Der Blindflug durch den Lockdown setzt sich fort

Der Blindflug durch den Lockdown setzt sich fort

Der Blindflug durch den Lockdown setzt sich fort

Jens Berger
Ein Artikel von: Jens Berger

Vor mehr als zwei Wochen hatten die NachDenkSeiten auf die mangelnde Datenbasis hingewiesen, die den „Corona-Maßnahmen“ von Bund und Ländern zugrundeliegt. Leider hat sich an diesem Zustand – in dieser für Pandemieverhältnisse kleinen Ewigkeit – nicht viel geändert. Die vorhandenen Daten sind zwar Grund für Optimismus; aber da sie ebenso fragwürdig sind wie die vorherigen, negativen Daten, sind auch hier seriöse Aussagen so gut wie unmöglich. Belastbare Daten wird wohl erst eine großangelegte repräsentative Studie des RKI bringen – doch die beginnt erst Mitte Mai und mit Ergebnissen ist wohl erst im Sommer zu rechnen. Wollen die Regierungen das Land etwa so lange im Blindflug steuern? Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Wenn man sich die Daten des Robert Koch-Instituts zur jüngeren Ausbreitung des neuen Coronavirus anschaut, könnte man eigentlich entspannt in die Zukunft schauen und sich endlich ernsthaft mit einer gestaffelten Exit-Strategie auseinandersetzen, die ein wenig ambitionierter ist als die in dieser Woche von Bund und Ländern umrissenen Lockerungen. Denn die Daten zeigen vor allem eins: Die Zahl der aktiv Erkrankten geht mittlerweile zurück. Seit Ostersonntag ist die Zahl der „Neu-Genesenen“ Tag für Tag höher als die offiziell vermeldete Zahl der „Neu-Infizierten“. Doch diese Zahlen sind in der Rohform leider aus mehreren Gründen nicht sonderlich belastbar.

Ein Problem ist der sogenannte Meldeverzug. In Deutschland wird nach wie vor meist nur dann getestet, wenn die zu testenden Personen dafür einen guten Grund haben. Dies kann die berufliche Funktion z.B. als Arzt oder Pfleger sein, dies kann der Kontakt zu Erkrankten sein und in sehr vielen Fällen sind dies vor allem konkrete Symptome, die auf eine mögliche Covid-19-Erkrankung hindeuten. Bis ein Patient Symptome entwickelt, vergehen jedoch in der Regel laut RKI fünf bis sechs Tage. Rund zwei Tage kommen mindestens für die Auswertung des Tests und den Rücklauf der Ergebnisse zum behandelnden Arzt hinzu und dann dauert es noch einmal mindestens zwei Tage, bis ein positives Ergebnis seinen Meldeweg über die Gesundheitsämter bis zum RKI durchlaufen hat. Die Zahlen, die RKI-Chef Lothar Wieler auf seinen Pressekonferenzen „tagesaktuell“ verkündet, betreffen also Infektionen, die je nach Umstand bis zu zwei Wochen zurückliegen.

Das weiß auch das RKI und hat in diese Woche – besser zu spät als nie – ein Rechenmodell entworfen, das diesen Zeitverzug durch statistische Schätzungen auszugleichen versucht. Seit dem 15. April veröffentlicht das RKI diese Daten auch im Rahmen seines täglichen Situationsberichts. Auch wenn die Datenbasis fragwürdig ist, zeigt die Auswertung doch sehr klare Trends.

So nimmt die Zahl der vom RKI angegebenen Neuinfektionen seit dem 18. März – also seit gut einem Monat – ab. Zur Einordnung: Am 9. März wurden in vielen Bundesländern Veranstaltungen über 1.000 Teilnehmer untersagt. Am 16. März verständigten sich Bund und Länder zu gemeinsamen Leitlinien gegen die Ausbreitung; der Beginn des Lockdowns.

Kaum überraschend ist, dass auch die vom RKI geschätzte Reproduktionsrate, also der Faktor, wie viele weitere Menschen ein Infizierter ansteckt, seit Beginn der Maßnahmen rückläufig ist. Hier war der 12. März der Höhepunkt, mit einer sehr hohen Reproduktionsrate von mehr als R=3,2 – offenbar hat hier vor allem die Kombination aus dem Verbot von Großveranstaltungen und die Informationspolitik, die die Menschen für die Zusammenhänge sensibilisiert hat, zu einem Wendepunkt geführt. Erstaunlich ist, dass seit dem Verhängen der Kontaktsperre am 23. März die Reproduktionsrate bis zum Osterwochenende weitestgehend konstant geblieben ist. Seit Ostersonntag sinkt sie – stetig und rapide von R=1,3 auf aktuell R=0,7. Zur Zeit steckt also ein Patient im Schnitt weniger als eine weitere Person an; die Krankheit geht also laut RKI klar zurück.

Doch diese Zahlen sind – im Positiven wie im Negativen – mit äußerster Vorsicht zu genießen, da die hierbei verwendeten Infiziertenzahlen ja nur die Teilmenge der Infizierten erfassen, die getestet wird. Nun verläuft die Krankheit aber zahlreichen Studien zufolge in mindestens 50% aller Fälle symptomfrei und selbst bei den Erkrankten mit Symptomen verläuft die Krankheit meist mild. Symptomfreie und nur leicht erkältete Patienten lassen sich in der Regel nicht auf das Virus testen. Somit kann man von der RKI-Zahl der „bestätigten Fälle“ auch nicht seriös auf die Zahl der Infektionen oder Neuinfektionen schließen. Man kann anhand der Testergebnisse bestenfalls schätzen, wie hoch die Zahl der Infektionen sein kann. Daraus dann auch noch bei einer schwankenden Zahl von Tests mögliche Entwicklungen herauslesen zu wollen, ist jedoch ein höchst unsicheres Unterfangen.

Spätestens an dieser Stelle kommt die Frage auf, wofür diese Zahlen überhaupt notwendig sind. Ist es nicht eigentlich egal, ob es in Deutschland 100.000 oder 10 Millionen Infizierte gibt? Grob gesagt gibt es zwei Varianten, die Pandemie auf nationaler Ebene zu managen. Man kann auf eine „Durchseuchung“ der Bevölkerung und den Aufbau einer Herdenimmunität setzen oder man versucht mit Konzepten á la „Flatten the Curve“ und „Hammer and Dance“ die Zahl der schwer erkrankten Covid-19-Patienten so niedrig zu halten, dass die zur Verfügung stehenden Kapazitäten des Gesundheitssystems ausreichen. Nun ist es aber bis zur „Herdenimmunität“ noch ein extrem langer Weg, wie nicht zuletzt die Feldstudien aus Heinsberg belegen, die selbst im extrem betroffenen Ort Gangelt nur eine Infektionsrate von 15% feststellen konnten. Und die anderen beiden Konzepte verlangen dummerweise recht präzise Zahlen zu den Infektionen und Neuinfektionen, die jedoch nicht in belastbarer Form vorhanden sind. Was kann die Politik da tun?

Das wohl wichtigste Parameter wird bei diesen Überlegungen meist vergessen; denn die Zahl der zur Verfügung stehenden Intensivbetten ist – mit Einschränkungen – durchaus belastbar und transparent. So stehen aktuell insgesamt 26.855 Intensivbetten in den meldenden Krankenhäusern zur Verfügung, von denen 2.629 – also weniger als 10% – mit Covid-19-Patienten belegt sind. Die Zuwachsrate ist messbar, aber sehr, sehr gering. 11.507 Intensivbetten sind zur Zeit frei. Wenn man die – zugegebenermaßen unzuverlässigen – Entwicklungsprognosen des RKI auf diese Zahlen projiziert, zeigt dies, dass es für die Regierung durchaus Spielraum gibt. Selbstverständlich ist dies immer eine Abwägungsfrage. Die Notwendigkeit des Strangulierens ganzer Wirtschaftszweige, wie der Gastronomie oder des Fremdenverkehrs, lässt sich aus diesen Zahlen jedoch nicht begründen und auch die fortlaufende Einschränkung der Bürgerrechte müsste anhand dieser Zahlen aufgegeben werden.

Besser als ein Auf-Sicht-Fahren im Nebel wäre es jedoch, den Nebel zu vertreiben. Und dafür wären endlich möglichst große und vor allem repräsentative Studien zu den Infiziertenzahlen und den Dunkelziffern nötig, aus denen man mit angemessenem materiellen Aufwand eine Monitoring-Dauerstudie machen könnte, mit der man die „echten“ Infiziertenzahlen möglichst präzise und zeitsensitiv abbilden könnte. Zumindest der erste Teil dieser Aufgabe ist nun vom RKI auch konkret geplant – absolut unverständlich ist jedoch, warum die „bundesweite bevölkerungsrepräsentative seroepidemiologische Studie“ nicht schon vor Wochen veranlasst wurde, sondern erst Mitte Mai beginnen und erst im Juni erste Ergebnisse liefern soll. Das heißt nämlich auch, dass die Politik bis in den Sommer hinein im Nebel stochern und sich bei der Bewertung wohl oder übel nicht auf harte Zahlen, sondern auf die Ratschläge von „Experten“ verlassen muss, deren Kompetenz und Unabhängigkeit zweifelhaft ist, wie die Empfehlungen der Leopoldina zeigen.

Titelbild: Screencapture Phoenix