Blockade-Gedenken: Rote Nelken auf dem Piskarowskoje-Friedhof in St. Petersburg

Blockade-Gedenken: Rote Nelken auf dem Piskarowskoje-Friedhof in St. Petersburg

Blockade-Gedenken: Rote Nelken auf dem Piskarowskoje-Friedhof in St. Petersburg

Ulrich Heyden
Ein Artikel von Ulrich Heyden

St. Petersburg gedachte gestern einer Million Toter, die bei der Blockade der Stadt durch die deutsche Wehrmacht starben. Leningrad – die Wiege der russischen Revolution – wollten die Nazis aushungern und mit Luftwaffe und Artillerie zerstören. Von Ulrich Heyden.

Gestern gab es am Eingang des Piskarowskoje-Friedhof in St. Petersburg großes Gedränge. Das Wetter war nasskalt und der Himmel grau. Trotzdem herrschte vor dem Eingang des Friedhofs im Nordosten der Newa-Stadt eine aufgeregt-geschäftige Stimmung. Soldaten und Ausbilder von Militärhochschulen und Vertreter der St. Petersburger Behörden trugen große Kränze mit farbigen Schleifen. Schüler mit blauen Jacken und dem Aufdruck „Freiwillige des Sieges“ sowie eine ganze Klasse von Lehrlingen einer Fachschule für Schweißer standen zusammen mit ihren Leitern und Lehrern im lebhaften Gespräch.

In den Massengräbern auf dem Piskarowskoje-Friedhof liegt eine halbe Million Menschen – Opfer der Blockade und sowjetische Soldaten / Foto Ulrich Heyden

„Wenn sie nicht gekämpft hätten, gäbe es uns heute nicht“

Es waren Jugendliche, welche die Blockade von Leningrad nur aus Erzählungen kennen. Man kann nicht sagen, dass sie alle traurige Gesichter machten. Es waren ganz gewöhnliche Jugendliche. Aber der Großteil von ihnen hat vermutlich verstanden, dass ihre Vorfahren eine große Leistung vollbracht haben. „Wenn sie nicht gekämpft hätten, dann gäbe es uns heute nicht“, sagt mir einer der jungen Leute.

Der 27. Januar ist für St. Petersburg einer der wichtigsten Gedenktage. An diesem Tag im Jahr 1944 wurde der Blockadering, den die deutsche Wehrmacht seit dem 8. September 1941 um die Stadt gelegt hatte, von den Truppen der Roten Armee durchbrochen.

Gestern um elf Uhr begann am Piskarowskoje-Friedhof ein Marsch mit Blumen und Kränzen vorbei an den Massengräbern, in denen 500.000 Menschen beerdigt sind – Soldaten und Menschen, die während der Blockade der Stadt an Hunger, Krankheiten und Kälte gestorben sind. Im Blockade-Museum in der Soljanoi-Gasse sehe ich später auf großen Tafeln die Befehle deutscher Militärs, Phillip Kleffel und Franz Halder, welche belegen, dass die NS-Führung den Plan hatte, die Stadt Leningrad – die Wiege der russischen Revolution – auszuhungern und zu zerstören.

Bereits zwei Monate nach Kriegsbeginn gegen die Sowjetunion, am 28. August 1941, schrieb Franz Halder, Generalstabschef des deutschen Heeres, „jeder Versuch der Zivilbevölkerung, die Umzingelung zu durchbrechen, muss verhindert werden“.

Kommandeur Phillip Kleffel: „Nicht das kleinste Mitleid mit Frauen und Kindern“

Am 13. Dezember 1941 schrieb der Kommandeur der 1. Infanterie-Division Phillip Kleffel in einem Befehl, „dieser Kampf fordert, dass wir nicht das kleinste Mitleid mit der hungernden Bevölkerung haben, auch nicht mit Frauen und Kindern.“ Man werde sie nicht durch die Front lassen. Die Frauen und Kinder seien Russen, die „überall wo es möglich war, Verbrechen begangen haben.“

Der Marsch über den Piskarowskoje-Friedhof endete vor dem Denkmal „Mutter Heimat“. Das Denkmal zeigt eine trauernde Frau mit ausgebreiteten Armen. Vor dem Denkmal wurden rote Nelken und Kränze abgelegt. Auch ich habe dort zusammen mit einer Gruppen von Journalisten und Politikern aus Tschechien Blumen niedergelegt. Während der Zeremonie klang über den Friedhof mit seinen großen, viereckigen, leicht erhöhten Massengräbern getragene Orgel-Musik.

77.000 „Blokadniki“ leben noch

Nicht weit von dem Denkmal „Mutter Heimat“ komme ich mit der Leiterin der Organisation der Überlebenden der Blockade, Jelena Tichomirowa, ins Gespräch. Sie erzählt, dass in der Stadt heute noch 77.000 Überlebende der Blockade leben. Der 27. Januar sei für sie ein Tag der Freude, aber auch ein Tag der Trauer. Sie habe 13 Monate der Blockade in der Stadt verbracht. Dann wurde sie in das sibirische Altai-Gebiet evakuiert. Jelena wurde 1934 geboren und war zu Beginn der Blockade acht Jahre alt. Leningrad hatte 1941 3,2 Millionen Einwohner. Bis zum Februar 1943 wurden 1,7 Millionen Menschen evakuiert.

Überlebende der Blockade mit Angehörigen / Foto: Ulrich Heyden

Jelena Tichomirowa erinnert sich, dass nach Luftangriffen im September 1941 die Lager für Lebensmittel brannten. Sie erinnert sich auch, dass der Zoo brannte und eine Elefantenkuh schrie. Ihre Großmutter und Mutter seien während der Blockade gestorben. Freundinnen von ihr fielen plötzlich auf der Straße um und starben. Der Grund war der Hunger und Temperaturen von 30 Grad Minus. Wer in den Rüstungsbetrieben der Stadt arbeitete, bekam 250 Gramm Brot am Tag. Wer nicht arbeitete, bekam nur 125 Gramm am Tag. Ja, sie habe immer Angst gehabt, selbst zu sterben, „insbesondere wenn die Beschießungen anfingen. Das ist das natürliche Gefühl eines Kindes,“ erzählt die 86-Jährige.

Die Kinder hätten besonders unter der Blockade gelitten. Kinder bräuchten bis zum Alter von sieben Jahren eine bestimmte Ernährung, damit sich ihre inneren Organe entwickeln. Es gäbe Frauen, die nach der Blockade keine Kinder mehr gebären konnten. Andere hätten wegen des Hungers damals nur sehr kleine Herzen. Wie die Unterstützung der Blockade-Opfer heute aussehe, frage ich Jelena. Fast alle, die noch in Gemeinschaftswohnungen wohnten, hätten eigene Wohnungen bekommen, erklärte die Verbandsvorsitzende.

Um zu verhindern, dass sich das Grauen des Faschismus wiederhole, müsse man aufklären und geschichtliche Kenntnisse in der Jugend verankern, sagt Jelena. Leider sei diese Aufklärung in Russland weniger geworden. „Warum wurde das deutsche Volk so verführt? Weil es seine eigene Geschichte nicht kannte.“

In der ganzen Stadt Veranstaltungen

Auf zahlreichen Friedhöfen von St. Petersburg wurden gestern Kränze und Blumen niedergelegt. Auf dem Platz vor der Ermitage wurden Militärfahrzeuge und Panzer aus dem Zweiten Weltkrieg und modernes Militärgerät der russischen Armee ausgestellt.
Auf dem Platz vor der Ermitage gab es auch ein Zelt, wo Aktivisten für einen Film Geld sammelten. Der Film soll über die Arbeit des russischen Balletts aufklären, das während der Blockade – zwar mit verminderter Kraft – aber immerhin weiterarbeitete. In dem Zelt der Aktivisten hingen Plakate von Ballett-Aufführungen und Konzerten, die während der Blockade stattfanden. Am Abend gab es über der Newa ein grandioses Feuerwerk.

Blockade-Gedenken auf dem Piskarowskoje-Friedhof / Foto Ulrich Heyden

ARD-Korrespondentin stänkert gegen Aufstellung eines Blockade-Denkmals

Für mich als Deutscher war es ein sehr merkwürdiges Gefühl, an diesem 27. Januar in St. Petersburg zu sein. Oft versagte meine Stimme, wenn ich mit Kriegsveteranen sprach. Ich war den Tränen nahe. Es ist weniger ein Schuldgefühl, das mich plagt, sondern die Tatsache, dass die von der deutschen Wehrmacht in der Sowjetunion begangenen Kriegsverbrechen heute wieder verschwiegen, kleingeredet und mit den Verbrechen Stalins aufgerechnet werden. Man fühlt sich an die 1950er und 1960er Jahre erinnert.

Erschüttert war ich über den Kommentar der ARD-Korrespondentin Sabine Müller. Sie monierte, Putin und Netanjahu hätten mit der Aufstellung eines Denkmals zur Erinnerung an die Blockade von Leningrad in Tel Aviv nicht würdevoll gehandelt. Diese Denkmalsaufstellung sei eine „Privatparty“ gewesen und die Überlebenden von Auschwitz bei der Hauptveranstaltung zu Auschwitz in Tel Aviv hätten auf Putin und Netanjahu warten müssen.

Ich halte es für verhängnisvoll, wenn man Opfer des deutschen Faschismus gegeneinander ausspielt. Solange wir nur um Juden, aber nicht auch um die Blockade-Opfer von Leningrad und die in deutschen Kriegsgefangenenlagern verhungerten sowjetischen Soldaten trauern, haben wir unsere Geschichte als Deutsche nicht aufgearbeitet und nicht die nötigen Lehren gezogen.

Ulrich Heyden, St. Petersburg