Ist das der Beginn vom Ende der Deutungshoheit?
In Großbritannien hat sich die geballte Front der Massenmedien zusammen mit den Parteieliten gegen den Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn verschworen. Corbyn nahm den Kampf auf – über die Sozialen Netzwerke und Onlinemedien haben seine Anhänger eine wirkungsvolle Gegenöffentlichkeit geschaffen. Bei den kommenden Wahlen zum Parteivorsitz geht Corbyn als großer Favorit ins Rennen. In den USA hat Bernie Sanders gezeigt, wie man ohne das große Geld, dafür aber mit der Unterstützung der Sozialen Netzwerke, gegen eine Einheitsfront der Massenmedien mehr als einen Achtungserfolg erzielen kann. Gleiches gilt für Donald Trump, der neben den Massenmedien auch noch das versammelte Parteiestablishment gegen sich hat. Hat die Macht der Meinungsmacher ihren Zenit überschritten? Sind die Beispiele Corbyn und Sanders auch auf Deutschland übertragbar? Von Jens Berger.
Corbynistas gegen den Mainstream
Wissenschaftler der angesehenen London School of Economcis haben vor wenigen Wochen eine Studie veröffentlicht, in der sie analysiert haben, wie die großen Zeitungen des Landes über Jeremy Corbyn berichten. Das Ergebnis ist eindeutig und wenig überraschend: Klassisch konservative bis reaktionäre Blätter wie die Sun oder der Daily Telegraph berichten fast nie neutral oder gar positiv über Corbyn, sondern nehmen meist eine klar ablehnende Position ein. Und selbst bei „liberalen“ Blättern wie die dem Daily Mirror oder dem Guardian überwiegt die Kritik. Passenderweise trägt die LSE-Studie dann auch den Titel: „Vom Wachhund zum Kampfhund“.
Corbyn kennt dieses „Phänomen“ natürlich selbst nur zu genau.
„Unsere Partei wird von dem Großteil der Medien in diesem Land angegriffen; so hart wie nie zuvor. Wie können wir überhaupt noch die Menschen erreichen? Einerseits durch Veranstaltungen wie diese. Andererseits aber auch ganz massiv über die Sozialen Netzwerke. […] In nur einer Woche können wir online ein bis zwei Millionen Menschen mit einer Botschaft erreichen, die von dieser oder einer anderen Veranstaltung ausgesendet wird. Auf diese Art und Weise lässt sich die Zensur umgehen, die so lange durch die rechten Medien in diesem Lande ausgeübt wurde und die die politische Debatte kanalisiert hat. [..] Lasst uns anfangen, die politische Debatte auf eine neue Stufe zu heben.“
Jermey Corbyn auf einer Momentum-Veranstaltung
Seit die „Corbynistas“ den Kampf gegen die klassischen Medien aufgenommen haben, ist der Hashtag #WeAreHisMedia (Wir sind seine Medien) in den Sozialen Netzwerken eine feste Größe. Corbyn hat fast 800.000 Facebook-Freunde und 617.000 Twitter-Nutzer folgen seinen Kurznachrichten. Und dies sind nur die Zahlen für den offiziellen Kanal. Über die Netzwerke seiner Fans und Unterstützer erreicht Corbyn mit seinen Botschaften über die Sozialen Netzwerke bis zu 15 Millionen Menschen. Owen Smith, sein Konkurrent vom rechten Parteiflügel, hat übrigens überschaubare 12.000 Facebook-Unterstützer. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache.
Für die „Corbynistas“ ist die Sache klar: Die Massenmedien sind das Sprachrohr des einen Prozents, während die Sozialen Medien die Stimme der 99% sind. Wen interessiert schon ein reaktionärer Kommentar in der Sun, wenn ein Pro-Corbyn-Kommentar über Facebook 15 Millionen Briten erreicht? Corbyn hat es auch geschafft, seine Anhänger vom Netz in die reale Welt zu bringen. Als seine Genossin Angela Eagle Corbyn einen Dolch in den Rücken rammte, versammelten sich spontan tausende meist junge „Corbynistas“ vor dem Parlament in Westminster, um ihrem Idol ihre Solidarität zu zeigen. Mit der – weitestgehend autonom von der Labour Party organisierten – Momentum-Bewegung verfügt Corbyn über ein nationales Netzwerk, das nicht nur im Netz, sondern auch und vor allem auf der Straße Werbung für Corbyn und dessen Positionen macht. Was wir momentan in Großbritannien beobachten können, ist genau das, was man sich in seinen kühnsten Träumen unter „Gegenöffentlichkeit“ vorstellt. Bravo!
Feel the Bern!
Parallel zu Corbyn hat es auch jenseits des Atlantiks ein großartiges Beispiel von erfolgreicher Gegenöffentlichkeit gegeben. Entgegen allen Erwartungen konnte sich dort der zuvor weitestgehend unbekannte Senator Bernie Sanders bei den Vorwahlen der Demokraten beinahe gegen die „unvermeidbare“ große Favoritin Hillary Clinton durchsetzen. Clinton hatte das große Geld, die Funktionärselite ihrer Partei und nahezu alle großen Medien hinter sich. Sanders hatte nur seine Unterstützer und die Sozialen Netzwerke. Auch Sanders, oder besser gesagt, seine Unterstützer und Fans konnten die Debatte über und durch die Sozialen Netzwerke auf eine neue Ebene heben und die Kampagnen der Massenmedien kontern. Schlussendlich war es die Parteielite, die über ihre sogenannten „Superdelegierten“ dafür sorgte, dass Clinton mit Ach und Krach nominiert wurde. Auch Bernie Sanders ist ein positives Beispiel für die gestiegene Macht der Gegenöffentlichkeit.
Wo Licht ist, ist auch Schatten
Die USA zeigen jedoch, dass nicht nur progressive Politiker über die Gegenöffentlichkeit und die Sozialen Netzwerke an der Deutungshoheit und Meinungsmacht der Massenmedien vorbei zum Erfolg kommen. Auch Donald Trump ist ein passendes Beispiel für diese Mechanismen. Auch Trump ist nicht der Kandidat des großen Geldes, auch Trump steht – mit kleineren Ausnahmen – einer Einheitsfront der Massenmedien gegenüber und auch Trump hat nahezu das gesamte Partei-Establishment gegen sich. Auch Trumps Erfolg lässt sich vor allem durch seinen überwältigenden Erfolg in den Sozialen Netzwerken und die Unterstützung seiner Anhänger im Netz erklären. Das Beispiel USA zeigt nämlich auch sehr gut, dass nicht nur die Progressiven, sondern auch und vor allem die Libertären und die Reaktionären das Netz und die Sozialen Netzwerke nutzen, um gegen die Massenmedien anzukommen. Was ist denn die Tea-Party-Bewegung, wenn nicht Gegenöffentlichkeit? Schon 2008 und 2012 konnte der libertäre Kandidat Ron Paul hier für Aufsehen sorgen, schaffte er es doch ohne nennenswerte Unterstützung des Establishments nur über die Sozialen Netzwerke, eine Kandidatur auf die Beine zu stellen, die, wenn auch nicht erfolgreich, dennoch sehr bemerkenswert war.
Auch eine braune Gegenöffentlichkeit ist eine Gegenöffentlichkeit
Ist so etwas in Deutschland auch denkbar? Ja. Auch wenn wir Progressiven dies nicht wahrhaben wollen, werden wir auch in Deutschland gerade eben Zeugen eines politischen Siegeszuges, der sich fast ausschließlich auf die Aktivitäten der Unterstützer in den Sozialen Netzwerken in Totalopposition zu den Massenmedien ereignet. Sie ahnen es, ich spreche von den Erfolgen der AfD. Im Netz ist die AfD nämlich eine Größe. Während die SPD 111.000, die CDU 115.000, die Grünen 114.000 und die Linken 143.000 „Likes“ auf Facebook haben, kann die AfD hier 283.000 Stimmen verbuchen. Über ein weit verzweigtes Netzwerk von Sympathisanten erreicht die AfD so auch Millionen Menschen mit ihren Botschaften. Und was die „Lügenpresse“ so schreibt, interessiert die AfD-Anhänger ja ohnehin nicht. So schafft es auch die AfD – ob dies einem nun gefällt oder nicht – sich sehr erfolgreich ihre eigene Gegenöffentlichkeit zu schaffen.
Ob in Deutschland auch linke Politiker die Gegenöffentlichkeit für sich nutzen können, ist hingegen eine Frage, die schwer zu beantworten ist. Sowohl Corbyn als auch Sanders sind vor allen eins: Authentisch! Ohne Authentizität nutzt das gesamte Netz nichts. Es geht nicht darum, wie etwas verkauft wird, sondern darum, wer es verkauft und vor allem, was hier überhaupt verkauft werden soll. Ein Sigmar Gabriel könnte alle Social-Media-Berater der Welt an seiner Seite haben und würde in den Sozialen Netzwerken nie und nimmer punkten können. Interessanter ist da die Frage, ob Oskar Lafontaine 1999 den SPD-Vorsitz auch dann abgegeben hätte, wenn es damals schon eine Gegenöffentlichkeit gegeben hätte. Die Parallelen zu Corbyn drängen sich hier ja förmlich auf. Die Werkzeuge und Medien der Gegenöffentlichkeit sind in Deutschland jedenfalls vorhanden. Die NachDenkSeiten müssen sich beispielsweise nicht vor britischen oder amerikanischen Portalen der Gegenöffentlichkeit verstecken. Sicher könnte es auch in Deutschland eine Corbyn- oder Sanders-Manie geben … was aber (noch) fehlt, ist der deutsche Jeremy Corbyn oder der deutsche Bernie Sanders.
Die Grenzen der Gegenöffentlichkeit
Bei aller Freude über die Erfolge von Corbyn und Sanders sollte man sich jedoch davor hüten, die Macht und Wirkmächtigkeit der Sozialen Netzwerke und der Gegenöffentlichkeit zu überschätzen. Corbyn ist bei seinen eigenen Anhängern zwar überaus beliebt und wird es auch schaffen, den rechten Parteiflügel von Labour zu überleben … ob er auch bei Unentschlossenen oder gar beim politischen Gegner ankommt, ist noch vollkommen offen. Die aktuellen Umfragen sprechen da jedenfalls eine andere Sprache. Der normale Brite verfolgt offenbar doch eher die BBC, die Sun oder die Daily Mail und nutzt das Netz entweder gar nicht oder abseits der Unterstützer-Netzwerke eines Jeremy Corbyn. Bis zu den Unterhauswahlen ist es freilich noch lange hin. Die Corbynistas haben noch einen Haufen Arbeit vor sich.
Auch Bernie Sanders hat am Ende des Tages den Zweikampf gegen Hillary Clinton bekanntlich verloren. Die Kampagnen der Massenmedien dürften dabei ausschlaggebend gewesen sein. Und ob Donald Trump sich gegen den momentan aufziehenden Kampagnen-Orkan der Massenmedien wird behaupten können, ist momentan auch mehr als ungewiss. Es würde wohl niemanden ernsthaft überraschen, wenn die Kandidatin des Geldes, des Establishments und der Massenmedien sich am Ende durchsetzt.
Die Gegenöffentlichkeit über die Sozialen Netzwerke ist somit zwar momentan vorhanden und kann innerhalb einer politischen Bewegung die Zensur und Einflussnahme der Massenmedien umgehen und aushebeln; der Beweis, dass über die Sozialen Netzwerke auch politische Gegner überzeugt und „echte“ Wahlen gewonnen werden können, steht jedoch noch aus. Das Monopol der Massenmedien auf Meinungsmacht bröckelt jedoch. Vielleicht beobachten wir ja momentan den Beginn vom Ende der Deutungshoheit.