Die NATO verwischt die Grenze zwischen Krieg und Frieden im Ruhrgebiet

Die NATO verwischt die Grenze zwischen Krieg und Frieden im Ruhrgebiet

Die NATO verwischt die Grenze zwischen Krieg und Frieden im Ruhrgebiet

Ein Artikel von Bernhard Trautvetter

In Bochum soll die NATO-Agentur für Information und Kommunikation (NCIA) möglicherweise in die ehemaligen Opelwerke einziehen. Die Informations- und Kommunikationstechnologie erobert die Konzepte der Kriegsführung – eine Entwicklung, die die Hemmschwelle für Kriege gefährlich senken kann. Dennoch sind bis auf die LINKE alle NATO-unterstützenden Parteien für diese neue NATO-Einrichtung im Ruhrgebiet. Von Bernhard Trautvetter.

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Es gibt ein brandgefährliches Missverhältnis zwischen der Kriegsgefahr und ihrer öffentlichen Wahrnehmung – dazu tragen die Verantwortlichen in den Mainstream-Medien und in den führenden Parteien bei: Sie blenden das Thema aus. Und wenn die NATO oder die Bundeswehr in den Diskurs gebracht wird, dann als das Gegenteil dessen, was sie ist: Sie wird als Garant für den Frieden verkauft. Derweil schaffen die Militärs und ihre Lobby immer brisantere Fakten – nun auch im Ruhrgebiet, wo der Abzug von Großkonzernen Begehrlichkeiten der Militärs weckt, brach liegende Areale zu belegen.

Zieht die Cyber-Agentur der NATO ins Opelwerk Bochum?

So gibt es in Bochum Pläne, dass die für die NATO-Kriegsführung im 21. Jahrhundert zentrale NATO-Agentur für Information und Kommunikation (NCIA), die kaum jemand kennt, möglicherweise in das riesige Gelände des ehemaligen Opelwerks einzieht. Alternativ ist auch ein Standort für die Expansion der Cyber-Agentur der NATO in der Nähe der Hardthöhe in Bonn im Gespräch [1]. Das Spezialgebiet der NCIA steht für ein weiteres Missverhältnis zwischen seiner existenziellen Bedeutung für die Menschen und ihrer Zukunft einerseits und deren öffentlicher Wahrnehmung: Die Informations- und Kommunikationstechnologie erobert die Konzepte der Kriegsführung, aber die Öffentlichkeit verbindet mit Militär immer noch vor allem die Luftwaffe, das Heer und die Marine. Das ist gewollt, so kann die Armee weitgehend ohne Gegenprotest in das IT-Zeitalter der Cyber-Kriegsführung und der künstlichen ‘Intelligenz’ letaler (=todbringender) digitaler Programme und Systeme hineinfinden. Die NCIA stellt sich folgendermaßen vor:

Die NCIA ist im gesamten Spektrum der militärischen IT (C4ISR – Command, Control, Communications, Computers, Intelligence, Surveillance and Reconnaissance) tätig. Mit einem Jahresbudget von etwa einer Milliarde Euro bedient die NCIA den gesamten Lebenszyklus der IT der NATO.” [2]

Der zentrale IT-Service-Anbieter der NATO

Die NCIA erklärt, sie biete „als Drehscheibe für den Austausch von Echtzeit-Cyberinformationen, (…) für Verbündete und Partnernationen, (…) Training Cyber Warriors, NATO-Aktionen absichern und Sichtung der Auswirkungen von Handlungen der Alliierten, Ausbildung von Cyber-Kriegern für das Internet, Ermöglichung der Missions-Sicherheit von NATO-Aktionen, Sicherung alliierter Operationen“ [2]. Die NCIA ist laut Website „der zentrale IT-Service-Anbieter der Nato“ [3], also ein Herzstück für die Strategie des Hightech-Krieges im digitalen Zeitalter und dies mit immer weiter zunehmender Bedeutung im digitalen Zeitalter. Es geht hier nicht nur um einfache Kommunikation, nicht nur um (künstliche) Intelligenz und Aufklärung über militärisch relevante Informationen, nicht nur um Überwachung und Kommando-Führung sogenannter ‚Operationen’ – es geht um Krieg.

Kalte, automatisierte und am Ende autonomisierte Tötungs-Systeme

Durch die Einführung programmgestützter elektronischer Datenverarbeitung und -übertragung zur beschleunigten Reaktions- und Aktionsfähigkeit der Militärs in allen Domänen der Kriegsführung verwischt die Digitalisierung die Grenzen zwischen Frieden und Krieg immer weiter. Die Lyrikerin Ingeborg Bachmann hatte diese Entwicklung schon vor fast sechzig Jahren vorhergesehen:

Der Krieg wird nicht mehr erklärt … Das Unerhörte ist alltäglich geworden. Der Held bleibt den Kämpfen fern. Der Schwache ist in die Feuerzonen gerückt.” [3]

Mit dem digitalen Krieg entwickeln die Militärs Methoden und Doktrinen, die den Einfluss von Menschen auf Entscheidungen über Leben und Tod immer weiter zurückdrängen. Kalte, automatisierte und am Ende autonomisierte Kriegssysteme kennen im Kriegsverlauf keinerlei Moralempfinden, keine Tötungshemmung, keinen gesunden Menschenverstand. Damit entfallen menschliche Hürden in einer möglichen Eskalationsspirale. Das steigert die Gefahr einer für die Menschheit am Ende sogar finalen Katastrophe auf einem Planeten, dessen Biosphäre schon wegen der vielen Atom- und Chemieanlagen und der hochempfindlichen netzgesteuerten Ver- und Entsorgung in vielen Metropolen und Regionen auf eine friedliche Entwicklung angewiesen ist.

Krieg: Die Schwelle sinkt

Die NCIA hat unter anderem die Funktion, mit ihrer Hightech-Struktur neue Strategien und Kompetenzen zu entwickeln, die auf eine mit in Kauf genommene immer weitere Herabsetzung der Schwelle zum Krieg im 21. Jahrhundert hinauslaufen. Der Brüsseler NATO-Gipfel im Juni 2021 erklärte:

Die in der Allianz zusammengeschlossenen Staaten stellen fest, dass die Auswirkungen erheblicher böswilliger und kumulativer Cyber-Aktivitäten unter bestimmten Umständen einem bewaffneten Angriff gleichkommen können.” [4]

Das bedeutet, wenn die NATO-Militärs ein Ereignis im Netz als Angriff wahrnehmen, dann sehen sie sich dazu legitimiert, in einen Krieg im Netz, zu Land, im Wasser und zur Luft einzusteigen. So erklärte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg 2016:

„Die meisten Krisen heute haben auch eine Cyber-Dimension“

Dazu die ZEIT weiter:

Es gehe um die Verteidigung, betonte Stoltenberg zwar. Einige Mitgliedstaaten wie die USA verfügen jedoch auch über die Möglichkeit, selbst Cyberangriffe zu führen” [5].

Die hierin liegende Gefahr wird in ihrem vollen Umfang erst klar, wenn sich daraus in der Tat die Möglichkeit ableiten lässt, dass der führende NATO-Staat von sich aus einen Angriff lanciert, um einem von einigen Militärs vermuteten Cyber-Angriff zuvorzukommen – und genau dazu haben die Strategen bereits Vorkehrungen getroffen: So haben die Vereinigten Staaten 2002 eine gefährliche Ausweitung der „Selbstverteidigung“ verfügt, als sie im jährlichen Strategiepapier des Verteidigungsministeriums feststellten, dass Selbstverteidigung nicht nur als Reaktion auf einen bewaffneten Angriff, sondern auch als Reaktion auf eine erwartete Attacke möglich sei. [6]

Hier öffnen die Strategen die NATO für völkerrechtswidrige Angriffe gegen einen Staat, ohne selbst zuvor von diesem mit Gewalt angegriffen worden zu sein.

Dies ist der Rahmen auch für die Arbeit der NCIA, die seit ihrer Gründung im Juli 2012 die Systeme für die elektronische Kriegführung der NATO professionalisiert [7]. An der NCIA lässt sich die Vernetzung des militärisch-industriellen Komplexes deutlich nachzeichnen. Auch das Kriegshandwerk unterliegt dem kapitalistischen Prinzip der von Konzernen in der Konkurrenz verfolgten Rendite-Orientierung. Die Jobsuche der NCIA wird von einem sogenannten Anwenderforum für Elektronik (AFCEA) unterstützt, dies ist ein 1983 gegründeter Dachverband mit Vertretern der Bundeswehr, des Öffentlichen Dienstes, der Forschung und der Industrie. Am 26.10.2021 führt AFCEA einen „Konvent zur Digitalen Konvergenz in der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie“ in Berlin durch; einbezogen ist ein Großteil der Creme de la Creme der NATO-Rüstungs- und Kommunikations-Konzerne: aus Frankreich der an der Atomrüstung beteiligte Thales-Konzern, aus Italien der Raumfahrt-Rüstungskonzern Leonardo, SAAB aus Schweden, Airbus Defense, Microsoft und IBM,…[8]

NATO-„Bündnisfall“ bei Netz-Attacke?

Die NCIA verfügt über eine „NATO-weite Integrierte Führungs- und Leitsoftware für Luftoperationen (ICC – Integrated Command and Control Software for Air Operations) … eine integrierte Kommando-, Kontroll-, Kommunikations- und Aufklärungs-/Informationsumgebung …, die Informationsmanagement und Entscheidungsunterstützung für NATO-Luftoperationen in Friedenszeiten, bei Übungen und im Krieg bietet“ [9].

Bei einem von den Warnsystemen gemeldeten Angriff im Netz können die Alliierten … den Bündnisfall ausrufen:

Die Ausrichtung des Bündnisses müsse sich verändern, weil die Wirklichkeit sich verändere, so sieht es Generalsekretär Stoltenberg. Die Sicherheitslage sei herausfordernder geworden, die Welt unberechenbarer, und die Machtkämpfe nähmen zu. Auch im Netz und im Weltall.” [10]

Wie hier die Gefahr greifbar wird, dass ein (Atom-)Krieg aus Versehen entflammt, das macht der Physiker Wolfgang Stieler klar:

Stieler: Wenn solche Viren oder Trojaner auftauchen, kann man kaum feststellen, wer die eigentlich in wessen Auftrag losgeschickt hat. Im Vergleich zu dem dann vorstellbaren Chaos könnte der Kalte Krieg als eine richtig geregelte Angelegenheit erscheinen. Man kann sich ein Szenario vorstellen, nach dem irgendwelche Trojaner oder Viren auf Rechnern im Pentagon auftauchen. Die USA sagen zum Beispiel: “Die Chinesen haben uns angegriffen”. Über die NATO könnte dann für Deutschland der Verteidigungsfall gegeben sein. … In den USA gibt es in den Reihen von Computer-Sicherheitsfirmen bereits Stimmen, die sagen, wir befänden uns längst im ‘Cyberwar’. Selbst wenn das nicht stimmt, ist es trotzdem plausibel zu sagen, dass relativ viele Staaten sich im Moment aktiv auf eine solche Auseinandersetzung vorbereiten. Auf einer Zeitskala von fünf bis zehn Jahren halte ich es für sehr wahrscheinlich, dass da größere Auseinandersetzungen passieren.” [11]

Nur die LINKE kritisiert die neue NATO-Einrichtung

Die Friedensbewegung des Ruhrgebietes organisiert den Protest gegen den Ausbau und die Ansiedlung der NCIA – und ihre Bündnispartner (vor allem aus den ökologischen Spektren) sind gefordert, sich an ihrer Seite mit für die Zukunft zu engagieren.

Dies ist kein leichtes Unterfangen, wird hier doch der die NATO und damit den Krieg begünstigende Kurs der Spitze der Grünen konkret: Der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bochumer Rat, Sebastian Pewny, etwa unterstützt die NCIA-Ansiedlung im Bochumer Opel-Werk:

Wie Sie wissen, bekennen sich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN uneingeschränkt zum internationalen Sicherheitsbündnis NATO. Diesem grünen Bekenntnis folgend befürworten wir grundsätzlich die Ansiedlung von NATO-Einrichtungen in Bochum.

Insbesondere aber vor dem Hintergrund des Forschungsschwerpunktes unserer Stadt und ihrer Hochschullandschaft im Bereich der Cyber-Security und den damit verbundenen Chancen für den Universitätsstandort im internationalen Wettbewerb wäre gerade die Ansiedlung der NCIA in Bochum ein Gewinn für die ganze Stadt.” [12]

Alle weiteren NATO-unterstützenden Parteien unterstützen die NCIA-Pläne. Davon hebt sich lediglich die Positionierung der LINKEN ab, wie ihre abrüstungspolitische Sprecherin im Bundestag, die Bochumerin Sevim Dagdelen, schreibt:

DIE LINKE lehnt die Ansiedlung neuer Militäreinrichtungen wie der NATO-Cyberkriegsagentur NCIA in Bochum oder Bonn ab. Statt die Militarisierung der Rhein-Ruhr-Region weiter voranzutreiben, braucht das Metropolgebiet mit Millionen Menschen Investitionen in soziale Sicherheit, Bildung, Gesundheit und Klimaschutz“. [13]

Die Regionalpresse des Ruhrgebietes berichtet:

“Ministerien in Düsseldorf und Berlin involviert – Grüne befürworten Bewerbung für Nato-Einrichtung – LINKE kritisieren das ‘Andienen’ ans Militär“[13]

Während dies alles geschieht, wird die Öffentlichkeit damit abgelenkt, dass die ‘relevanten Themen der Regierungsarbeit neben dem Klima und Europa der moderne Staat der Digitalisierung sind’, wie es die ZDF-Nachrichten während der Vorsondierungen für die Koalitionsarbeit verbreiteten [14].

Dabei geht es im Zusammenhang mit den zunehmenden Gefahren, die von Kriegen ausgehen, um die Sicherheit des Lebens überhaupt – und darum, die Milliarden für Kriegsvorbereitung und -durchführung in Bildung, Gesundheit, Soziales und in die Ökologie so umzusteuern, dass die gesellschaftliche Zukunft im Fokus ist und nicht deren Zerstörung. Die Friedensbewegung des Ruhrgebiets baut derzeit den Protest gegen die weitere Militarisierung auf und weiter aus.

Titelbild: Aleksandar Malivuk/shutterstock.com