Der Ukrainekrieg und das Problem mit der Wahrheit

Der Ukrainekrieg und das Problem mit der Wahrheit

Der Ukrainekrieg und das Problem mit der Wahrheit

Ein Artikel von Jürgen Hübschen

In allen Medien wird ständig über den Krieg in der Ukraine berichtet. Neben geschriebenen Abhandlungen gibt es eine Fülle von Bildern und Videos. Neben den Problemen der nicht definierten Aktualität der Beiträge, der räumlichen Zuordnung und technischen Qualität von Fotos und/oder Videos, der nicht einzuordnenden Kompetenz der Berichterstatter und dem fehlenden sicherheitspolitischen Know-how vieler Politiker ist das Hauptproblem der Wahrheitsgehalt aller Meldungen. Der nachfolgende Beitrag von Jürgen Hübschen befasst sich mit den Hauptursachen dieses Dilemmas.

Wahrheit und Propaganda

Es heißt nicht umsonst, dass die Wahrheit in jedem Krieg zuerst stirbt und durch Propaganda ersetzt wird. Diese Aussage trifft auch im Ukrainekrieg uneingeschränkt zu, und zwar für alle Kriegsparteien und teilweise sicherlich auch für die sie unterstützenden Staaten. In Russland und auch in der Ukraine bestimmt letztlich der Präsident, was in diesem Krieg gemeldet wird und was eben nicht. Der ukrainische Präsident Selenskyj wird dabei von einer Vielzahl internationaler PR-Agenturen beraten und unterstützt. Das erklärt nicht nur die Inhalte seiner täglichen Video-Botschaften und seine medienwirksamen Frontbesuche, von denen niemand genau weiß, wo und wann diese stattgefunden haben, sondern vor allem auch seine professionellen Auftritte in anderen Ländern sowie bei internationalen Meetings und Organisationen – durch persönliche Präsenz oder per Videoschaltung.

Dabei ist es ihm nicht selten gelungen, sich selbst zu verschiedenen Events einzuladen und die Sympathien der Veranstalter und Teilnehmer für sich zu gewinnen. Für den russischen Präsidenten gab und gibt es vergleichbare Möglichkeiten nicht. Bis auf wenige Ausnahmen, an denen er selbst in den Medien präsent war, begnügte Präsident Putin sich mit Aussagen von Außenminister Lawrow und/oder Pressesprecher Peskow. Der Wahrheitsfindung dienten weder die Verlautbarungen des Kremls noch die der ukrainischen Regierung, weil die dafür erforderlichen Fakten Außenstehenden nicht bekannt waren und sind.

Informationen, Annahmen, Behauptungen, wishful thinking und Fakten

Dieses grundsätzliche Problem wird noch dadurch erheblich verstärkt, dass Journalisten, Politiker und vor allem viele der sogenannten Experten in ihren Aussagen und Feststellungen in Printmedien und vor allem in politischen Talkshows nicht unterscheiden zwischen Informationen, Annahmen, Behauptungen, wishful thinking und Fakten. Vielfach sind nicht einmal die Unterschiede bekannt, oder sie werden bewusst ignoriert. Informationen können stimmen, müssen es aber nicht. Annahmen sind ganz persönliche Einschätzungen, die in seriöser Weise als solche gekennzeichnet werden sollten. Behauptungen werden häufig nach dem Motto formuliert: „Fest behauptet ist halb bewiesen“. Mit der Wahrheit haben sie in der Regel nichts zu tun, sondern basieren häufig auf einem „wishful thinking“. Das heißt, dass Situationen und Entwicklungen mit der Realität wenig bis gar nichts zu tun haben, sondern lediglich darstellen, wie man eine bestimmte Lage gern hätte. Häufig dienen solche Aussagen lediglich dazu, das eigene Handeln zu rechtfertigen, vor allem dann, wenn es um die Begründung von finanziellen Leistungen oder Waffenlieferungen geht. Dann wird z.B. eine Offensive herbeigeredet und auch dann noch als erfolgreich dargestellt, wenn sie nachweislich von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Ganz anders verhält es sich mit Fakten, von denen allerdings kaum welche verfügbar sind, weil sie entweder der Geheimhaltung unterliegen oder wegen ihres nachteiligen Inhalts nicht veröffentlicht werden. Selbst bei der Berichterstattung von Fakten bedarf es vorher einer seriösen Prüfung. Erst eine vertrauenswürdige Bestätigung macht sie belastbar und dadurch letztlich zu einer gesicherten Erkenntnis. Dann erst wird eine Tatsache zu einer Wahrheit.

Das „Nachrichtenkarussell“

Im Zusammenhang mit der Einstufung von Fakten als gesicherte Erkenntnisse muss man sich über die Problematik des „Nachrichtenkarussells“ im Klaren sein. Darunter versteht man die scheinbare Bestätigung eines Sachverhalts, die aber letztlich auf dieselbe Quelle zurückgeht. Dafür ein Beispiel: Ein Journalist, Politiker oder Diplomat „A“ erfährt in einem Gespräch mit einer Person „B“ von einem bestimmten Sachverhalt, der durchaus möglich und zutreffend erscheint. Eine Person „C“ spricht separat ebenfalls mit der Person „B“ über dasselbe Thema.

Später trifft „A“ auf derselben Veranstaltung oder auch bei einer anderen Gelegenheit auch die Person „C“, unterhält sich mit ihr über denselben Sachverhalt und findet die Aussage, die „B“ zuvor auch ihm gegenüber gemacht hat, bestätigt.

Da „A“ nicht weiß, dass die Person „C“ vorher dieselbe Information von „B“ erhalten hat, hält er diese für bestätigt und bewertet sie als Fakt. Dieses „Nachrichtenkarussell“ habe ich während des Irak-Iran-Krieges in meiner Tätigkeit als Militärattaché bei der Deutschen Botschaft in Bagdad immer wieder erlebt. Dieses „Karussell“ dreht sich besonders oft und auch schnell, wenn es in einem Krieg an offiziellen und nachprüfbaren Verlautbarungen der beteiligten Parteien mangelt.

Die Qualität der genutzten Quellen

Ein weiteres Problem, eine belastbare Lagebeurteilung erstellen zu können, liegt in der Qualität der genutzten Quellen. Um diese beurteilen zu können, bedarf es neben eigenen Erfahrungen eines soliden und erprobten Netzwerks, das man sich in der Regel mühsam selbst aufbauen muss. Erst nach geraumer Zeit vor Ort ist man in der Lage, eine genutzte Quelle hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit einigermaßen zuverlässig einzuordnen. Das gilt natürlich besonders für persönliche Gesprächspartner. Diese sind, wie alle Menschen, sehr unterschiedliche Charaktere. Im Krieg ist es besonders wichtig zu wissen, ob der jeweilige Gesprächspartner eher ängstlich ist und deshalb vielleicht dazu neigt, Sachverhalte zu dramatisieren, oder ob es sich um einen Draufgänger handelt, der Entwicklungen eher verharmlost, oder ob es sich vielleicht um einen Aufschneider handelt, der sich lediglich wichtigmachen will. Die Auswahl der Quellen bedarf einer besonderen Sorgfalt und erfordert eine Menge Zeit.

Fake News

Bei allen genutzten Quellen kann nicht ausgeschlossen werden, dass es sich bei scheinbar glaubwürdigen Informationen um Fake News handelt. Das herauszufinden ist in Zeiten massiver Propaganda besonders schwierig und wird noch dadurch erschwert, wenn derartige Informationen von Quellen verfügbar gemacht werden, die man bislang für vertrauenswürdig gehalten hat. Agenten sind auf diesem Feld natürlich besonders erfinderisch und professionell. Doch auch staatliche Institutionen bedienen sich dieser Methode, um ihr aktuelles Handeln oder aber auch zukünftige Planungen und Entscheidungen zu rechtfertigen.

Die Anonymität in den sogenannten Social Media

In den Social Media kann jeder ohne Namensnennung Dinge berichten oder auch Behauptungen aufstellen, die keine solide Grundlage haben oder aber auch schlicht und einfach gelogen sind. Dies führt bei allen, die diese Medien nutzen, häufig nicht nur zu großer Verunsicherung, sondern nicht selten auch zu einer völlig falschen Lagebeurteilung und vielfach auch zu einer letztlich manipulierten eigenen Meinung.

Außerdem kann mit Hilfe dieser Medien erheblicher Druck auf die politischen Entscheidungsträger aufgebaut werden und diese sogar zu wenig sinnvollen Maßnahmen veranlassen.

Der Wettstreit zwischen den direkten und den traditionellen Medien

Ich möchte für die Bezeichnung von Twitter, Facebook etc. den Begriff „Direkt-Medien“ verwenden, im Gegensatz zu den Print-Medien und dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen.

Das Problem, das sich in diesem Zusammenhang hinsichtlich der Berichterstattung entwickelt hat, liegt in der „Konkurrenz der Systeme“, was ihre Aktualität angeht. Die Direkt-Medien können – falls sie Lust dazu haben – auf jede Entwicklung, jeden Sachverhalt unverzüglich reagieren, völlig losgelöst vom Wahrheitsgehalt der jeweiligen Meldung.

Da es bei den Print-Medien, auch bei den überregionalen wie z.B. Welt, FAZ, SZ und Zeit, letztlich auch um die Auflagenhöhe und bei den Öffentlich-Rechtlichen auch um Quoten geht, versuchen diese, hinsichtlich der Aktualität mit den Direkt-Medien zu konkurrieren, was aber nur zu Lasten einer seriösen Recherche möglich ist. Der Wahrheitsfindung und einer differenzierten Berichterstattung dient dieser „Wettbewerb“ sicherlich nicht.

Zusammenfassung

Kein Außenstehender weiß wirklich, was sich aktuell in der Ukraine abspielt. Einige Gründe für dieses Dilemma habe ich aufgezeigt. Sie erheben allerdings keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Dieser Beitrag soll in der Hauptsache dazu dienen, bei der eigenen Meinungsbildung zurückhaltend zu sein. Aktuell hat sich bezüglich des Ukrainekrieges in unseren Medien eine „Schwarz-Weiß-Darstellung“ entwickelt, die auf der ukrainischen Seite alle Ereignisse und Entwicklungen eher positiv und auf der russischen völlig negativ bewertet. Die mittlerweile üblichen Gäste in den politischen Talkshows unterstreichen diesen Sachverhalt mit ihren Aussagen besonders nachdrücklich. Eine derartig einseitige Darstellung entspricht nicht der Realität, führt bei Lesern und Zuschauern zu einem verzerrten Blickwinkel und letztlich zu einer falschen Lagebeurteilung der aktuellen Situation.

Wegen der wenig differenzierten Berichterstattung über den Krieg und der aufgezeigten Probleme, die Wahrheit herauszufinden, besteht für die Bevölkerung die Gefahr, sich eine eher einseitig geprägte eigene Meinung zu bilden. Davor möchte ich warnen, und zwar in der Gewissheit, dass die Ukraine diesen Krieg militärisch nicht gewinnen kann und eine politische Lösung immer dringender wird.

Titelbild: Shutterstock / Viacheslav Lopatin

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