„Werden am Ende 20 bis 30 Prozent ärmer sein“ – DIHK-Hauptgeschäftsführer zu Auswirkungen von Sanktionen und Ukraine-Krieg auf Deutschland

„Werden am Ende 20 bis 30 Prozent ärmer sein“ – DIHK-Hauptgeschäftsführer zu Auswirkungen von Sanktionen und Ukraine-Krieg auf Deutschland

„Werden am Ende 20 bis 30 Prozent ärmer sein“ – DIHK-Hauptgeschäftsführer zu Auswirkungen von Sanktionen und Ukraine-Krieg auf Deutschland

Florian Warweg
Ein Artikel von: Florian Warweg

Dr. Martin Wansleben, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK), traf sich am 20. Juli mit Journalisten, Wirtschaftsvertretern und Diplomaten zu einem Gespräch über die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine sowie der Sanktionen auf die deutsche Wirtschaft. Die NachDenkSeiten waren dabei, fragten nach und dokumentieren für unsere Leser das Gespräch, welches aufschlussreiche Einblicke vermittelte, wie Spitzenvertreter der deutschen Wirtschaft auf die aktuelle Lage blicken. Von Florian Warweg.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Der Sitzungsraum des „Korrespondenten-Cafés“ im Steigenberger-Hotel, gelegen zwischen Kanzleramt und Berliner Hauptbahnhof, war erneut gut gefüllt an diesem 20. Juli. Im Gegensatz zu den Terminen mit Botschafter Wolfgang Ischinger und dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses, Michael Roth, waren diesmal auch mehrere Kamerateams präsent.

Nach einer kurzen Einführung durch den Leiter des „Korrespondenten-Cafés“, den österreichischen Journalisten Ewald König (der einzige Auslandskorrespondent, der bis 1989 gleichzeitig in der BRD und der DDR akkreditiert war), erging das Wort an den DIHK-Geschäftsführer Wansleben. Dieser legte umgehend los:

„Guten Morgen meinerseits. Damit ich nicht bestimmte Dinge permanent wiederholen muss, bringe ich die jetzt gleich vor und dann komme ich zur Sache. Ich habe sieben Enkel, davon zwei in diesem Jahr geboren. Ich sage das deswegen, weil man sich dann natürlich die Frage stellt, was kommt da auf die zu. Dieser Krieg ist in jeder Hinsicht ein Verbrechen, unnütz, hat keinerlei Legitimation. Diesen Krieg darf man nicht rechtfertigen. Wer diesen Krieg gemacht hat, hat alles gesprengt, was man sprengen kann. Und das sage ich nicht nur als Großvater, sondern als Sohn eines Kriegsbehinderten, der seit 80 Jahren im Rollstuhl sitzt. Schnitt, jetzt gehen wir zur Sache.“

Dann verwies Wansleben darauf, dass er Hauptgeschäftsführer des DIHK sei, die Dachorganisation der Industrie- und Handelskammern und zugleich auch die Dachorganisation „der 140 Auslandshandelskammern in 92 verschiedenen Ländern der Welt“. Daher wolle er, so seine weitere Ausführung, seinen Blick nicht auf Deutschland oder Europa begrenzen, sondern fragen:

„Was heißt dieser Krieg für die Welt?“

Der DIHK-Geschäftsführer brachte daraufhin die These vor, dass „die Welt“ nach dem Mauerfall die „Entwicklung einer Art gemeinsamen Nenners“ entwickelt hatte:

„Wenn wir gemeinsam Handel machten, hatte jeder was davon und alle wollten besser leben als gestern. Wenn Sie nach Russland fuhren, konnten sie über Geschäfte reden, klar, das verbindet. Wir hatten eine unglaubliche Entwicklung gehabt. Die Transaktionskosten des internationalen Handels sind erheblich abgesenkt worden. Das war die Welt, in der wir reich geworden sind und auch Russland sich erheblich entwickelt hat.“

Er bedauere es, so Wansleben weiter, dass er jetzt nicht mehr über den Roten Platz schlendern und im Kaufhaus GUM ein Eis essen könne, und begann dann mit einem Abgesang auf Russland als „Freund und Partner“:

„Der 24. Februar hat dies im wahrsten Sinne des Wortes erschossen. Diesen gemeinsamen Nenner gibt es so nicht mehr, weil ein Land, jenseits aller Ratio, was Ökonomie angeht, gesagt hat, koste es, was es wolle, wir brechen aus.“

„Wie gehen wir jetzt auf Dauer mit Russland um?“, sei nur eine der Fragen, die sich jetzt stellen würden, so der DIHK-Geschäftsführer anschließend, die nächste Frage sei auch der Umgang mit China, das ebenfalls nicht so sei „wie wir.“

Darauf aufbauend verwies er dann auf die laut ihm nötige Diversifizierung von Lieferketten und die generelle Vermeidung „von zu großen Abhängigkeiten“. Wobei er diese Art der Abhängigkeit interessanter Weise ausschließlich auf Russland und China bezog.

Weiter führte er dann aus, dass sich „die Risikomanagementsysteme von Banken und Versicherungen“ seit dem 24. Februar komplett verändert hätten. Einzubringendes Eigenkapital bei Großkrediten für die Wirtschaft hätte sich von 20 auf 50 Prozent erhöht. Und man bekäme fast gar keine Kredite mehr oder nur zu sehr ungünstigen Konditionen, wenn man in seiner „Lieferfähigkeit“ Abhängigkeiten von Produkten aus China oder Russland hätte. Dazu brachte er ein Beispiel von der deutschen Handelskammer in China, die ihm mitteilte, dass sich schon mehrere deutsche mittelständische Unternehmen an sie gewandt hätten und sich gegenüber der Handelskammer beschwert hätten, dass sie mittlerweile von internationalen Bieterverfahren ausgeschlossen werden, wenn sie erklären, dass sie relevante Teile eines Produktes nur in ihren (wohlgemerkt eigenen) Werken in China produzieren können.

Dann erklärte er ohne weiteren Übergang:

„Wir müssen erschreckt sein, wie indifferent und erschreckend einseitig sich die chinesische Regierung (in diesem Krieg) positioniert. Aber viel wichtiger ist die dramatische Abwertung des Standorts China durch diese politische Instabilität.“

2019 habe man noch eine Situation gehabt, so ging es unvermittelt weiter, in der man „maximal günstig einkaufen und mit hoher Marge verkaufen konnte“. Die sei vorbei, mittlerweile sei man gezwungen, auch beim zweit- oder drittbilligsten oder gar beim teuersten Anbieter einzukaufen, um die Lieferketten zu diversifizieren.

Von China sprang er dann wieder zu Russland und erklärte:

„Kein Unternehmen kann Putin mehr vertrauen. Wer ihm noch vertraut, läuft Gefahr, in die Geschichte einzugehen als dümmster Unternehmer des Jahres.“

„Substanziell“ müssten jetzt alle deutschen Unternehmer davon ausgehen, dass russische Lieferungen (von Gas und Öl) nicht mehr stabil seien. Das führe zu einem enormen Dilemma für die deutschen Unternehmer, denn es gäbe keine rationale Handlungsgrundlage mehr, man müsse in der Krise eigentlich „situativ-opportunistisch“ handeln, aber die bestehenden Systeme in Deutschland seien, so Wansleben, gar nicht auf situatives Handeln ausgerichtet, da „alles, was wir machen, rechtskonform sein muss.“ (Anmerkung Florian Warweg: Nun ja, „Rechtskonformität“ stand dem Profitstreben schon oft im Wege, könnte man da einwenden.)

Darauf aufbauend gab er dann eine geopolitische Einschätzung zur weiteren Blockentwicklung zum Besten:

„Ich glaube, die Welt zerlegt sich in Russland, China, Indien, die USA und, wenn wir Glück haben, in Europa. Und diese Blöcke stehen sich jetzt gegenüber, der gemeinsame Nenner der gemeinsamen Wirtschaften ist weg. Jetzt sind wir praktisch beim Monopoly-Spiel: ‚Gehe zurück auf Los, ohne 4.000 Euro zu ziehen.“

Dies sei, so der DIHK-Geschäftsführer weiter, für Deutschland, „das mindestens zwei Weltkriege mitzuverantworten hat“, ein absoluter Albtraum, weil man „plötzlich in Kategorien von Interessen und Macht“ reden müsse (Anmerkung Florian Warweg: Man beachte den Verweis auf „plötzlich“ in diesem Zusammenhang):

„Schauen Sie nur einmal, wie die Grünen-Bundesminister Annalena Baerbock und Robert Habeck über Waffenlieferungen reden. Also, ich bin in einer Welt groß geworden, in welcher man Frieden schaffen wollte ohne Waffen. Und das war keine politische Spinnerei gewesen, sondern das war der Traum der Kriegsgeschädigten. Wenn Sie Ihr Leben lang einen kriegsbehinderten Vater sehen, dann ist Krieg in jeder Form verwerflich und keine Lösung.“

Deswegen, so Wansleben, stelle sich die Frage:

„Was muss welches Land tun, damit sich eine neue, bessere Weltordnung etabliert?“

Daraus folge, „die Länder, die vernunftbegabt sind“ (in Wanslebens Logik seien das ausschließlich die westlichen), müssten ihren Unternehmen jetzt ermöglichen, weltweit aktiv zu sein. Vielfalt sei jetzt angesagt:

„Das heißt, wenn wir die Lieferketten diversifizieren wollen, dann müssen wir jetzt raus, neue Freunde, neue Kunden, neue Zulieferer, neue Rohstoffquellen suchen. Das zweite ist, wir müssen als Deutschland eine offensive Handelspolitik machen.“

Die Russen habe man als Freunde und Handelspartner verloren, so der DIHK-Hauptgeschäftsführer weiter und zitierte dann ein Beispiel, das tief in die kulturelle Verfasstheit der deutschen Wirtschaftselite blicken lässt:

„Wenn Sie mit China oder Russland Geschäfte machten, brauchten Sie erstmal ein paar Wochen, mit denen sich zu unterhalten, um einigermaßen ins Geschäft zu kommen, um das Misstrauen zu überwinden. Uns Deutschen wird öfters gesagt, wir seien zu undiplomatisch, das ist das Ergebnis eines Vertrauensvorschusses. Ich kenne den Herrn König nicht (Referenz auf den Moderator des Pressegespräches), aber ich weiß, dass ich mit dem offen reden kann, der schlägt mich nicht gleich tot. Und ich muss mit ihm zuvor auch keine Flasche Schnaps leeren. Das ist Ergebnis einer Kulturgeschichte, die ein Riesenvorteil ist für Europa.“

Diese Mischung aus kulturalistischem Klischee und Anmaßung in Verbindung mit offener Verachtung gegenüber Chinesen und Russen aus dem Munde eines führenden deutschen Wirtschaftsvertreters im Rahmen eines Pressegesprächs muss man sich in seiner ganzen Implikation vor Augen führen.

Vor dem Hintergrund der vom DIHK-Geschäftsführer getätigten Aussagen wollte der anwesende NachDenkSeiten-Redakteur Florian Warweg in der anschließenden Fragerunde wissen, ob Wanslebens Abgesang auf Russland als Freund und Handelspartner tatsächlich so endgültig und langfristig intendiert war, wie er es formuliert hatte, und darauf aufbauend fragte er noch nach dessen Einschätzung zu den Russland-Sanktionen und deren Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft (Stichwort LNG-Gas um Faktor 7 teurer als russisches Gas auf Basis der einst geschlossenen Langfristverträge).

Aus Gründen der Transparenz und Dokumentation geben wir in Folge im Wortlaut die gesamte Antwort des Hauptgeschäftsführers des Deutschen Industrie- und Handelskammertags wieder:

„Zur ersten Frage. Ich hatte gehofft, dass mir jemand diese Frage stellt. Wir sind als Deutsche komplett irritiert. Wirtschaftlich, politisch, emotional. Weil wir eigentlich davon träumen, mit Russland ein gutes Verhältnis zu haben. Freund-Feind-Bilder taugen da gar nichts. Deswegen ist Ihre Frage völlig richtig. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir in Bezug auf Russland ein Verhältnis entwickeln wie zu Nordkorea und es einfach ignorieren. Das wird nicht funktionieren. Russland ist für die Entwicklung in Europa und der Welt zu relevant. Es gibt keine Alternative zu verbesserten Beziehungen. Wir müssen das hinkriegen, ohne den Krieg zu verkleistern. Das geht nicht. Aber am Ende ist das permanente Arbeiten an Zukunft die einzige Alternative, die wir haben.

Zweitens. Mit den Sanktionen sprechen Sie ein ganz schwieriges Thema an, denn man kann ganz unterschiedlich über Sanktionen reden. Als der Krieg begann, haben alle Leute von der Wirtschaft zu Recht gesagt, was anderes können wir denn machen, außer Sanktionen, auch wenn diese schmerzhaft sind. Deswegen sind wir überzeugt, dass das vom Ansatz her richtig ist.

Die Frage, die wir aber stellen müssen, ist: Führt das zu einer Lösung oder nicht? Haben die Sanktionen dazu geführt, dass das russische Volk geeint wurde oder dass Diskussionen in Russland begonnen haben? Wenn stimmt, was ich aus Russland höre, dann haben die Sanktionen dafür gesorgt, dass das russische Volk geeint wurde. Dann könnte man rational sagen, puhh, ob das mit den Sanktionen so schlau war, wissen wir nicht. Wenn Sie aber sagen, Krieg bedarf einer Antwort, dann müssen Sie den Sanktionsweg gehen.

Was ich in diesem Zusammenhang noch sagen will, die Sanktionen sind wohlbedacht. Und die Sanktionen sind willentlich nicht komplett zerstörerisch ausgerichtet. Also, der Westen verzichtet darauf, mit ähnlichen Dimensionen zu spielen, wie dies auf der russischen Seite getan wird mit der Vorstellung, kein Gas mehr zu liefern. Darauf verzichtet der Westen. Nur ein Beispiel: Die Versorgung mit Medikamenten ist bislang nicht sanktioniert. Finde ich eine sensationelle Leistung. 80 Prozent der Medikamente, die man in russischen Apotheken kaufen kann, kommen von uns. (Anmerkung Florian Warweg: Was der gute Herr Wansleben hier aber unterschlägt, ist die Tatsache, dass, ähnlich wie im Falle von Iran oder Venezuela, man Medikamente gar nicht explizit sanktionieren muss, wenn den Zentralbanken der Länder per se die Möglichkeit verweigert wird, internationale Transaktionen durchzuführen, dann können diese auch keine Medikamente erwerben.)

Diese Frage der Sanktionen führt automatisch dazu, dass es absolut irritierend ist, wie sich politisch China und Indien verhalten. Denn wenn die sich klar gegen den Krieg positioniert hätten, dann hätten wir dies alles so nicht erlebt.

Ich komme zum Schluss: Sanktionen sind immer auch selbstschädigend und Sanktionen haben immer auch die Dimension einer gewissen Hilflosigkeit an sich.“

Abschließend erklärte er noch die aktuellen wirtschaftlichen Auswirkungen zusammenfassend:

„Wir werden einfach alle ärmer. Für Deutschland male ich Ihnen ein Bild: Ich würde mich nicht wundern, wenn wir am Ende 20 bis 30 Prozent ärmer sind.“

Titelbild: Florian Warweg

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