Eurozone stabilisieren
Nach mehr als einem Jahr Anti-Krisenpolitik und „Griechenland-Rettung“ stehen die EU-Instanzen und die Bundesregierung vor dem Scherbenhaufen ihrer neoliberalen Spardiktate-Politik. Trotz der Sanierungsversuche hat sich die Situation in den südeuropäischen Krisenländern (und teilweise Irland) nicht verbessert, die Staatsschuldenquoten steigen und die Verunsicherung hat weiter zugenommen. Zwei Gründe sind dafür neben anderen besonders wichtig: Erstens stürzen die Krisenländer wegen der ihnen aufgezwungenen drakonischen „Sparmaßnahmen“ in die Rezession, was Arbeitsplätze, Masseneinkommen und Steuereinnahmen wegbrechen lässt. Zweitens sind die an die Rettungskredite gebundenen Zinsen von fünf bis sechs Prozent viel zu hoch und von den Ländern objektiv nicht leistbar. Von Werner Schieder MdB
- Die Zuspitzung der Krise
Die immer wieder vor allem von der deutschen Diskussion angefachten Befürchtungen um eine Staatspleite lösen immer neue Risikoaufschläge für die Staatsanleihen der Krisenländer aus. Im Zusammenspiel mit den Ratingagenturen, den „Wetten“ spekulativer Anleger (Kreditversicherern – CDS), der tatsächlichen Flucht aus Staatsanleihen und dem wirtschaftlichen Absturz der Krisenländer wird das Vertrauen auch seriöser Anleger zerstört, das durch die Rettungskredite doch zurückgewonnen werden sollte. Mit immer neuen Sparauflagen wird vor allem Griechenland nicht „gerettet“, sondern in den wirtschaftlichen Abgrund gestoßen. Einerseits werden mit Rettungskrediten „Garantien“ für die Staatsanleihen der Krisenländer ausgesprochen, anderseits werden diese Garantien faktisch dauernd widerrufen, indem ihre Fortführung permanent infrage gestellt oder offen gelassen wird. Widersprüchlicher könnte die europäische Politik nicht sein!
Millionen Menschen leiden unschuldigerweise unter der Politik der Troika (Kommission, Europäischer Rat, Europäische Zentralbank), die die Krisenländer faktisch wie ein Protektorat behandelt und zum Übungsgelände für knallharte neoliberale Strategien (Deregulierung, Liberalisierung, Sozialabbau, Lohndruck, Privatisierung) degradiert und unabsehbare Folgen für die Akzeptanz europäischer Politik heraufbeschwört.
In der deutschen Debatte werden tatsächliche oder vermeintliche Schwächen der griechischen Wirtschaft und der dortigen Verwaltung zur Ursache der Krise hochstilisiert und eine abschätzige Haltung gegenüber Griechenland geschürt, die nationalistischen Ressentiments gleichkommt, ein Vorgang, der seinesgleichen sucht und den die deutsche Politik über sechs Jahrzehnte zu vermeiden wusste.
- Die Ursachen der Krise
- Folgekrise der Finanzkrise
Die „Troika“ und noch stärker die Bundesregierung fordern von den Krisenländern drakonisches Sparen, gleichzeitig soll für die künftige Krisenprävention der haushaltspolitische „Stabilitäts- und Wachstumspakt“ verschärft werden (so genannte Rehn-Vorschläge), denn aus der Sicht dieser Akteure liegt die Ursache der Staatsschuldenkrise in der „nachlässigen Haushaltspolitik“ der Krisenländer. Dieser Ansatz ist völlig falsch, denn er leugnet die entscheidenden Krisenursachen und verdreht schlicht Ursache und Wirkung. Nicht die unregulierten Finanzmärkte und ihre Akteure, die die Finanzkrise ausgelöst haben, sind in dieser Interpretation schuld, sondern die Staaten, die Politiker! Die Staaten, die eben die Finanzmärkte vor dem Zusammenbruch mit viel Geld gerettet haben, werden mit dieser Verdrehung auf die Anklagebank gesetzt!
In allen Mitgliedsländern der Währungsunion sind die Staatsausgabenquoten bis zum Ausbruch der Finanzkrise nur moderat gestiegen. In einigen der jetzigen Krisenländer sanken die Staatsschuldenquoten sogar drastisch. Von einer „nachlässigen Haushaltspolitik“ kann keine Rede sein. In Griechenland mit einer traditionell höheren Staatsschuldenquote (bei 100 Prozent) lag und liegt das Problem in einer extrem niedrigen Steuereinnahmequote mit administrativen Schwächen der Steuererhebung im Hintergrund.
Die Hauptursache für den Defizitanstieg seit 2007 liegt eindeutig im Ausbruch der Finanzkrise. Die nationalen Regierungen mussten mit Schutzschirmen für den Finanzsektor und die abstürzende Privatwirtschaft mittels staatlicher Schulden reagieren. Wo die Finanzblase gekoppelt war mit Immobilienblasen (Irland, Spanien, z. T. Griechenland), schlug der staatliche Finanzaufwand bzw. die wegbrechenden Steuereinnahmen besonders zu Buche. Vom anschließenden weltweiten Aufschwung konnten die Krisenländer wegen geschwächter Wettbewerbsfähigkeit nicht profitieren.
Diese Ursache-Wirkungs-Kette verweist auf die Notwendigkeit, den Finanzsektor und die hohen Geldvermögen stärker an der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte zu beteiligen (z. B. Finanztransaktionssteuer)
- Auslandsverschuldung und Leistungsbilanzungleichgewichte
Ein Anstieg der Defizite bzw. der Staatsschuldenquoten ist jedoch für sich gesehen kein Grund, um Zweifel an der Schuldentragfähigkeit eines Landes aufkommen zu lassen. Das Problem liegt darin, dass die Krisenländer eine hohe Auslandsverschuldung aufweisen, weil nicht nur der Staatssektor, sondern auch der Privatsektor verschuldet ist (= Leistungsbilanzdefizit). Deutschlands Staatsschuld liegt bei zwei Billionen Euro, das Geldvermögen der Privaten beträt aber fünf Billionen Euro; die Refinanzierungsmöglichkeiten bei den eigenen Bürgern sind unzweifelhaft. Bei den Krisenländern ist es umgekehrt. Die dortigen Refinanzierungsprobleme sind zwar durch Spekulationsaktivitäten verschärft worden, haben aber einen realen Grund: weil die Staatsschulden einem ebenso verschuldeten Privatsektor gegenüberstehen, stellt sich irgendwann die Frage nach der Schuldentragfähigkeit. Das ist das entscheidende Problem der Leistungsbilanzdefizitländer.
Diesen stehen in der Eurozone einige Länder mit extremen Leistungsbilanzüberschüssen gegenüber (Deutschland, einige kleinere Länder). Die Ursache dieser Ungleichgewichte, wie sie in den letzten zehn Jahren entstanden sind, liegt in der unterschiedlichen Entwicklung der Wettbewerbsfähigkeit. Während Deutschland deutlich an Wettbewerbsfähigkeit gewann, verloren die Krisenländer zunehmend an Wettbewerbsfähigkeit.
Diese „Wettbewerbslücke“ gründet entgegen allgemeiner Vorurteile nicht auf einer besonderen Innovationsfreudigkeit Deutschlands einerseits und der Produktivitätserlahmung Griechenlands bzw. anderer Krisenländer andererseits. Denn die Produktivität ist in Deutschland jährlich um 0,9 Prozent, in der Eurozone um 0,8 Prozent und in Griechenland immerhin um 2,1 Prozent gestiegen. Die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands und das Zurückfallen Südeuropas lief ausschließlich über die Löhne und – weil die Lohnstückkosten das interne Preisniveau dominieren – über die Preise. In Südeuropa stiegen die Lohnstückkosten um bis zu 30 Prozent, in Deutschland dagegen unter fünf Prozent, wobei hier die Ausweitung des Niedriglohnsektors eine besondere Rolle spielte. Den Normalanstieg – Produktivität plus Zielinflationsrate – repräsentiert Frankreich mit einer Erhöhung um gut 20 Prozent.
Werden Überschüsse und Defizite immer weiter kumuliert, führt dies zum Aufbau von Gläubiger-Schuldner-Verhältnissen, die nicht dauerhaft tragfähig sind. Gibt es hier keine Umkehr, führt an der Entwertung der Gläubigerpositionen kein Weg vorbei, denn irgendwann werden die Schuldner zahlungsunfähig.
Hier liegt der entscheidende Konstruktionsfehler der Währungsunion, nämlich in der Nicht-Koordination der makroökonomischen Größen: Leistungsbilanzen, außenwirtschaftliches Gleichgewicht, Lohn- und Inflationsanpassung.
Dass die Auseinanderentwicklung bei Lohnzuwächsen und Wettbewerbsfähigkeit zu einem ernsten Problem wurde, hat seinen Grund in der Existenz der Währungsunion, deren Charakteristikum ist, dass kein Mitgliedsland mehr auf- oder abwerten kann: Obwohl Griechenland und die anderen Südeuropäer höhere Inflation und Leistungsbilanzdefizite haben, können sie nicht abwerten, weil sie in der Eurozone sind. Andernfalls würden sich diese Defizite so gar nicht herausgebildet haben! Obwohl Deutschland eine interne Inflationsrate unterhalb des EZB-Ziels und andauernd hohe Leistungsbilanzüberschüsse hat, kann Deutschland nicht aufgewertet werden, weil es in der Eurozone ist. Andernfalls hätten die hohen Überschüsse wegen anhaltender Aufwertung gar nicht entstehen können!
- Folgekrise der Finanzkrise
- Strategien für die Eurozone
Die bisherigen Lösungsansätze zur Überwindung der Krise der Eurozone sind gescheitert. Mit kurzatmigen reflexartigen Beschlüssen und Entscheidungen von Fall-zu-Fall, die immer offen lassen, ob die nächsten Rettungsschritte getan werden oder nicht, kommt man nicht weiter. Eine vernünftige Anti-Krisen-Strategie muss langfristig angelegt sein. Sie hat auf zwei Ebenen anzusetzen: Einerseits muss die Refinanzierung der Krisenländer ein für allemal sichergestellt und die Staatsanleihen dauerhaft – für immer – gewährleistet werden. Zum andern müssen Maßnahmen auf der realwirtschaftlichen Ebene für ausreichendes Wachstum sorgen, welches die Konsolidierung der Leistungsbilanzungleichgewichte (Auslandsverschuldung) ebenso unterstützen kann wie die Konsolidierung der Staatshaushalte.
- Weil die Krisenländer auf lange Jahre von der Refinanzierung über die Finanzmärkte abgeschnitten sind und wegen des spekulativen Treibens der „Wettmärkte“ im Zusammenspiel mit den Ratingagenturen Übersprungeffekte auf andere Länder wahrscheinlich sind, müssen die Mitgliedsländer der Eurozone die Refinanzierung der Staatsanleihen aller Mitgliedsstaaten gemeinsam übernehmen und die Staatsanleihen gemeinsam und dauerhaft garantieren. Die Refinanzierung muss von den Renditekalkülen der Anleger entkoppelt werden. Dazu ist ein Finanzinstitut für Staatsanleihen (Eurobonds) zu schaffen, das als Europäischer Währungsfonds oder als Kreditbank für europäische Staatsanleihen die Refinanzierung der Eurostaaten übernimmt, sofern Marktturbulenzen diese nicht zulassen. Dieses Institut ist – wie der beabsichtigte „Europäische Stabilitätsmechanismus“ (ESM) – mit Eigenkapital auszustatten und refinanziert sich über den Kapitalmarkt wie auch fallweise über die Europäische Zentralbank. Beide Institutionen sorgen durch Zusammenwirken auf den Primär- wie Sekundärmärkten dafür, dass ein Zins für Staatsanleihen von drei Prozent nicht überschritten wird. Damit werden alle „Spekulationsbemühungen“, die auf höhere Zinsen setzen, obsolet.
- Die Zinsen für die laufenden Rettungsschirme und die künftigen Tranchen müssen zu den Zinsen an die Empfängerländer weitergereicht werden, zu denen die Fonds die Gelder aufnehmen. Das bedeutet für die Krisenländer diesbezüglich eine Zinserleichterung von etwa zwei Prozent. Nachdem die Geberländer bisher paradoxerweise an den relativ hohen Zinsen zulasten der Krisenländer verdient haben, ist ein Zinsverzicht von mindestens einem Jahr vertretbar und verschafft den in der Rezession befindlichen Krisenländern zusätzlichen Spielraum.
- Die Krisenländer haben bereits – zulasten ihres Wirtschaftswachstums – erhebliche Sparmaßnahmen umgesetzt. Von weiteren drakonischen „Sparmaßnahmen“ ist abzusehen, insofern sind die Spardiktate zu stoppen. Andernfalls droht eine Verschärfung der Rezession, was Konsolidierungsbemühungen nahezu aussichtslos macht. Allerdings müssen die Krisenländer ihre Ausgabenpfade bei Löhnen und Staatsausgaben längere Jahre verlangsamen, um ihre Defizite zu verringern. Weitere absolute Absenkungen bei Staatsausgaben oder Löhnen müssen aber vermieden werden, vielmehr sind Zuwächse zur wirtschaftlichen Stabilisierung erwünscht, sie müssen aber unterhalb der „Normalzuwachsrate“ von Produktivität plus Zielinflationsrate bleiben.
- Auch für die Krisenländer gilt grundsätzlich: ohne Wachstum keine Steuereinnahmen, ohne Wachstum keine Konsolidierung! Diese Länder müssen deshalb wieder auf einen Wachstumspfad zurückkehren können. Dieser Weg muss durch ein europäisches Programm für Zukunftsinvestitionen unterstützt werden. Zahlungen aus den Kohäsionsfonds müssen ohne Abstriche in die Empfängerländer gehen, die Kofinanzierung soll für einige Jahre ausgesetzt werden.
- Entscheidende Wachstumsimpulse für die Eurozone müssen von den Überschussländern ausgehen. Diese müssen ihre eigene Binnennachfrage substanziell erhöhen, weil die Leistungsbilanzdefizitländer kaum eigene expansive Impulse setzen können. Ansonsten droht dem gesamten Euroraum eine lange Phase der Stagnation.
- Deutschland muss deshalb den Niedriglohnsektor austrocknen und über die Ausweitung öffentlicher Investitionen und nicht zuletzt über höhere Löhne einen eigenen Beitrag zur dauerhaften Erhöhung der Binnennachfrage leisten. Der Ausgleich der Ungleichgewichte bzw. der Wettbewerbsfähigkeit kann nur beidseitig gelingen, die Krisenländer müssen ihre Leistungsbilanzdefizite, die Überschussländer aber aktiv ihre Überschüsse zurückführen. Eine einseitige Anpassung der Krisenländer – wie sie die Bundesregierung verlangt – muss notwendig scheitern: Die Eurozone insgesamt – deren Leistungsbilanz einigermaßen ausgeglichen ist – würde hohe Überschüsse ausweisen und den Euro in eine Aufwertungstendenz bringen! Alle Bemühungen der Krisenländer, ihre preisliche Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, würden konterkariert durch Aufwertung und preisliche Verteuerung. Deshalb ist die makroökonomische Koordinierung zu etablieren und die monetaristische Verengung der einseitigen Sicht nur auf die Staatshaushalte zu überwinden.
- Ohne Wirtschaftswachstum kann die Konsolidierung nicht gelingen. Eine wichtige Nebenbedingung sind aber ausreichende Steuereinnahmen. Deshalb müssen die Krisenverursacher – die Finanzmärkte – an der Finanzierung der Krisenfolgen beteiligt werden durch die Einführung der Finanzmarkttransaktionssteuer. Der Steuersenkungswettbewerb bei Unternehmenssteuern ist zu beenden, auch Unternehmen und Vermögende müssen sich angemessen an der Finanzierung ihrer Gemeinwesen beteiligen.