen dann niederschlagen, wenn jene, die keine Angaben machen, auf den Rest der Antworten verteilt werden oder einfach weggelassen werden. Die Eliten haben in 2004 gelernt, dass man mit geschickter Propaganda die Mehrheit der Sich-weiter-beteiligenden für den eigenen Kurs gewinnen kann. Man muß nur zynisch genug sein, auf die Resignierten zu verzichten.

Interessant in diesem Kontext ist eine Bemerkung des SPIEGEL zu Müntefering:.

Im September konnte er erstmals wieder Luft holen. Frech erklärte Müntefering die Wahlen in Brandenburg und Sachsen trotz herber Verluste zum Erfolg und drang damit durch.“

Der „Spiegel“ hätte dabei nur noch erwähnen müssen, dass diese richtig beobachtete und gelungene Manipulation nur möglich war, weil die Hauptmedien dies unkritisch genauso interpretierten, mit dem immer wiederkehrenden Unterton, die Reformen müssten weitergehen.

Wachstumsrate der Bundesrepublik wird 2005 im EU-Vergleich voraussichtlich Schlusslicht sein. So allmählich sickert durch, dass ein Land mit solchen Leistungen sich nicht allzu viel gönnen sollte. Realismus kehrt ein. Das ist eine Chance für reformenfreudige Politiker.”

Autosuggestion .

Die Politiker sind erlahmt oder verunsichert von den ersten Reformschritten, aber das Land braucht mehr Tatkraft denn je. … Die Hoffnungen richten sich nun auf Horst Köhler, den Bundespräsidenten… Köhler hat vor Amtsantritt den Mund sehr voll genommen. Er wolle etwas ändern im Land und den Deutschen Mut zur Veränderung einhauchen. 2004 hat er noch nichts erreicht, weil er Zeit brauchte, um sich in sein Amt einzufinden.2005 wird für ihn die große Bewährungsprobe.”

Selbst kleine Details stimmen nicht. Horst Köhler hat schon 2004 ständig für Veränderungen geworben.

P.S.: Der politische Leitartikel im ersten SPIEGEL im Neuen Jahr ist erneut Ausdruck der Hilflosigkeit und Widersprüchlichkeit der Strategie der Spiegel-Ökonomen:

Ohne die Inanspruchnahme gewaltiger Kredite – allein 2004 kamen über 43 Milliarden Euro neu ins Soll – müsste Deutschland ein Minuswachstum ausweisen.“

Eine seltsame Einlassung, denn sonst wird doch immer behauptet, staatliches Defizitspending brächte gar nichts!

Aber immerhin gelang es Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, einen Kostenblock von acht Milliarden Euro, so die aktuelle Hochrechnung, von den Kassen zu den Privathaushalten zu verlagern.“

Eine tolle Gesundheitsreform, nicht wahr?

Zu Hartz:

Die Mehrzahl der Deutschen fürchtet: viel Aufwand für wenig Ertrag. Innerhalb der Regierung das gleiche Meinungsbild. Kaum jemand glaubt noch daran, dass die Hartz-Gesetze für ein Beschäftigungswunder sorgen. Wenn es für den Kanzler gut geht, wird es mit Hartz IV so enden wie mit Hartz I bis III: Der Effekt ist nicht messbar, aber alle haben den Eindruck, dass die Reform das Schlimmste verhindert hat.“

Ein vernichtenderes Urteil über die Hartz-Reformen kann man eigentlich nicht fällen. Aber keiner beim „Spiegel“ kommt auf die Idee, zu zweifeln, dass dieser „Reform“-Kurs“ richtig ist. Im Gegenteil, die Parole lautet: Dosis erhöhen und mit ein paar Ministerwechseln kann man das Scheitern schon überspielen.

Eine so lange Phase der Stagnation mit vergleichbar schwachen Wachstumsraten hat es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie gegeben. Die Ökonomen haben kaum Hoffnung, dass 2005 der Wiederaufstieg gelingen könnte.“

Hoffnungslose Ökonomen mit ökonomischen Konzepten, die hoffnungslos abwärts führen. Warum vertraut man ihren Rezepten eigentlich noch. Jeder Patient würde bei einer solchen Therapie den Arzt wechseln.

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