Vom Niedergang der ökonomischen Wissenschaft und Publizistik – dargestellt an der Rentenpolitik und am makroökonomischen Unverstand

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Es ist immer wieder erstaunlich, feststellen zu müssen, dass es in der Entwicklung der Menschheit so etwas wie eine Regression, also einen Niedergang, eine Rückwärtsentwicklung des Wissens und der Erkenntnis gibt. Heiner Flassbeck hat dies heute am Beispiel der rentenpolitischen Debatte belegt: Journalistischer Renten-Mischmasch – oder wie man ein wichtiges Thema mit Vorurteilen erledigt, obwohl die Lösung auf der Hand liegt. – Mit Hilfe einer wichtigen Rede des Bundeswirtschaftsministers Karl Schiller vom April 1967 kann man belegen, wie die makroökonomischen Erkenntnisse und Einschätzungen abgestürzt sind. Beredtes Zeichen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Relevanz des Absturzes ist das immer wieder erzählte Vorurteil, in den siebziger Jahren sei die von Keynes geprägte aktive Beschäftigungs- und Konjunkturpolitik gescheitert. Albrecht Müller.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Auf die Rede von Professor Schiller hat Gerhard Kilper hingewiesen. Kilper ist Ökonom, er verfolgt mit großem Sachverstand und Energie auch frühere relevante Texte. Ich zitiere zunächst aus der Mail von Gerhard Kilper und ergänze das dann durch eigene Beobachtungen bei der Lektüre der Rede Schillers.

Vorweg noch einige Informationen zur Einordnung:

Professor Dr. Karl Schiller war ein großer Makroökonom. Er wurde Bundeswirtschaftsminister, als die SPD im Dezember 1966 mit der CDU/CSU unter dem Bundeskanzler Kiesinger (CDU) eine große Koalition einging. Hauptzweck dieser Koalition war die Wiederbelebung von Konjunktur und Beschäftigung. Schillers Gegenspieler war damals der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß. Dabei kann man für die erste Zeit dieser Koalition nicht von einem Gegeneinander sprechen. Der SPD-Mann Schiller und der CSU-Mann Strauß haben gut zusammengearbeitet – mit großem Erfolg. Die Rezession der Jahre 1966/67 war schon spätestens 1969 vollständig überwunden. Konzeptionell federführend war Schiller. – Noch eine persönliche Ergänzung: ab August 1968 war ich Redenschreiber von Karl Schiller und dann im Wahlkampf 1969, der mit einem inhaltlichen Schwerpunkt um die Frage der Aufwertung der D-Mark kreiste, in Schillers Auftrag für diese Thematik des Wahlkampfes verantwortlich.

Die damalige Rede Schillers ist interessant und aktuell. Die Lektüre ist all jenen NachDenkSeiten-Leserinnen und Lesern zu empfehlen, die sich für wirtschaftliche Zusammenhänge und mögliche wirtschaftspolitische Lösungen interessieren. Gerhard Kilper schreibt dazu:

„Karl Schillers Rede bei der Beratung des dritten Jahresgutachtens des Sachverständigenrates im Bonner Bundestag am 27. April 1967, enthält viele heutzutage immer noch aktuelle wirtschafts- und finanzpolitische Überlegungen und Aussagen, z.B. zur Planung und Durchführung einer damals erforderlichen antizyklischen Haushaltspolitik (Vorziehen öffentlicher Investitionen in Verbindung mit der Einbringung eines Zusatzhaushalts oder mehrfach der Hinweis zur Notwendigkeit der Herstellung eines außenwirtschaftlichen Gleichgewichts …).

Schillers Redetext (14 Seiten) finden Sie hier gescannt als pdf-Datei. Sie ist entnommen dem Buch: BMWI Texte, Reden zur Wirtschaftspolitik 1 von Prof. Dr. Karl Schiller, Bundesminister für Wirtschaft; herausgegeben von der Pressestelle des Bundesministeriums für Wirtschaft, Bonn 1968. Der Text ist abgedruckt auf den Seiten 95-108.

Schillers Rede bzw. seine Argumentation halte ich insofern für aktuell, als 1967 konjunkturell eine vergleichbare Stagnations-/Rezessionsphase wie heute in der Eurozone bestand und weil die Vorgänger-Regierung Erhard wohl durch ideologische Scheuklappen nicht in der Lage war, ein abgestimmtes wirtschafts- und finanzpolitisches Maßnahmebündel in Richtung konjunkturelle Expansion auf den Weg zu bringen.

Staatssekretär Müller-Armack, der z.B. für aktive Konjunkturpolitik, für die dynamische Rente – die Rentenreform 1958 wurde von ihm gegen den Willen Erhards mit Adenauers Unterstützung durchgesetzt – oder für eine gerechtere Vermögensverteilung stand, war 1963 von seinem Amt zurückgetreten. Müller-Armack hatte sich seit 1950 Erich Preiser als führenden Berater-Kopf und wohl „Erfinder“ des „Magischen Dreiecks“ in den Wissenschaftlichen Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium geholt.

Schillers Überlegungen und Maßnahmen-Vorschläge würden m.E. grundsätzlich auch für die Wirtschafts- und Finanzpolitik in Euroland Sinn machen, wenn in der Lohnpolitik Deutschland in einer Art „Konzertierten europäischen Aktion“ bereit wäre, nachholend sein Lohnniveau entsprechend den Produktivitätsfortschritten zumindest der letzten 5 Jahre zu erhöhen. 

Schiller hielt seine Rede für die damalige Regierung der Großen Koalition, ihre Inhalte wurden also auch vom damaligen Finanzminister und VWL-Studenten Strauß mitgetragen. Dermaßen also haben sich die Koordinaten und Argumentationsniveaus hin zum heutigen Juristen Schäuble verschoben.“

So viel von Gerhard Kilper.

Hier meine ergänzenden Anmerkungen auf der Basis der Lektüre der Schillerrede:

  1. Es ist erstaunlich, wie schnell und aktuell die damalige Bundesregierung auf konjunkturelle Veränderungen reagierte und die eigene Politik nachjustierte. Es geht in der zitierten Rede vor allem um öffentliche Ausgaben, um das Vorziehen solcher, und um Sonderabschreibungen, weil man beobachtete, dass die Konjunktur noch eines Schubs bedurfte usw. Und dies alles nach nur sieben Monaten Regierungsverantwortung. So anders kann Wirtschaftspolitik sein!
  2. Welch ein Sachverstand in der Bundesregierung! Verglichen mit Schäuble, dem Sparonkel. Und verglichen mit dem Bundeswirtschaftsminister von heute, der sich offensichtlich überhaupt nicht um Konjunktur und Beschäftigung kümmert. Jedenfalls hört man nichts davon.
  3. Es ist dann auch erstaunlich, wie schnell und erfolgreich die Volkswirtschaft auf die wirtschaftspolitischen Maßnahmen reagierte.
  4. Zu diesen Maßnahmen gehörte damals herausragend die benutzte Sprache und man könnte auch sagen die Aufschwungspropaganda. Schiller bediente sich und das Publikum mit einer sehr bildhaften Sprache, zum Beispiel: Wir überwinden die Talsohle. Aufschwung nach Maß. Expansive Wirtschaftspolitik. Die Pferde müssen wieder saufen. Zündungsaggregat des Investitionshaushalts. Konzertierte Aktion. Antizyklisch. Die Richtung stimmt. Das wurde in Anzeigen der Bundesregierung und auf Streichholzschachteln, untermalt mit einem Pfeil nach oben und dem Slogan „Die Richtung stimmt“, unters Volk gebracht.

    Schiller selbst zitiert in seiner Rede einen Beobachter von außerhalb, der die Bedeutung der Sprache für die Wirtschaftspolitik erkannt hat und beschreibt.

  5. Schiller attackiert die Stabilisierungspolitik um jeden Preis. Das ist das, was wir zurzeit mit Schäuble und Merkel haben.
  6. Freimütig attackiert er auch die Bundesbank. Diese war damals und dann ganz besonders in den siebziger Jahren der Hauptagent zulasten der Beschäftigungspolitik. – Offensichtlich hatte damals im Jahre 1967 die Bundesbank Nein zu konjunkturpolitischen Konsequenzen aus einem Sondergutachten des Sachverständigenrates gesagt. Darauf Karl Schiller: „Die Bundesregierung hat daher … kühl festgestellt, es sei allein Sache der Bundesregierung, einen möglichen zweiten Eventhaushalt beim Parlament zu beantragen.“
  7. Der Sachverständigenrat muss etwas besser besetzt gewesen sein; jedenfalls geht Bundeswirtschaftsminister Schiller mit diesem relativ freundlich um.
  8. Richtig spannend und hochaktuell sind die Anmerkungen des damaligen Bundeswirtschaftsministers zur außenwirtschaftlichen Absicherung und zu den sogenannten Exportüberschüssen. Anders als die Laienprediger von heute hat sich der damalige Bundeswirtschaftsminister nicht der Exportüberschüsse gerühmt und sich als Exportweltmeister gepriesen. Er hat anders als heute auch an unsere außenwirtschaftlichen Partner gedacht, als er feststellte, „dass der Exportüberschuss für das internationale Zahlungsbilanzgleichgewicht schon ein recht problematisches Ausmaß erreicht hat.“

    Schiller spricht mit Berufung auf seine Mitarbeiter von „Einfuhr-Defizit“. Bei diesem Begriff schwingt anders als bei „Exportüberschuss“ eine andere Wertung, eine korrekte Wertung, mit. Er ergänzt: „Wenn diese Entwicklung unverändert anhält, steht die Bundesrepublik in der Gefahr, erneut zum Störenfried für die internationalen Wirtschaftsbeziehungen gestempelt zu werden.“

    Wenn dieser damalige Schiller die Eurozone konstruiert hätte oder erlebt hätte, was seit Beginn des gemeinsamen Währungsraums passiert ist, welche Rolle Deutschland als Störenfried internationaler Wirtschaftsbeziehungen de facto spielt, er wäre dagegen angegangen. Die heutigen Matadore sonnen sich im Glanz der zerstörerischen Leistungsbilanzüberschüsse/Exportüberschüsse unseres Landes. So anders ist die Welt gewesen und zu einfältig ist sie geworden. So deutlich kann man die Regression, den Niedergang des Sachverstandes der ökonomischen Wissenschaft und der Publizistik festmachen.

    Damals erntete Schiller mit dieser einsichtigen Politik bei den meisten, auch bei konservativen Journalistinnen und Journalisten, Zustimmung. Heute verstehen wahrscheinlich die meisten schon nicht mehr, um was es geht. Dafür spricht, dass sie sowohl die sogenannte Sparpolitik als auch die Exportüberschusspolitik der heutigen Bundesregierung meist applaudierend mitgemacht haben.

Anhang:
Ein weiterer Hinweis von Gerhard Kilper auf einen interessanten früheren Text in der „Zeit“:

Lieber Herr Müller,

bitte erlauben Sie, dass ich Sie nochmals wegen eines anderen Textes aus den 1960er Jahren anschreibe, an den ich über eine Fußnote aufmerksam wurde und den man heute auch dem neoliberalen Ökonomie-Mainstream in Sachen Finanzpolitik vorhalten könnte (falls Sie etwas zur Schiller Rede schreiben, könnten sie ja diesen Artikel u.U. noch anhängen – wenn das irgendwie passt).

Es ist eine Veröffentlichung des ehemaligen Frankfurter Wirtschaftsprofessors Albert Hahn in der ZEIT vom  5.4.1963 mit dem Titel „Brüning war an allem schuld“. In dem Artikel prangert selbst dieser, in seinen Schriften nach dem Krieg (er war seit Mitte der 30er Jahre in die USA emigriert) sonst emotional-unvernünftig anti-keynesianisch argumentierende enge ordo-liberale Gefolgsmann Erhards, die Brüningschen Austeritätspolitik wegen ihrer Haushalts- und Steuerpolitik an, bzw. er geht mit Brünings Finanzpolitik hart ins Gericht.

Hahn hatte 1920 eine an Wicksell orientierte für den deutschsprachigen Raum damals bahnbrechend neue Geldtheorie entwickelt, in der er die de facto unbegrenzte Geldschöpfungsmöglichkeit der Privatbanken darlegte. Er war mit u.a. Hans Gestrich Unterstützer des Lautenbach-Plans, der 1932 an Brüning geschickt und von diesem abgelehnt wurde. 

(Wilhelm Lautenbach und Hans Gestrich gehörten zusammen mit dem jungen Erich Preiser zu den Keynesianern des „Freiburger Kreis“ oppositioneller Ökonomen, die sich in den 1930er Jahren im Hause Walter Euckens in Freiburg trafen. Nach inhaltlichem Dauer-Streit über die Bedeutung von Keynes und die auch von Lautenbach/Gestrich ähnlich entdeckten makroökonomischen Kreislaufzusammenhänge, trennte sich Wilhelm Lautenbach von den Freiburgern, Gestrich und Preiser blieben dabei, ohne von ihren Keynes-Standpunkten abzurücken. Im Gegensatz zu Eucken und seinem Anhänger Erhard glaubten Preiser/Gestrich nie an die Hauptaussage des ordo-liberalen Modells, der reglementierender Rahmen einer Rechtsordnung im Zusammenspiel mit einem über über den wirtschaftlichen Interessen stehenden starkem Staat genüge schon für das konjunkturlose Funktionieren des Neoklassik-Modells).

Nachbemerkung Albrecht Müller: Ich habe diese Ergänzung gerne angehängt, weil sie zum Thema gehört und außerdem noch mal auf Erich Preiser hinweist. Ich habe diesen sehr guten Ökonomen und Keynesianer beim Studium, bei der Diplomprüfung und dann als Kollegen meines Chefs Hans Möller in München erlebt. Fast in jeder Hinsicht ein Genuss. Preisers Bücher sind sicher auch noch lesenswert und vermutlich auch aktuell.

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