Deutschland zählt so viele Arbeitslose wie seit zehn Jahren nicht mehr, und ein Ende ist nicht in Sicht. Zwecks Krisenbewältigung kauft die Bundesregierung teure Energie bei Donald Trump, rüstet Deutschland zur „Kriegstüchtigkeit“ und schleift eifrig den Sozialstaat. Diese Bundesregierung hat schon jetzt fertig. Eine Abrechnung von Ralf Wurzbacher.
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Bist Du ein Faulenzer? Noch nicht? Dann wird‘s aber Zeit. Der Wirtschaftsstandort Deutschland meint es gut mit Dir. Schon morgen könnte Dein Chef Dich in den Urlaub schicken, ohne Rückflugticket und auf Lebenszeit. Das heißt dann für Dich: rein in die soziale Hängematte, Glieder und Seele baumeln lassen und es sich so richtig gut gehen lassen. Also mit allem Pipapo: Kaviar auf Staatskosten, Luxusbude, Karibiktrip, neues Gebiss von Dr. Best. Und setzt es doch mal einen Anschiss vom Fallmanager – Ohren auf Durchzug schalten und weiter genießen. Einfach herrlich!
Die Republik – ein Schlaraffenland für Müßiggänger? Nun ja, wäre es wirklich so, hätten viele und immer mehr was zu lachen. Tatsächlich ist die Lage zum Heulen. Mehr als drei Millionen Erwerbslose zählte die Bundesagentur für Arbeit (BA) im August. So viele gab es zuletzt vor zehn Jahren. Inoffiziell sind sogar 3.634.000 Menschen ohne Job, mehr als 600.000 stecken in irgendeiner Fördermaßnahme, sprich in der „Warteschleife“, fest, nicht wenige warten sehr lange. Sie komplettieren das, was der Fachjargon Unterbeschäftigung nennt, wobei das Ende der Fahnenstange hier wohl längst nicht erreicht ist.
„Die große Job-Angst“
„Immer mehr Entlassungen: Die große Job-Angst“, titelte dieser Tag die Bild und lag ausnahmsweise richtig. Allein innerhalb der Automobilbranche wurden binnen eines Jahres 50.000 Stellen abgebaut, und ein Ende ist nicht in Sicht. Reihenweise Zulieferfirmen melden Insolvenz an. Die jüngsten Beispiele: Bei der AE Group mit bundesweit mehreren Standorten, darunter im thüringischen Gerstungen, fürchten 600 Beschäftigte um ihre Zukunft. Bei der Nidec GPM in Merbelsrod stehen 270 Stellen auf der Kippe. Musashi aus Japan will sein Werk in Leinefelde-Worbis dichtmachen, dazu mindestens ein weiteres im niedersächsischen Hannoversch Münden. Die MVI-Group aus Wolfsburg und Huber Automative im baden-württembergischen Mühlhausen wollen mehrere Hundert Mitarbeiter loswerden.
Die Liste ließe sich fortsetzen. Vor allem über Ostdeutschland schwappt die Pleitewelle hinweg. Allein in Thüringen hängen rund 80.000 Arbeitsplätze direkt oder indirekt von der Kfz-Industrie ab. Gerade die Bürger im Osten wissen, wie sich Deindustrialisierung anfühlt. Nach dem Mauerfall waren die DDR-Planwirtschaft gnadenlos abgewickelt, ein ganzes Heer an Werktätigen wegrationalisiert und ins kapitalistische Haifischbecken geworfen worden. Der Aderlass zog sich über viele Jahre hin und gipfelte im Jahr 2005 mit knapp fünf Millionen Arbeitslosen. Davon traf die übergroße Mehrheit keine persönliche Schuld, sie waren schlicht Opfer äußerer Umstände.
Wasser predigen, Wein trinken
So wie heute. Und für die Umstände hat abermals auch und vor allem die Politik gesorgt. Die Nöte des produzierenden Gewerbes haben vielfach mit den exorbitant gestiegenen Energiepreisen zu tun, also damit, dass Deutschland nie mehr günstiges Erdgas aus Russland beziehen will, dafür umso mehr teures und schmutziges Frackinggas aus den USA. Oder damit, dass die EU-Kommission einen miserablen Deal mit Donald Trump gemacht hat und Europa seine Güter nur mehr hoch verzollt nach Übersee exportieren kann, während Zölle für US-Waren in Europa passé sind. Oder damit, dass die Bundesregierung Unsummen zwecks Hochrüstung und bis auf Weiteres in einem nicht zu gewinnenden Krieg in der Ukraine verpulvert, weshalb man sich andere Dinge angeblich „nicht mehr leisten kann“, vorneweg den Sozialstaat, wie der Bundeskanzler meint.
Das alles haben die einfachen Menschen im Land auszubaden, die breite Bevölkerung, und kein bisschen jene, die von der sogenannten Zeitenwende profitieren: Rheinmetall, Banken, Spekulanten, Friedrich Merz (CDU) selbst, der als BlackRock-Emissär das Zepter schwingt. Am Wochenende legte der Kanzler nach: „Wir leben seit Jahren über unsere Verhältnisse“, behauptetet er und man fragt sich: Wer ist „wir“? Und wer sind Sie, der Sie Wasser predigen und Wein trinken und den Schampustrinkern immer wieder nachschenken, indem Sie einmal mehr ein Machtwort gesprochen und klargestellt haben: Eine Reichen- oder Vermögensteuer sei mit dieser Koalition „ausgeschlossen“.
Bullshit-Ministerin Bas
Wer hat etwas anderes erwartet? Die Gewerkschaften vielleicht? Als am Freitag die Meldung von über drei Millionen Arbeitslosen die Runde gemacht hatte, meldete sich Anja Piel vom Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) zu Wort. „Sozialstaatsreformen, die Sicherheitsversprechen kaputtsparen, sind ein Irrweg, auf den sich Bundeskanzler Merz und die CDU/CSU nicht begeben dürfen“, gab sie Bescheid. Sozialabbau auf dem Rücken von Beschäftigten und Arbeitslosen löse „kein einziges unserer aktuellen Probleme, sondern gefährdet den gesellschaftlichen Frieden und am Ende die Demokratie“.
Noch am selben Tag beschlossen die Koalitionsspitzen bei ihrer Klausur in Würzburg den zügigen Substanz- und Namensverlust des Bürgergelds (künftig „Neue Grundsicherung“) mit verschärften Sanktionen bis hin zum totalen Leistungsentzug sowie eine weitere Nullrunde für 2026 nach der von 2025. Zwei Tage später trat die dabei federführende Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) bei der Landeskonferenz der Jungsozialisten (Jusos) in Nordrhein-Westfalen in die Bütt und polterte: Die Debatte darüber, dass die Sozialversicherungssysteme und der Sozialstaat nicht mehr finanzierbar seien, „ist – und da entschuldige ich mich jetzt schon für den Ausdruck – Bullshit“. Keine Entschuldigung hatte sie dafür parat, dass sie beim Bashing von Langzeiterwerbslosen die Chefinnenkeule schwingt und gemäß Haushaltsentwurf ausgerechnet bei den Wiedereingliederungshilfen in den Arbeitsmarkt Kürzungen plant. Das nämlich hatte unter der Woche der Paritätische Wohlfahrtsverband beklagt.
Nichts da mit Reichensteuer
Zu all dem fand sich in besagter DGB-Mitteilung kein Wort, so wenig wie die Buchstaben SPD, was wahlweise für pathologische Realitätsverweigerung oder dafür spricht, dass die Gewerkschaften ihre Mitglieder für dumm verkaufen wollen. Motto: Merz ist der Schuft, Bas und Lars Klingbeil (SPD) sind die Guten. Der Finanzminister hat ja schließlich die Sache mit der Reichensteuer ins Spiel gebracht. Genau, und wie programmiert setzte es dafür die kalkulierte Watschen durch die Union, was wiederum CSU-Chef Markus Söder nicht genügt, denn: „Wir müssen Steuern senken.“ Am besten für Rheinmetall-Frontmann Armin Papperger, was Söder nicht sagte, aber ziemlich sicher denkt. Deutsche Waffenschmieden sollen schließlich in Zukunft „Deutschlands wirtschaftliches Rückgrat“ bilden, wie Jens Berger gerade erst hier problematisiert hat.
Von den Gewerkschaften vernimmt man dazu praktisch keinen Widerspruch. Ihnen scheint alles heilig zu sein, was Arbeitsplätze schafft, auch wenn‘s unheilig viele Tote verspricht. Und für sie gilt: Solange eine Sozialdemokratie mit fünf Prozent plus x Wählerstimmen irgendwie zum Mehrheitsbeschaffer taugt, gehört ihr die Treue gehalten, komme, was wolle. Dafür glaubt man dann auch gerne dem Märchenonkel, der den nahenden Aufschwung halluziniert. Derlei hört man derzeit in Serie, von Arbeitsmarktforschern, Wirtschaftsinstituten und anderen Meistern der Glaskugelbranche. Auch Andrea Nahles, einst SPD-Vorsitzende, heute BA-Vorstandsvorsitzende, hegt und pflegt ein „zartes Pflänzchen“ namens Hoffnung. Fest macht sie dies an einer leicht gestiegenen Zahl gemeldeter Stellen, allerdings ausgehend von zuletzt niederstem Niveau, sowie der seit Jahresbeginn rückläufigen Kurzarbeit als vermeintlich verlässlichem Krisenindikator.
Kanzler der Schmerzen
Die Dinge dürften anders liegen: Statt Personal auf Staatskosten bei der Stange zu halten, setzen die Bosse sie heute gleich vor die Tür. So könnte etwa laut einer Studie der Unternehmensberatung Horváth bis 2029 jede fünfte Stelle im stark exportlastigen Maschinenbau wegbrechen, das wären zusammen 200.000 Arbeitsplätze weniger. Gründe dafür seien die hohen US-Zölle und die aufstrebende chinesische Konkurrenz. Ein „dramatisches Jobsterben“ beutelt nicht minder die Chemieindustrie. Der Chef der Gewerkschaft IG BCE, Michael Vassiliadis, sprach unlängst von bundesweit 260 Betrieben, die ihre Belegschaft eindampfen wollten. 40.000 Beschäftigte müssten um ihre Anstellung bangen. Schlecht sieht es ebenso ums Handwerk aus, den Handel und die Gastronomie. Hier könnten Zehntausende Stellen verschwinden, weil die Menschen im Zuge der „Zeitenwende“ viel an Kaufkraft eingebüßt haben und ihr Geld zusammenhalten.
Aber ausgerechnet jetzt, wo die Nöte größer werden und Hilfe für eine wachsende Zahl an Menschen erforderlich ist, soll der Sozialstaat in einem „Herbst der Reformen“ weiter geschleift werden, während interessierte Kreise wie in schlechten alten Zeiten Ressentiments gegen gesellschaftliche Randgruppen schüren und Bedürftige, Gering- und Normalverdienende gegeneinander aufbringen.
Der Kanzler der Schmerzen findet das alles „unerlässlich“, jedoch mit dem Begriff „Zeitenwende“ nicht mehr treffend genug umrissen. Ergo hat er ein anderes Schlagwort aus dem Hut gezaubert: „Epochenbruch.“ Das klingt so martialisch, das haut die faulste Haut aus der Hängematte, Zielrichtung Jobcenter. Für die letzten Durchhänger bliebe immer noch Verhungern.
Titelbild: ondrejsustik / Shutterstock