Der Selbstmörder-Turm zu Santiago – Absturz in das neoliberale Elend

Frederico Füllgraf
Ein Artikel von Frederico Füllgraf

In Santiago de Chile erlangte ein Wolkenkratzer in den letzten Jahren negative Berühmtheit – der Gran Torre Santiago gehört zu einem gigantischen Einkaufszentrum des Cencosud-Imperiums des chilenischen Tycoons Horst Paulmann und zieht massenweise Selbstmörder an. Besitzer Paulmann gilt als einer der größten Anhänger des von Augusto Pinochet eingeführten neoliberalen Wirtschaftssystems, das indirekt die meisten dieser Selbstmorde verantwortet. So schließt sich der Kreis, wie Frederico Füllgraf für die NachDenkSeiten aus Chile zu berichten weiß.

Der sogenannte „Gran Torre Santiago“ des Costanera-Einkaufszentrums an den Ufern des Mapocho in der chilenischen Hauptstadt war mit seinen dreihundert Metern Höhe gerade vor ein paar Wochen eingeweiht, als am Nachmittag des 3. Mai 2014 ein junger Mann in einen der sechs Meter pro Sekunde in die Höhe schießenden Fahrstühle der beiden Nebentürme einstieg. Im 27. Geschoss angekommen, stieg er aus, schlich sich vorbei an dem Schild mit der Warnung “Zutritt verboten!” und betrat den äußeren Sicherheitsbereich des Baus. Weit und breit war kein Wachpersonal am Platz. Dann kletterte er auf eine Bordmauer vor dem Abgrund. Etwa einhundert Meter unter ihm wurden die ersten Passanten auf seinen waghalsigen Balanceakt aufmerksam. Die Polizei fuhr vor. Schaulustige richteten ihre Handy-Kameras in die Höhe. Inzwischen hatte sich der Mann ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Paz y Amor – Friede und Liebe” übergestreift. Händeringend riefen Polizisten per Megaphon nach oben, er solle sofort von der Mauer weggehen, doch unter den Schaulustigen waren auch kriminelle Ermutigungsrufe zu vernehmen: „Spring doch!”. Hoch oben, im 27. Stockwerk, schrie der junge Mann zurück: „Ich bin ein Gegner des gesamten kapitalistischen Systems!” – und sprang in die Tiefe.

Dem Beispiel Erasmo Antonio Henríquez Pontillos – so der Name des verzweifelten jungen Mannes – folgten seitdem mindestens ein Dutzend Chilenen. Zuletzt sprang eine Frau am vergangenen 2. April 2017 in den Tod. Doch das Entsetzen endet nicht beim Anblick der Toten. Passanten ziehen ihre Handys, fotografieren und filmen die entstellten Opfer, die Polizei sorgt für ihre rasche Verschanzung in einer Ecke, damit sich das Rad des Konsumrauschs – untermalt von easy listening und versüßt mit Duftnoten billiger Parfums – ungestört weiterdrehen kann.

Von geschockt bis angewidert verglich der chilenische Journalist Luc Gajardo den Santiago-Tower mit weltbekannten Selbstmord-Symbolen wie dem japanischen Aokigahara-Wald und der Golden-Gate-Brücke San Franciscos. Mit schwarzem Humor nannte er ihn das „Costanera Suicide Center”.

Über die genaue Zahl der Selbstmörder ist nichts bekannt, der Absprung vom höchsten Turm Lateinamerikas ins Nichts ist ein peinliches Thema für die lokalen Medien und Behörden; sie verschweigen es lieber.

Horst Paulmanns Turm zu Babel

Für das Projekt des 1 Milliarde Euro teuren „Gran Torre Santiago” holte sich sein Eigentümer Horst Paulmann den Argentinier César Pelli, den Architekten der Neid einflößenden „Petronas Towers” in Kuala Lumpur. Ob vom 1. Buch Mose („Los! Bauen wir eine Stadt und einen Turm, der bis an den Himmel reicht! So werden wir uns einen Namen machen…”), oder von Albert Speers Reißbrett-Wahn „Welthauptstadt Germania” angetrieben, sparte Paulmann bei der Einweihung nicht an visionären Worten: „In den kommenden 200 Jahren wird hier kein Bauwerk dem Himmel näher sein als dieser Turm”.

Mit 10,5 Milliarden Dollar Vermögen steht der Familienname Paulmann für den zweitreichsten Familienclan Chiles und ergatterte bereits vor sechs Jahren Rang 75 der renommierten Forbes-Empore der Superreichen auf Erden. In Chile wird ihm oft Respekt gezollt, doch bewundert wird er nicht. Länger als Paulmanns Selbstüberhebungen sind die Schatten, die der Turm auf anstößige Hintergründe wirft.

Horst Paulmann stammt aus dem deutschen Kassel, wo sein Vater Werner während des Hitler-Regimes als SS-Sturmbannführer und Richter Karriere machte. Anfang der 1950er entzog sich Werner Paulmann jedoch einer Anklage wegen NS-Verbrechen und flüchtete, wie so viele Nazis, samt Frau und Kindern nach Südamerika – Ein Kapitel, über das Milliardär Paulmann nicht redet, für das er als Sohn auch nicht verantwortlich ist.

Gleichwohl ist er dem belesenen und demokratischen Chile aus einem anderen Grund in übler Erinnerung: Nämlich wegen seiner Sympathien für General Augusto Pinochet, den er zeitlebens bewunderte und dessen Beerdigung er 2006 schamlos beiwohnte. „Man müsste Pinochet ein Denkmal setzen, weil er den Chicago Boys freie Hand gelassen hat”, erklärte Horst Paulmann 2005 kaltschnäuzig der Süddeutschen Zeitung.

Dank verpflichtet, deshalb wagte er über die ideale Freizeitgestaltung der chilenischen Familie nachzudenken. „Das Leben in der Familie entfaltet sich dann, wenn tausende Menschen in die Einkaufszentren strömen”. Der Turmherr meinte natürlich seine eigenen Einkaufszentren – die für Symbole einer doppeldeutigen Geschichte von Reichtum und perverser, sozialer Ungleichheit stehen – und spekulierte mit 240.000 täglichen Besuchern am Fuß des „Gran Torre Santiago”. Kritiker vermuten, er habe sich selbst ein Denkmal setzen wollen.

Das Cencosud-Imperium und der neoliberale Lebensstil

Der Familienclan Paulmann – Horst, Bruder Jürgen und Söhne – ist bekannt als Pionier der Supermarkt- und Kaufhauskultur in Argentinien und Chile. Sein Aufstieg begann vor vier Jahrzehnten mit dem bescheidenen Supermarkt Las Brisas, im südchilenischen Temuco, und gipfelt heute im Imperium Cencosud, einer Holding mit 17 Handelsmarken und einem Jahresumsatz von umgerechnet zwölf Milliarden Euro. Mit 130.000 Beschäftigten, die Hälfte davon in Chile, ist der Konzern in fünf Ländern (Argentinien, Brasilien, Chile, Peru und Kolumbien) von Heimwerker-Handelsketten bis Supermärkten vertreten. Sein Flaggschiff ist der Einzelhandel mit den populären bis elitären Supermarktketten Santa Isabel und Jumbo und den Bekleidungsläden Paris.

Der Unternehmer äußerte sich niemals – zumindest öffentlich – zur siebzehnjährigen Gewaltherrschaft Pinochets, die 40.000 Folteropfer und mehr als 3.500 politische Morde auf dem Gewissen hat. Doch beherzigte er das von der Diktatur mit den Chicago Boys eingeführte und von den demokratischen Folge-Regierungen größtenteils unberührt gelassene Wirtschaftssystem, das nach Auskunft der Weltbank (2016) aus Chile eines der 16 Länder der Welt mit der ungleichsten Einkommensverteilung machte.

Paulmanns Cencosud profitierte vom neoliberalen Versuchslabor der Chicago Boys und stieß sich gesund an der sozialen Ungleichheit. Zum einen mit niedrigen Löhnen und miserablen Arbeitsbedingungen für die tausendfache Belegschaft, zum anderen mit der Massenverschuldung der Kundschaft.

Von der sturen Beibehaltung der Niedriglohnpolitik abgesehen, mehren sich seit Jahren Beschwerden der Angestellten gegen Bespitzelung, hanebüchene Diebstahl-Vorwürfe, Erpressung und Polizeieinsätze. So sind Betriebsangehörige wegen lachhafter Lappalien, z. B. der unerlaubten Nutzung eines Bleistiftes oder eines Kaugummis eingesperrt und verhaftet worden. Die Betriebsgewerkschaften prangern die Maßnahmen als „Nötigung, Beeinträchtigung der Arbeits- und Privatrechte und faule Tricks” an, womit sich das Unternehmen die Nichtzahlung von Überstunden und sonstigen Entschädigungen erschwindelt habe, so César Fonseca, Vorsitzender der Angestellten-Föderation bei Cencosud; von Teilzeit-Arbeit und periodischen Massenentlassungen als Hebel des neoliberalen Arbeitsmarktes ganz zu schweigen. Wie 2015 geschehen, ist es nicht unüblich, dass Paulmanns Cencosud auf einen Schlag 6.000 Arbeiter auf die Straße setzt.

Als Pionier der Shopping-Malls führte Paulmann auch die Kreditkarte ein und damit seine chilenische Kundschaft ins Verderben. In Chile lebende Ausländer werden bei ihrem ersten Supermarkt-Besuch mit einer deprimierenden Beobachtung an der Kasse konfrontiert: die meisten Chilenen zahlen mit Kreditkarte – wenn die verdammte Karte nur noch Kredit hätte!

So öffnen sie ihre Brieftasche und ziehen eine nach der anderen, bis schließlich Visa, Master, Amex oder eine beliebige Kundenkarte noch einen Restsaldo aufweist und sie von der Blamage befreit. „Ja, so mancher Landsmann führt bis zu sieben Kreditkarten. Eine Karte zahlt die Schulden der nächsten Karte”, erzählt mir ein Holzhändler in Zentralchile und erklärt seine Landsleute für „Gefangene” – Gefangene des Kreditsystems.

In einer Erhebung vom November 2015 warnte die chilenische Zentralbank, dass 75 Prozent der 16 Millionen Chilenen überschuldet sind (5.05.3 – Financiera de Hogares – Banco Central de Chile). Mit 63 Prozent rangieren Verbraucher- oder Konsumschulden an erster Stelle, gefolgt von Hypotheken, Bildung (700.000 verschuldete Studenten) und PKW-Anschaffung. Häufigste Verursacher der Verbraucherschulden sind teure Konsumgüter wie Handys, Klamotten, Kosmetika und das Auto des Jahres, für deren Werbung aller 10 Minuten, auch im Staatssender TVN, das Fernsehprogramm mit impertinenten Spots unterbrochen wird.

Mit den Verbraucherschulden per Kreditkarte versuchte Horst Paulmann ein dickes Wucherer-Geschäft zu machen und verdoppelte ab 2006 die sogenannten „Bearbeitungsgebühren” seiner Kundenkarten. Die empörte Klientel reichte Klage ein. Nach leidigem, siebenjährigen Instanzenkampf entschied Chiles Oberster Gerichtshof 2013, dass Paulmann seiner geprellten Kundschaft stolze 40 Millionen Dollar zurückzahlen musste.

War Erasmo Antonio Henríquez Pontillos unter den Studenten oder Paulmann-Kunden?

Das depressive Andenland

„17,2 Prozent der Chilenen leiden unter Depressionen, die Statistik liegt über dem Weltdurchschnitt”, war im November 2015 in der chilenischen Internet-Zeitung El Mostrador zu lesen. „Allein in Santiago stieg der Verbrauch von Antidepressiva um 470 Prozent”, meldete die Wochenzeitung El Ciudadano ein knappes halbes Jahr später, im April 2016.

Nach Angaben der Universität San Sebastián sind 4 Millionen der insgesamt 11 Millionen Schuldner säumig; sie können ihre Schulden nicht zurückzahlen.

Systemkritische Sozialpsychologen, Soziologen und Politikwissenschaftler stellen Verbindungen her zwischen der depressiven Epidemie, langen Anfahrts- und Arbeitszeiten, niedrigen Löhnen und Produktivität, teurer Altersversorgung und niedrigen Renten, der weitverbreiteten Korruption in Staat und Wirtschaft, der Enttäuschung mit den demokratischen Regierungen, usw. In einem Wort: Die Ohnmacht vor der nicht abreißen wollenden Herrschaft neoliberaler Lebensformen.

„Sie sind Opfer der Entmenschlichung durch das brutale, neoliberale Wirtschaftssystem”, beklagte Radio Universidad de Chile die Selbstmörder des Paulmann-Towers.

Der Soziologe Alberto Mayol sieht soziale Ausgrenzung in den Todessprüngen: „Diese Menschen sind nicht in der Lage, sich in die herrschenden Normen der Gesellschaft zu integrieren. Wenn dies also eine Konsumgesellschaft ist, heißt die vorherrschende Norm, sich Zugang zu den begehrtesten Waren zu beschaffen. Je mehr man ihnen nahe ist, umso stärker ist man integriert.” Schafft man es nicht, dann…

Die Soziologin María Emilia Tijoux sieht hingegen alarmierende pathologische Signale in den Reaktionen auf die Selbstmorde. Die Gleichgültigkeit der Gesellschaft bezeichnet sie als Anzeichen von Barbarei. „Das ist so etwas wie der Triumph des Marktes… Die Toten werden wie Abfall behandelt. Das Geschäft darf nicht gestört werden, das Rad des Kapitalismus muss sich weiterdrehen. Makaber wird es, wenn die Menschen zum Costanera-Center strömen, um zu sehen, wie sich Menschen in den Tod stürzen“.

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