Die deutsche Friedensbewegung und der Ukraine-Krieg

Die deutsche Friedensbewegung und der Ukraine-Krieg

Die deutsche Friedensbewegung und der Ukraine-Krieg

Ein Artikel von Karl-Jürgen Müller

Die weltweite und insbesondere auch die deutsche Friedensbewegung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs («Nie wieder Krieg!») ist angetreten, Kriege als Mittel der Konfliktlösung grundsätzlich zu beenden. Dieses Ziel teilen alle Menschen guten Willens, so wie es auch die Charta der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1945 zum Ausdruck gebracht hat. Auch die Frage, die der folgende Artikel stellt, fühlt sich diesem Ziel verpflichtet. Die Frage lautet: Dient die teils scharfe Schuldzuweisung aus der deutschen Friedensbewegung an Russland für den Ukraine-Krieg wirklich dem Frieden? Von Karl-Jürgen Müller.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Gleich am 24. Februar 2022 veröffentlichte die deutsche Sektion der IPPNW (Internationale Ärzte gegen den Atomkrieg – Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.) – eine namhafte Organisation der deutschen Friedensbewegung – eine Pressemitteilung, die wie folgt beginnt:

«Die ärztliche Friedensorganisation IPPNW verurteilt den völkerrechtswidrigen russischen Militärangriff auf die Ukraine auf das schärfste.»

Die ausführliche Begründung des russischen Präsidenten Wladimir Putin für den Einmarsch regulärer russischer Truppen in die Ukraine vom Morgen desselben Tages, in der sich dieser unter anderem auf das Selbstverteidigungsrecht in Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen berief, wurde erst gar nicht einer ernsthaften und gründlichen Prüfung unterzogen:

«Die Umstände verlangen von uns, dass wir entschlossen und sofort handeln. Die Volksrepubliken des Donbass haben Russland um Hilfe gebeten. In diesem Zusammenhang habe ich gemäß Artikel 51 in Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen, mit Genehmigung des russischen Föderationsrates und in Übereinstimmung mit den von der Bundesversammlung am 22. Februar dieses Jahres ratifizierten Verträgen über Freundschaft und gegenseitigen Beistand mit der Volksrepublik Donezk und der Volksrepublik Lugansk beschlossen, eine Militäroperation durchzuführen. Ihr Ziel ist es, die Menschen zu schützen, die seit acht Jahren von dem Kiewer Regime misshandelt und ermordet werden (…).»

Unberücksichtigt blieben auch die vielen Tatsachen aus den Jahren, Monaten, Wochen und Tagen vor dem 24. Februar 2022, die die Verantwortlichen in Russland zu dem nachvollziehbaren Schluss hatten kommen lassen, dass das Leben russischer Staatsbürger und die staatliche Integrität Russlands von der Ukraine (und der NATO) ernsthaft und akut bedroht waren. Die Auflistung dieser Tatsachen soll an dieser Stelle nicht wiederholt werden. (Verwiesen sei hier auf die Ausführungen von Jacques Baud «Putin. Herr des Geschehens?», insbesondere die Seiten 105–202).

Seit dem 24. Februar 2022 haben viele Erklärungen der deutschen Friedensbewegung ähnlich lautende Urteile über das russische Vorgehen formuliert wie die deutsche Sektion der IPPNW. Das gilt auch für den bislang wohl am meisten unterstützten Aufruf aus der deutschen Friedensbewegung, den von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer initiierten Aufruf «Manifest für den Frieden» vom 10. Februar 2023. Ihn haben mittlerweile mehr als 800.000 Menschen unterschrieben. Aber die außerordentlich wichtige Vorgeschichte des 24. Februar wird in diesem Aufruf ganz ausgeblendet.

Eine der wenigen gewichtigen Ausnahmen in der deutschen Friedensbewegung bildete eine öffentliche Stellungnahme des früheren Kanzlerberaters von Willy Brandt, Albrecht Müller, heute Herausgeber der NachDenkSeiten, vom 19. Juli 2022:

«Es gibt immer wieder Artikel und Videos, in denen die westliche Politik in Sachen Ukraine und Russland kritisch hinterfragt wird. Aber ganz selten kommen diese Beiträge ohne die Beschwörung der allgemeinen Empörung über Russlands Krieg in der Ukraine aus. Auch wenn das gar nicht zum Thema gehört, fallen die entsprechenden Worte: ‹völkerrechtswidriger Überfall›, ‹menschenverachtender Angriffskrieg›, ‹Putins Krieg› usw. Viele dieser Beschwörungen sind keinesfalls korrekt. Sie missachten, dass die Geschichte verkürzt erzählt wird, wenn der Beschuss der Ostukraine durch das ukrainische Militär nach 2014 nicht berücksichtigt wird. Viele gute Beiträge – auch solche in den NachDenkSeiten – werden so relativiert, aus meiner Sicht oft auch entwertet.»

Die Bedeutung der Friedensbewegung

Dass die deutsche Friedensbewegung noch nie in ihrer über hundertjährigen Geschichte Kriegsvorbereitungen und Kriege verhindert hat, mindert nicht ihr ehrenwertes Anliegen. Dieses Anliegen entspricht dem Grundbedürfnis menschlichen Lebens – Alfred de Zayas spricht mit guten Argumenten von einem «Menschenrecht auf Frieden». Ja, die Friedensbewegung hat nicht den Ersten und nicht den Zweiten Weltkrieg verhindert; nicht die deutsche Wiederbewaffnung Anfang der fünfziger Jahre; nicht die Umsetzung des NATO-Doppelbeschlusses Anfang der achtziger Jahre; nicht die erste unmittelbare Beteiligung Deutschlands an einem Krieg nach 1945, am Krieg der NATO gegen die Bundesrepublik Jugoslawien 1999; nicht die Umwandlung der Bundeswehr in eine Angriffsarmee für weltweite Auslandseinsätze; nicht die Beteiligung der deutschen Bundeswehr am Krieg in Afghanistan; nicht den Krieg der «Koalition der Willigen» gegen den Irak; nicht die Kriege gegen Libyen und Syrien … Aber das kann nicht bedeuten, dass sie nicht wichtig ist – wenn sie tatsächlich eine überzeugende Stimme des Friedens ist.

Das setzt voraus, sich auch unvoreingenommen mit folgenden Fragen zu befassen: Was schafft tatsächlich Frieden? Welchen Beitrag dazu leistet die deutsche Friedensbewegung? Gibt es etwas, dass die Friedensbewegung davon ablenkt, das menschliche Grundbedürfnis Frieden, das «Menschenrecht auf Frieden», ganz ins Zentrum ihrer Bemühungen zu stellen?

Die deutsche Politik hat sich für Krieg entschieden

Sicher ist: Die derzeitige deutsche Politik hat entschieden, dass Deutschland Kriegspartei ist – auch wenn dies in dieser Klarheit noch immer öffentlich dementiert wird. Aber die Tatsachen sprechen eine klare Sprache. Man lese dazu nur einmal den aktuellen Artikel des früher international tätigen US-amerikanischen Offiziers und UNO-Waffeninspekteurs Scott Ritter über die konkrete deutsche Anleitung der ukrainischen Armee für ihre derzeitige «Offensive» mittels eines Kriegs-Simulationsprogramms der Bundeswehr. Leider ist diese Lektüre für die Deutschen nur über Umwege möglich, denn das Internetportal mit dem Beitrag von Scott Ritter ist in Deutschland verboten. Ein Skandal für ein Land, das sich offiziell auf das Menschenrecht auf Meinungsfreiheit verpflichtet hat.

Und was ist passiert mit dem Grundbedürfnis Frieden, wenn martialische Schlagzeilen wie die der Zeitung BILD – «Ukrainische Offensive läuft. Jetzt stoßen deutsche Leopard-Panzer vor» – keinen breiten Aufschrei der Empörung mehr hervorrufen? Was ist los in Deutschland, dass verantwortliche Politiker und Medienvertreter ohne breiten Widerspruch ihre Propaganda-Formeln verbreiten können? Eines von vielen Beispielen dafür war die Sendung Kontrovers des Deutschlandfunks vom 10 Juli 2023.

Die Vorwürfe gegen Russland sind keine Lappalie

Der Vorwurf, Russland führe einen «völkerrechtswidrigen Angriffskrieg», ist keine Lappalie. Die Charta der Vereinten Nationen hat in Artikel 2, Absatz 4 festgehalten:

«Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.»

Nach Artikel 51 der Charta ist nur die individuelle oder kollektive Selbstverteidigung erlaubt. «Kollektiv» bedeutet in diesem Zusammenhang, dass Staaten, die sich gegen einen Angriff verteidigen, dabei von anderen Staaten unterstützt werden dürfen. Der Nürnberger Prozess 1945/1946 und die von der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen 1950 beschlossenen «Nürnberger Prinzipien» erklärten den Angriffskrieg zum schwersten Kriegsverbrechen, dem alle anderen Kriegsverbrechen fast zwangsläufig folgen. Das deutsche Grundgesetz hat mit seinem Artikel 26 schon die Vorbereitung eines Angriffskrieges für verfassungswidrig erklärt und unter Strafe gestellt.

Eine Friedensbewegung, die vom «völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg» spricht, muss sich fragen lassen, mit welcher Logik sie die westliche Kriegsführung gegen Russland seit dem 24. Februar 2022 beurteilen will. Die westlichen Kriegsführer werden fragen: Ist es nicht legitim, einem «völkerrechtswidrig angegriffenen» Staat mit allen Mitteln, auch militärischen, beizustehen? Mit anderen Worten: Die Formel vom «völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg» dient dem Westen vor allem zur Rechtfertigung der Eskalation seines Krieges gegen Russland.

Wann ist ein Krieg ein Angriffskrieg?

Indes gilt: Wann ein solcher Angriffskrieg tatsächlich geschieht oder geschehen ist, das entscheidet auch nicht die Friedensbewegung, das muss sehr gründlich, unvoreingenommen und vorurteilsfrei geprüft werden. Alle notwendigen Dokumente müssen zugänglich sein und gesichtet werden. Der Nürnberger Prozess gegen die 24 Hauptangeklagten des NS-Regimes begann ein halbes Jahr nach Ende des Zweiten Weltkriegs und dauerte fast ein Jahr, die Akten hierzu füllen 5.215 Ordner mit 270.000 einzelnen Seiten (diese können seit 2020 auch online eingesehen werden).

Wie soll es da möglich sein, Russlands Vorgehen in der Ukraine schon gleich am ersten Tag als «völkerrechtswidrigen russischen Militärangriff» zu beurteilen?

An dieser Stelle soll und kann kein völkerrechtliches Urteil über den Krieg in der Ukraine formuliert werden. Und selbstverständlich gilt auch für den Krieg in der Ukraine: Die vielen Opfer und die Zerstörungen auf beiden Seiten der Front belegen erneut, dass Krieg immer ein «Versagen der Politik und der Menschheit» (Papst Franziskus) ist. Jeder sollte aber auch wissen: Wenn der Krieg (ob nun noch «kalt» oder schon «heiß») erst einmal tobt, ist der Vorwurf «völkerrechtswidriger Angriffskrieg» oftmals eine Propagandaformel, vor allem zur Rechtfertigung der eigenen Kriegsführung – wie schon oben gesagt. Um so wichtiger ist die Forderung nach einer gründlichen und unvoreingenommenen Untersuchung.

Dass in Deutschland gegen Bürger, die das offizielle und das Friedensbewegungs-Narrativ vom «völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg» kritisch hinterfragen, strafrechtlich ermittelt wird und schon erstinstanzliche Strafurteile gefällt wurden, ist eher ein Hinweis darauf, wie stark die deutsche Demokratie unter ihrer Kriegsbeteiligung schon gelitten hat. Jeder, der ein bisschen wach ist, hat mittlerweile mitbekommen, wie politisch unkorrekte Positionen zum Krieg in der Ukraine, aber auch zu anderen Kriegen, an denen Deutschland beteiligt ist, ausgegrenzt werden sollen.

Titelbild: Shutterstock / mm7