Bürgerrat Ernährung: Das System der simulierten Bürgerbeteiligung

Bürgerrat Ernährung: Das System der simulierten Bürgerbeteiligung

Bürgerrat Ernährung: Das System der simulierten Bürgerbeteiligung

Ein Artikel von Rainer Balcerowiak

Im „Bürgerrat Ernährung“ werden demnächst 160 mehr oder weniger zufällig ausgewählte, ganz normale Bürger ihre Empfehlungen zum Thema abgeben dürfen. Und damit das auch alles im Sinne der Regierung läuft, wird der Bürgerrat engmaschig betreut und eingehegt. Stiftungen, auf „Bürgerbeteiligung“ spezialisierte Unternehmen, die Lobbys und Think Tanks sind natürlich an Bord. Das ist bestenfalls eine Simulation für Bürgerbeteiligung, meint unser Autor Rainer Balcerowiak.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Am 21. Juli war es so weit. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) griff drei Mal in eine Lostrommel mit den Ziffern 0 bis 9 und heraus kam schließlich die 187, und da waren sie – die 160 Teilnehmer des ersten vom Bundestag offiziell eingesetzten Bürgerrates. Der soll sich ab dem 29. September unter dem Motto „Ernährung im Wandel: Zwischen Privatangelegenheit und staatlichen Aufgaben“ mit Fragen wie Tierwohl, Nachhaltigkeit, Besteuerung, Transparenz, Ernährungsbildung, Abfallvermeidung und Regulierungsmöglichkeiten beschäftigen.

Am 29. Februar 2024 soll der Bürgerrat dann ein „Bürgergutachten“ mit Empfehlungen vorlegen, die in den zuständigen Bundestagsausschüssen beraten werden sollen. Mehr aber auch nicht, denn „am Ende entscheiden und verantworten die Abgeordneten, welche Empfehlungen umgesetzt werden“, stellte Bas klar. Vorsorglich hat man für diesen Pilotversuch ein zwar durchaus interessantes Thema ausgewählt, das aber bei weitem nicht das Emotionalisierungspotenzial und die gesamtpolitische Relevanz von Fragen wie Migration, Waffenlieferungen oder „Heizwende“ aufweist. Die Idee für derartige Bürgerräte ist nicht neu, und sie wurde auch im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung verankert. Im Mai 2023 wurde schließlich mit den Stimmen der Koalition und der Linken die Einsetzung des ersten Bürgerrates zu dem o.g. Thema beschlossen.

Danach ging alles ganz schnell. Zunächst wurden anhand eines Quotensystems, das u.a. Gemeindegröße und Bundesländerproporz umfasste, 84 Städte und Gemeinden ausgewählt. Dann erhielten 20.000 nach dem Zufallsprinzip ausgewählte Bürger aus diesen Gemeinden eine Einladung zur Teilnahme an dem Bürgerrat. Gut 2.000 zeigten daran Interesse. Die wurden dann ziemlich penibel kategorisiert, nach Bundesland, Gemeindegröße des Wohnorts, Alter, Geschlecht, höchster Bildungsabschluss und Einstellung zu einer themenbezogenen Frage. Letzteres diente dazu, etwa eine Über- oder Unterrepäsentanz von Vegetariern und Veganern zu vermeiden. Aus diesen Daten stellte ein Algorithmus dann 1.000 mögliche Zusammensetzungen des Bürgerrates zusammen, die den jeweiligen Anteilen an der Gesamtbevölkerung entsprechen sollten. Und eine dieser Zusammensetzungen hat Bas dann aus der Trommel gezogen.

Für Bas ist das eine ganz große Nummer. Auf diesem Wege könne man „einer Entfremdung von Bürgern und Politik entgegenwirken und zur Versachlichung kontroverser Debatten beitragen“. Denn man brauche „frische Ansätze, um das Vertrauen in die Demokratie und die Institutionen zu stärken“, „Rückkopplung mit den Menschen“ und wolle „Brücken bauen“. Denn viele Abgeordnete würden die Meinung der “schweigenden Mitte oft nicht kennen“.

Nichts wird dem Zufall überlassen

Natürlich kann angesichts des engmaschigen Auswahlsystems wohl kaum von einem „Zufallsprinzip“ oder gar einer „Bürgerlotterie“ gesprochen werden. Im Gegenteil: Die nunmehr hand- bzw. KI-verlesene Teilnehmerschar wird von einem sehr imposanten Apparat betreut und gelenkt. Der Bundestag hat dafür eine eigene Stabsstelle und einen wissenschaftlichen Beirat eingerichtet, dessen Mitglieder entweder im Konsens oder im Proporzverfahren von den Bundestagsfraktionen bestimmt werden.

Doch das ist noch nicht alles, denn zusätzlich wurde eine Art Konsortium aus drei Beratungsfirmen (Nexus, Ifok, Institut für Partizipatives Gestalten IPG), einer Eventagentur (Event & Regie), einer Kommunikationsagentur (monteundvogdt GmbH) und dem Verein „Mehr Demokratie e.V“, der ebenfalls seit Jahren im öffentlichen bezahlten Bürgerbeteiligungsgeschäft aktiv ist, beauftragt. Kooperationspartner ist auch eine US-amerikanische Stiftung (Sortition Foundation). Zu den Aufgaben dieser Armada gehören u.a. die „Strukturierung“ der Arbeit des Bürgerrats und die Bereitstellung professioneller Moderatoren.

Jedenfalls will man absolut nichts dem Zufall überlassen. Der vom Bundestag eingesetzte Beirat soll die externen Dienstleister „bei der Zusammensetzung des Pools von Experten sowie bei der Gestaltung des Prozessdesigns (Struktur und Operationalisierung der Fragestellung)“ beraten. Vertreter „der relevanten Verbände und Institutionen aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft werden vor Beginn der Beratungen des Bürgerrates zu einem offenen Anhörungsverfahren eingeladen“. Nicht vorgesehen ist dagegen, dass der „Bürgerrat“ auch selber Experten benennen kann, das sei vor allem aus „Zeitgründen“ kaum möglich, hieß es auf Nachfrage bei „Mehr Demokratie e.V.“

Ganz billig ist diese Demokratie-Burleske allerdings nicht. Die Pressestelle des Bundestages erklärte auf Anfrage, die Kosten könnten derzeit nur „nur grob geschätzt werden“, da es „noch zu treffende Entscheidungen“ gäbe. Im Bundeshaushalt 2023 stehen dafür bislang drei Millionen Euro zur Verfügung. Doch das wird wohl kaum reichen. Kostenbewusst ist man aber bei den 160 Bürger-Statisten. Die Teilnehmer erhalten eine Aufwandspauschale von 100 Euro pro Sitzung in Präsenz (insgesamt drei) und 50 Euro pro Sitzung in digitaler Form (insgesamt sechs), zuzüglich eventuell anfallenden Reisespesen, Kinderbetreuungskosten u.ä.

Testläufe mit privater Finanzierung

Natürlich werden sich die Politikprofis aus Regierung und Parlament nach Abgabe des „Bürgergutachtens“ und der Empfehlungen artig bei den „engagierten Bürgern“ bedanken und eine „sorgfältige Prüfung“ der eingegangenen Vorschläge versprechen. Danach muss aber auch mal gut sein, und dann bestimmen wieder Parteistrategen und Lobbygruppen nebst deren Experten die Debatte um mögliche Gesetzesnovellen rund um die Ernährungspolitik. Und die „Stabsstelle Bürgerrat“ kann sich nach dem erfolgreichen Auftakt dann dem nächsten Projekt dieser Art widmen.

Es gab für diese Veranstaltung im Jahr 2021 bereits bereits zwei Blaupausen, den „Bürgerrat Deutschlands Rolle in der Welt“ und den „Bürgerrat Klima“, die nach einem ähnlichen Schema abliefen, aber ohne öffentlichen Auftrag arbeiteten. Sie wurden von „zivilgesellschaftlichen Gruppen“ organisiert und finanzierten sich ausschließlich mit „Spenden und Zuwendungen von Stiftungen“, wie die Initiatoren damals schrieben. Mit im Boot saßen unter anderem die „Open Society Foundation“ von George Soros, die Robert Bosch-, Volkswagen- , Zeit- und Mercator-Stiftung, aber auch die Wettbude „Deutsche Postcode Lotterie“. Die Durchführung oblag genau jenen drei Beratungsfirmen, die jetzt auch für den „Bürgerrat Ernährung“ tätig sind: Nexus, Ifok und IPG sowie dem Verein „Mehr Demokratie“ e.V. , der für seine Mitwirkung beim „Bürgerrat Deutschlands Rolle in der Welt“ laut seinem Finanzbericht 2021 knapp 1,5 Millionen Euro kassierte. Ferner gab es in den vergangenen Jahren noch diverse, etwas weniger aufwändige „Bürgerräte“ auf kommunaler Ebene.

Ein erneuter „Bürgerrat Klima“ ist inzwischen auch die zentrale Forderung der Kleber-Kommandos von der „Letzten Generation“, um der „orientierungslosen Bundesregierung“ zu „helfen“, endlich die notwendigen Maßnahmen einzuleiten, erklärte ihr Sprecher Theo Schnarr vor einigen Tagen bei „Markus Lanz“ im ZDF. Das sei jetzt wichtiger als die Forderung nach Sofortmaßnahmen wie Tempolimit auf Autobahnen und 9-Euro-Ticket, die die „Letzte Generation“ bislang zur Bedingung für die Beendigung ihrer Aktionen gemacht hatte.

Partizipation als neoliberales Konzept

Doch eigentlich ist das alles längst kalter Kaffee und lediglich eine neue Variante der seit Jahrzehnten virulenten „Partizipationskultur“, die man wohl eher als simulierte Bürgerbeteiligung bezeichnen sollte. So gab es schon seit den 1970er Jahren Bürgerforen, Bürgerdialoge und Mediationsverfahren, etwa zur Atomenergie oder zu lokalen Bauvorhaben, die vor allem das Ziel hatten, staatliches Handeln zu legitimieren und Proteste außerhalb dieser kontrollierten Formate zu delegitimieren. Die Forderung nach Bürgerräten, mit einem am besten „zufällig ausgewählten“ Teilnehmerkreis, ist schon lange fester Bestandteil mehr oder weniger diffuser Demokratie- und Umweltbewegungen. Und drumherum hat sich zudem ein lukratives Geschäftsfeld für darauf spezialisierte Unternehmen entwickelt.

Später wurden sogar Volksentscheide auf kommunaler und auf Landesebene eingeführt, die dann bei Bedarf entweder für unzulässig erklärt oder ignoriert wurden, wie zuletzt in Berlin beim erfolgreichen Volksentscheid zur Vergesellschaftung großer Immobilien- und Wohnungskonzerne. Sogar nach langen Auseinandersetzungen erstrittene, gesetzlich verankerte Beteiligungs- und Klagerechte werden einfach ratzfatz gekippt, wenn es ans Eingemachte geht. Wie aktuell bei den Genehmigungsverfahren für die LNG-Terminals, für die auch noch das Umweltrecht teilweise außer Kraft gesetzt wurde.

In neoliberalen Thinktanks ist die Nützlichkeit dieser „Partizipartionsformate“ mittlerweile Common Sense. So gab die 2015 von der Bertelsmann-Stiftung initiierte „Allianz Vielfältige Demokratie“ zögerlichen Politikern und Verwaltungen umfassende Anleitungen für „breite Bürgerbeteiligung“ zur Hand, denn „gut gemachte Bürgerbeteiligung stärkt (..) das Vertrauen in die repräsentativen Institutionen“, heißt es da. Dabei müsse den Bürgern stets der Eindruck vermittelt werden, dass ein „fairer und gleichberechtigter Dialog auf Augenhöhe“ stattfindet. Mit Beteiligungsformaten könne man „für das politische System werben“.

Bereits 2013 beschrieb der Kultursoziologe Thomas Wagner in seinem (sehr lesenswerten) Buch „Die Mitmachfalle: Bürgerbeteiligung als Herrschaftsinstrument“ präzise die Mechanismen der modernen Partizipationsformate. Den jeweiligen organisatorischen und inhaltlichen Rahmen definieren stets staatliche Stellen, von ihnen finanzierte „zivilgesellschaftliche Gruppen“ oder von großen Unternehmen gegründete Stiftungen. Dadurch wird die Richtung des jeweiligen Dialogs vorgegeben und eine konfrontative Strategie weitgehend ausgeschlossen. Hauptziel bleibt die Legitimierung der eigenen Politik, wobei Kritiker in Beteiligungsformaten zu wichtigen Ressourcen werden, um das eigene Handeln besser zu verpacken, etwa als „fairen Kompromiss“. Sollte dies mal nicht so richtig klappen, liegt am Ende die alleinige Entscheidungsgewalt ohnehin stets bei den staatlichen Stellen.

Die Mechanismen haben sich seitdem verfeinert, die „Mitmachfalle“ wurde umfassend professionalisiert und institutionalisiert. Der jetzt initiierte „Bürgerrat Ernährung“ ist dafür ein sehr anschauliches Beispiel. Man sollte ihn – leicht amüsiert – zur Kenntnis nehmen und sich ansonsten an die alte Losung erinnern: „Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun!“

Titelbild: New Africa/shutterstock.com

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