Arno Luik – Rauhnächte

Arno Luik – Rauhnächte

Arno Luik – Rauhnächte

Ein Artikel von Arno Luik

„Gestern war ich noch mitten im Leben, heute bin ich draußen und mit dem konfrontiert, was wir alle wissen, die meisten irgendwie verdrängen. Doch für mich ist es nicht mehr möglich, dieses Wissen auszublenden: dass wir alle sterben müssen. Das Mistviech in meinem Körper hämmert mir dieses Wissen ja ohne Unterlass in den Kopf: Ich hab‘ Dich im Griff! Und ich würde es gerne anbrüllen: Komm raus, Du blödes Viech! Aber das böse Tier denkt nicht daran. Ob Bestrahlung, Chemo es zermürben, erwürgen?“ Diese Zeilen stammen aus dem Buch „Rauhnächte“ des Bestseller-Autors Arno Luik – für ihn mit Abstand der wichtigste Text, den er in seinem Leben geschrieben hat. Ein Text, entstanden in einer Extremsituation, der, ja, auch deswegen anregt, das Selbstverständliche nicht als Selbstverständliches zu sehen. Nach seiner Krebsdiagnose, die Luik im vergangenen Spätsommer bekam, macht er das, was er vorher nie tat: Er schreibt ein Tagebuch. Er notiert seine Innenansichten, seine Albträume, seine Sehnsucht nach Leben – aber plötzlich geht es um viel mehr: um diese zerrissene, malträtierte Welt. Die so schön sein könnte, wenn, zum Beispiel, die Regierenden nicht … Ein Auszug aus dem Buch, das am 3. April erschienen ist.

16. Oktober 2022

Seit ungefähr 14 Tagen, seit der sogenannte Port in meinen Körper eingepflanzt wurde, schaue ich meinen Oberkörper im Spiegel nicht mehr an. Dieser kleine Hubbel, Buckel, Hügel, diese kleine Unebenheit, groß wie eine 50-Cent-Münze, ein paar Zentimeter über der rechten Brustwarze, in den bei der Chemo die Infusionen in meinen Körper gehen werden, erinnert mich ständig daran, dass ich krank bin.

17. Oktober 2022

Jetzt geht’s los. Ich bin im UKE, ich liege im MRT, werde hin- und hergefahren; ich versuche, mich von allem wegzuträumen … höre die Stimme einer Krankenschwester, »Ihre Blase ist recht voll, wollen Sie sich noch erleichtern …?« Ich will gar nix, ich will abtauchen, weg von diesen Geräten, diesem Summen und Brummen, ich …

… vorvergangenen Sonntag waren Wahlen in Niedersachsen, sie gingen mehr oder weniger aus wie erwartet: Es wird eine rot-grüne Regierung geben.

Zwar haben die Grünen etwas weniger Stimmen bekommen, als sie erhofft hatten – sie kamen aber immerhin auf knapp 15 Prozent der Wählerstimmen.

15 Prozent. Bedrückend.

Bei der Frage, wen würden Sie kommenden Sonntag bei der Bundestagswahl wählen, liegen die Grünen auf Platz zwei, bei rund 20 Prozent.

20 Prozent. Sehr bedrückend.

Denn: Die Grünen sind die Partei, die wie keine andere für Aufrüstung, Krieg, Konfrontation mit Russland, das es (O-Ton Baerbock) »zu ruinieren« (!) gilt, steht.

20 Prozent der Wähler (und Wählerinnen) sind damit für eine Partei, die mit einer außergewöhnlichen moralischen Rigidität und einem selbstgerechten Furor für eine Politik eintritt, die in den Dritten Weltkrieg führen kann.

In den 1990er-Jahren war ich mal Chefredakteur der taz. Es war die Zeit der aufziehenden Balkankriege. Ich hielt die Nato-Osterweiterung für keine gute Idee, ich war (auch mit Kommentaren) gegen eine Beteiligung der deutschen Armee an diesen Kriegen. Gegen diese Position (g)eiferten Teile des taz-Auslandsressorts, des Meinungsressorts, des Inlandsressorts.

Der Hintergrund: Die Grünen mit Joschka Fischer wollten damals mit aller Macht an die Macht, und das hieß: Bedingungsloses Ja zu Nato und zur Bundeswehr, bedingungsloses Ja zur Nato-Osterweiterung, Ja zu einer möglichen Beteiligung an dem absehbar drohenden Angriffskrieg gegen Serbien.

Und Joschka Fischer war klar, dass es extrem wichtig ist, dass die taz als Sprachrohr der Grünen, auch linker (Gegen)-Öffentlichkeit, auf diesen Pro-Nato-Kurs einschwenkt und ihn publizistisch unterstützt – dass dies viel wichtiger ist als das selbstverständliche Ja der FAZ zum Militarismus.

Es ging um nichts weniger als die Umerziehung einer Bevölkerung, die kritisch gegenüber der Armee, in ihrer überwiegenden Mehrheit ablehnend gegen Kriegseinsätze war. Es galt, die Skepsis, die Unwilligkeit der zu vielen Friedenswilligen zu überwinden. Es ging darum, den grün-alternativen Pazifismus, dieses lästige Gedankengut, auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen.

Es war ein Kampf um die Herzen und Köpfe.

Entsprechend heftig agierten Fischers Bodentruppen in der taz gegen mich, machten mir das Leben schwer.

Ein Beispiel: Ich wusste, dass Rolf Winter, großer Journalist der alten BRD, Ex-Stern-Chef, Ex-Geo-Chef, aufgrund persönlicher Erfahrungen in Jugoslawien während des Zweiten Weltkriegs ein Anti-Militarist geworden ist. Ihn bat ich, einen Essay über den um sich greifenden Militarismus zu schreiben – heraus kam ein fulminantes pazifistisches Manifest. Nur: Für mich war es unmöglich, diesen Essay in der taz zu publizieren; das ginge, hieß es, in dieser historischen Situation nicht.

Fast zwei Wochen lang gab es täglich heftige Streitereien und Diskussionen, auch Weinkrämpfe wegen dieses Artikels. In einer Redaktionskonferenz sagte ich irgendwann, genervt, frustriert, enttäuscht: Die Linke hat auch eine pazifistische Tradition, auch die Grünen haben zum Teil eine pazifistische Geschichte, und nun sagt ihr mir: Diesen Artikel können wir in der taz nicht drucken? Also, meinte ich, das hieße doch im Klartext, wir könnten heute Wolfgang Borcherts großes Gedicht »Dann gibt es nur eins!« auch nicht mehr drucken? Darin heißt es ja: »Du. Mann an der Maschine und Mann in der Werkstatt. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst keine Wasserrohre und keine Kochtöpfe mehr machen – sondern Stahlhelme und Maschinengewehre. Dann gibt es nur eins: Sag NEIN!«

Schließlich haben wir uns so geeinigt, dass Rolf Winters Friedensaufruf neben einen Essay gestellt wurde, der für Bundeswehreinsätze, für das Ja zur Nato warb. Gleichwohl, die Bellizisten in der taz kämpften weiter – mit einem Eifer (der sich auch aus Renegatentum speiste), dem man rational nicht begegnen konnte. Sie kämpften damals schon für die »Zeitenwende«, die Enttabuisierung des Militärs. Und so gaben mein Co-Chef und ich irgendwann entnervt auf. Wir kapitulierten. Wir kündigten.

Die Bellizismus-Saat, die damals gesät wurde, die die taz übernahm und seither sorgsam pflegt, ist heute aufgegangen und erlebt ihre Blüte in Figuren wie Anton Hofreiter, Annalena Baerbock, Robert Habeck. Die sich quälen, debattieren, zweifeln – um dann, immer wieder erwartbar, zu sagen: Ja!

Ja zu Waffen in Krieg führende Scharia-Staaten; Ja, dass Schrott-AKWs länger laufen. Ja, um Kohle abbaggern zu lassen. Ja, um umweltschädliches Fracking-Gas zu ordern; Ja, um immer schwerere Waffen für die Ukraine zu fordern und zu liefern, um China zu drohen, kurz: um eine Realpolitik zu betreiben, die surreal ist – und alles gefährdet.

Das einzige Prinzip, das diese Partei hochhält, dem sie sich verpflichtet fühlt, seit Langem: Prinzipienlosigkeit. Und: Machtgeilheit.

Bin ich gemein?

Vor vielen Jahren, Anfang der 90er-Jahre des vorigen Jahrhunderts, führte ich ein Gespräch mit Otto Graf Lambsdorff, einem der größten Polit-Schlawiner der BRD, Ehrenvorsitzender der FDP, verwickelt in Mauscheleien der unfeinsten Art, Flickskandal, Steuerskandale. Seine Maxime: Nehmt den Armen, gebt den Reichen. Für den Spiegel-Gründer Rudolf Augstein war Lambsdorff »der Spitzenpolitiker mit der bekleckertsten Weste«, der »rotzfreche Graf«.

Er also, der oberschlaue, skrupellose Politstratege, höhnte damals über die Grünen und Joschka Fischer so: »Mit dem Herrn Fischer können Sie alles haben. Den interessieren seine Parteiprogramme überhaupt nicht. Sie wissen nie, wo Sie mit ihm dran sind. Das einzig Zuverlässige bei ihm ist seine absolute Unzuverlässigkeit – ich meine das nicht moralisch, sondern politisch. Der Mann ist so wendig, dass er schon um die nächste Ecke rum ist, bevor Sie mit ihm anfangen zu streiten.«

Damals fand ich diese Einschätzung Fischers (und somit der Grünen) frech.

Heute ist das die nüchterne Analyse dieser Partei. Einer Partei, die alle Grundsätze, die mal zu ihrer Gründung führten, nachhaltig entsorgt hat. Nur eines hat sie behalten: ihr pietistisches Moralisieren. Bei allem Verrat …

… ich spüre, wie auf meinem Körper etwas eingezeichnet wird, Punkte und Striche, dort, genau dort sollen ab kommendem Montag die Strahlen hin. »Sie können sich nun wieder anziehen.«

Arno Luik: „Rauhnächte“, 192 Seiten, Westend Verlag, 3. April 2023

Titelbild: © Andreas Herzau