Das fragwürdige Verhältnis des Westens zu Neutralität, freier Bündniswahl und Völkerrecht

Das fragwürdige Verhältnis des Westens zu Neutralität, freier Bündniswahl und Völkerrecht

Das fragwürdige Verhältnis des Westens zu Neutralität, freier Bündniswahl und Völkerrecht

Alexander Neu
Ein Artikel von Alexander Neu

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine ist, wie wohl kaum noch ernsthaft bestritten werden dürfte, auch ein Krieg zwischen Russland und der NATO, wenn auch unterhalb des direkten militärischen Schlagabtausches – noch. Es bleibt zu hoffen, dass dieser Krieg, so schrecklich er ist, jedoch regional begrenzt bleibt. Was ein Ausgreifen des Krieges auf Russland und auf NATO-Gebiet bedeuten würde, muss ich dem aufgeklärten Leser der NachDenkSeiten wohl kaum erklären. Dieser Stellvertreterkrieg ist ein Krieg, in dem es auf beiden Seiten in der jeweiligen Wahrnehmung um alles geht: Russland sieht seine staatliche Existenz und der Westen sieht seine „regelbasierte internationale Ordnung“, also seine Globaldominanz gefährdet. Wir erleben derweil einen Epochenbruch. Von Alexander Neu.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Es ist nicht nur ein Bruch, bei dem eine Großmacht innerhalb der westlichen Hemisphäre den Herrschaftsstab an eine andere übergeben muss, so wie die Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich als Ergebnisse des ersten und zweiten Weltkrieges den Stab an die USA abgeben mussten. Nein, es ist ein tatsächlich umfassender Epochenbruch, der das Ende der unipolaren Weltordnung unter Führung der USA, der globalen „Pax Americana“, darstellt. Ein Bruch, der das Ende der über 500-jährigen Globaldominanz des Westens über den Rest der Welt darstellt – eine Dominanz, die viele Jahrhunderte auch eine blutige Kolonialgeschichte gegen den Globalen Süden beinhaltet. Diese Kolonialgeschichte ist tief in der Erinnerungskultur des Globalen Südens verankert und bildet trotz aller Interessenunterschiede im Einzelnen eine Art gemeinsamen Identitäts- und Handlungsrahmen.

Das enorme Interesse von Staaten des Globalen Südens oder besser gesagt des Nicht-Westens an der Schanghaier-Kooperations-Organisation und am BRICS-Bündnis sind konkreter Ausdruck dieses gemeinsamen Identitäts- und Handlungsrahmens. Im Westen werden diese Zusammenschlüsse offiziell noch belächelt – zu groß seien die Differenzen beispielweise zwischen Pakistan und Indien, zwischen Iran und Saudi-Arabien. Nun hat es aber China vermocht, eine Annäherung zwischen dem Iran und Saudi-Arabien herbeizuführen. Saudi-Arabien emanzipiert sich sichtlich von den USA und vom Westen und zeigt Interesse, dem BRICS-Bündnis beizutreten.

Und dass hinter verschlossenen Türen die Furcht vor dem Machtverlust des Westens doch vorhanden ist, zeigt sich nicht zuletzt an dem Versuch, die Reihen im Westen unter US-Führung zu schließen. Es ist kein Platz mehr für irgendwelche nationalen Interessenberücksichtigungen und Eitelkeiten kleinerer westlicher Staaten. Das Motto lautet: Nur zusammen sind wir stark und können nur zusammen unserem globalen Machtverlust entgegentreten, so der Irrglaube. Statt den unaufhaltsamen relativen globalen Machtverlust zu akzeptieren und die neue multipolare Weltordnung konstruktiv mitzugestalten, um vom Rest der Welt als Mitgestalter einer neuen Ordnung wahrgenommen zu werden, wird an dem Abwehrkampf festgehalten, der auch in der Ukraine als solcher zu beobachten ist. Denn die Ukraine ist auch Objekt dieses geopolitischen Machtkampfes in der sich herausbildenden multipolaren Welt(un)ordnung.

Recht auf freie Bündniswahl

Die Ukraine habe wie jedes Land ein Recht auf freie Bündniswahl, ist das immer wieder zu hörende Mantra aus Washington, Brüssel, London und Berlin. Einmal davon abgesehen, dass die Ukraine unbedingt in die NATO will, wofür es jedoch zuvor eines Staatstreichs (2014) bedurfte, bei dem prowestliche Eliten mit wohlwollender Unterstützung des Westens die Macht an sich rissen und in der Folge das Beitrittsziel zur NATO und EU sogar Verfassungsrang erhielt, ist weder die NATO noch die EU verpflichtet, Staaten aufzunehmen. Im Gegenteil versprach die US-Administration im Zuge der deutschen Einheit, die NATO nicht auszudehnen. Dieser Fakt ist nun trotz abenteuerlichster Interpretationsversuche westlicher NATO-Erweiterungsapologeten hinreichend geklärt. Hierzu lohnt einen Blick auf einen kurzen Ausschnitt des Weltspiegels, in dem der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher genau dies hervorhebt:

Aber, wie ernst ist es dem Westen mit der freien Bündniswahl oder auch dem Respektieren staatlicher Neutralität? Hierzu ein paar Beispiele:

  1. Brasilien: Die Bundesregierung forderte von Brasilien die Lieferung von Panzermunition für die Ukraine. Zwar hat Brasilien die Resolution der UNO-Generalversammlung, in der der Angriff Russlands auf die Ukraine verurteilt wird, mitgetragen. Weitergehende Schritte Brasiliens, etwa die Teilnahme an der westlichen Sanktionspolitik oder die Lieferung von Rüstungskomponenten, lehnt das Land aber ab. Stattdessen hat der brasilianische Präsident Lula da Silva dem Westen eine Mitschuld an dem Krieg attestiert. Und die westliche Sanktionspolitik würde die Volkswirtschaften vieler Länder weltweit belasten. Die Bundesregierung war über die Entscheidung zur faktischen Neutralität Brasiliens nicht begeistert. Ein solch selbstbewusster Widerstand, ja sogar offene Kritik am Westen, kennt der bis kürzlich alles dominierende Westen nicht. Das Nein anderer, nicht-westlicher Staaten, ist gewöhnungsbedürftig.
  2. Schweiz: Auch die neutrale Schweiz soll Panzermunition liefern, fordert die deutsche Bundesregierung. Bislang hat sich die Schweiz auf ihre generelle politische Neutralität berufen und damit auch gute Erfahrungen gemacht. Die Schweiz steht zwar politisch fest im Westen und hat sich sogar den EU-Sanktionen (entgegen dem Anspruch der politischen Neutralität) gegen Russland angeschlossen, will jedoch keine militärische Bündnispolitik und somit auch keine Aufgabe der letztlich militärischen Neutralität.

    Der Druck aus Deutschland und der NATO auf die Schweiz, ihre Neutralität im Falle der Ukraine kurzerhand auszusetzen, ist wohl enorm. In der Schweiz selbst tobt dazu eine Diskussion, wie man damit umgehen solle. Anfang Juni behandelte das Schweizer Parlament, eine „Lösung“ des Problems mit dem Begriff „Lex Ukraine“. Gegenstand der „Lex Ukraine“ war, das Verbot für den Export schweizerischen Kriegsmaterials, begrenzt auf die Ukraine, bis 2025 auszusetzen. Das schweizerische Parlament lehnte die „Lex Ukraine“ letztlich mit 98 zu 75 Stimmen ab. Fakt ist: Egal, welche „Lösung“ in Bern gefunden würde, um die Neutralität zu umgehen, ohne sie scheinbar aufzuheben – die Neutralität wäre damit Geschichte, denn Ausnahmen stellen einen Präzedenzfall, einen Dammbruch dar.

  3. Österreich: Ist militärpolitisch ebenfalls ein neutrales Land. Mehr noch als die Schweiz ist Österreich allerdings in westlichen geopolitischen und geoökonomischen Strukturen verankert. Insbesondere die EU-Mitgliedschaft Österreichs trägt dazu bei, dass das Land alle gefällten politischen Entscheidungen der GASP (Gemeinsame Außen und Sicherheitspolitik) mitträgt – so auch beispielsweise bei der Verhängung von EU-Sanktionen gegen Russland. Allerdings gehört Österreich nicht zu den Sanktionshardlinern und beruft sich dabei auf seine Neutralität. Die österreichische Wirtschaft ist nicht unerheblich mit der russischen verflochten. Das ZDF skizziert die österreichische Politik unter dem Titel „Der Rubel rollt für Österreichs Wirtschaft“ wie folgt: „Zum österreichischen Stolz gehört die ‚immerwährende Neutralität‘, die sich seit Jahrzehnten auszahlt. (…)“ Dazu gehöre, „dass man Geschäftsbeziehungen erhält, über Kriege hinweg“.

    Anders als die Bundesregierung scheint man in Wien keine Deindustrialisierung des Landes in Kauf nehmen zu wollen, sondern nationale Interessen zu berücksichtigen. Für Brüssel und Berlin wiegt schwerer noch, dass Wien tatsächlich im Verbund mit ein paar anderen EU-Staaten eigene Interessen mit Blick auf die sicherheits- und militärpolitische Ebene vorne anstellt. So hat der österreichische Kanzler Nehammer deutlich gemacht, er werde sich einer Zustimmung zu Sicherheitsgarantien für die Ukraine verweigern. Auf Twitter postete er folgende Nachricht:

    „Für uns als neutrale Staaten ist klar: Wir werden uns nicht an Sicherheitszusagen zur langfristigen Verteidigung der Ukraine beteiligen. Wir werden uns beim EU-Gipfel gemeinsam dafür einsetzen, dass die Stellung der Neutralen in der EU weiterhin ausdrücklich berücksichtigt wird.“

    Die Reaktion kam prompt seitens der Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundestages auf Twitter:

    „Ein erbärmliches Vorgehen des österreichischen Bundeskanzlers (…). Ein moralischer Bankrott.“

    Einmal davon abgesehen, dass die Vorsitzende des deutschen Verteidigungsausschuss so undiplomatisch gegen einen Staatschef eines anderen Landes austeilt, der die Neutralität seines Landes gewahrt wissen will, wird auch die Triebfeder der Vorsitzenden deutlich: Moral statt Politik.

  4. Ungarn: Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán gilt in der EU mittlerweile als schwarzes Schaf. Zwar hat Ungarn keine politische oder militärpolitische Neutralität verkündet, ist vielmehr Mitglied der EU und der NATO, verweigert sich jedoch, den Erwartungshaltungen Brüssels und Washingtons in Gänze zu entsprechen. Offensichtlich ist Orbán bestrebt, obschon NATO- und EU-Mitglied, ein gewisses Maß an souveräner Außen- und Innenpolitik beibehalten zu wollen, sprich diese nicht gänzlich an Washington und Brüssel abzutreten.

    Der ungarische Ministerpräsident Orbán trägt widerwillig die EU-Sanktionen mit, hinterfragt offen deren Wirksamkeit und verhandelt hart für Sanktionsausnahmen für sein Land, um die nationalen Interessen Ungarns zu schützen. Das Verhältnis innerhalb der NATO und der EU ist gegenüber Ungarn mindestens belastet. Und auch das ukrainisch-ungarische Verhältnis ist getrübt, da auch die Ukraine uneingeschränkte Solidarität von Ungarn einfordert, während Ungarn die Minderheitenrechte der in der Ukraine lebenden rund 100.000 Ungarn gefährdet sieht. Der politische und moralische Druck auf Orbán ist enorm, die Zustimmung der ungarischen Bevölkerung zu seinem politischen Kurs aber groß.

  5. Serbien: Serbien positioniert sich außen- und sicherheitspolitisch in der Tradition Jugoslawiens als neutraler Staat und betreibt eine bislang erfolgreiche Schaukelpolitik – orientiert an seinen jeweiligen nationalen Interessen. Obschon Serbien bestrebt ist, Mitglied der EU zu werden, verweigert es die sogenannte euro-atlantische Integration, soll heißen, auch NATO-Mitglied zu werden. Dieser Schritt wird von Serbien aus mehreren Gründen dezidiert abgelehnt:

    Erstens die Erinnerung an den 77-Tage währenden völkerrechtswidrigen Krieg der NATO gegen Jugoslawien sowie die damit einhergehende, ebenfalls völkerrechtswidrige gewaltsamen Abtrennung serbischen Staatsgebietes (Kosovo) von Serbien, die bis heute fortgesetzt wird – auch durch die EU und die Mehrheit ihrer Mitgliedsstaaten. Weder die UN-Charta noch die UN-Sicherheitsratsresolution 1244, in der nochmals die territoriale Integrität Jugoslawiens und seines Rechtsnachfolgers Serbiens garantiert wird, haben den Westen davon abgehalten, das Kosovo faktisch und formal abzutrennen. Daher wirkt es immer ein wenig befremdlich, wenn der Westen mit Blick auf die Ukraine die eigentlich richtige, da völkerrechtlich konforme territoriale Integrität des Landes einfordert, mit Blick auf Serbien indessen diese aktiv verletzt.

    Und zweitens das traditionell enge Verhältnis zwischen Serbien und Russland, was eine NATO-Integration ebenso nahezu unmöglich macht. Im Kontext des russisch-ukrainischen (Stellvertreter-)Kriegs wächst der Druck auf Serbien, sich dem Westen vorbehaltlos anzuschließen. Serbien solle als EU-Beitrittsaspirant auch die Sanktionsbeschlüsse Brüssels uneingeschränkt umsetzen. Belgrad verweigert dies bislang mit dem Hinweis, so lange Serbien nicht Vollmitglied sei, werde es seine Außenpolitik gemäß seinen nationalen Interessen formulieren. Hinzu kommt: In Serbien wachsen angesichts des schleppenden Beitrittsprozesses die Zweifel an der Ernsthaftigkeit der EU, Serbien tatsächlich eine Vollmitgliedschaft gewähren zu wollen. Währenddessen wachsen ganz zufällig die Spannungen im Kosovo. Dort gießt die albanische Führung im Norden des Kosovo eindeutig Benzin ins Feuer mit dem Ergebnis, dass es jüngst zu einem erneuten Gewaltausbruch zwischen dort lebenden Serben, deren Rechte immer weiter eingeschränkt werden, und den kosovo-albanischen bewaffneten Kräften und der sie unterstützenden K-FOR (faktisch NATO-Kräfte) gekommen ist. Zwar könnten NATO und EU die kosovo-albanische Führung disziplinieren, da das Kosovo gänzlich vom Westen abhängig ist, tun sie aber nicht. Ob die Kosovo-Albaner dabei nicht nur Subjekt, sondern auch Objekt geopolitischer Machtspielchen gegenüber Serbien sind, um auf diese Weise Serbien gefügig zu machen, darüber mag sich ein jeder selbst ein Urteil bilden. Jedenfalls werden durch die wachsenden Spannungen im Kosovo die Handlungsspielräume Serbiens hinsichtlich seiner souveränen Schaukelpolitik und der Aufrechterhaltung seiner Neutralität immer kleiner.

Völkerrecht und die Macht des Stärkeren

Das Völkerrecht ist nicht das Recht der Völker, wie der Begriff zu illustrieren versucht, sondern primär das Recht der Staaten und ihr Verhältnis zueinander. Die Subjekte des Völkerrechts oder besser gesagt des Internationalen Rechts sind die Staaten. Die Kriege zwischen Staaten und ihre katastrophalen Zerstörungen in der Menschheitsgeschichte haben zur Entwicklung des rechtlich fundierten Verhältnisses der Staaten beigetragen. Die Akzeptanz der staatlichen Souveränität war ein zentraler Baustein des Westfälischen Friedens, um den 30-jährigen Krieg 1648 zu beenden. Mit dem Westfälischen System nahm das moderne Völkerrecht seinen Anfang. Auch die Charta der Vereinten Nationen stellt die Souveränität der Staaten an die Spitze und lehnt folgerichtig die Einmischung in innere Angelegenheiten der Staaten ebenso wie einseitige bzw. gewaltsame Territorialveränderungen strikt ab, wie die Androhung oder Anwendung von Gewaltmaßnahmen. Als Ausnahmen gelten lediglich Entscheidungen des UNO-Sicherheitsrates sowie das natürliche Recht auf Selbstverteidigung. Die Gründung der UNO und ihre Kompetenzen als System gegenseitiger kollektiver Sicherheit sollte dem anarchischen Staatensystem etwas entgegensetzen. Die „Zutaten“ der UN-Charta sind theoretisch gesehen Stoff genug, um einen „ewigen Frieden“ zu ermöglichen. Allerdings setzt dies auch die Rechtstreue aller Mitglieder, vor allem der Großmächte voraus. Das ist der idealistische Teil, soll heißen: wie es sein könnte und sein sollte für einen dauerhaften Frieden.

Aber allein die Konstruktionsfehler der Vereinten Nationen (das Fehlen eigener Truppen, das Fehlen der Sanktionierung auch von ständigen Sicherheitsratsmitgliedern bei Rechtsbrüchen, die relative Machtlosigkeit der UN-Generalversammlung etc.) sind nicht die Schuld der UNO. Es sind keine Zufälle oder mangelnde Aufmerksamkeiten, sondern gewollte Defizite, die von den Großmächten installiert wurden, um ihren Status als faktisch über der UNO stehend zu sichern. Denn internationale Regierungsorganisationen können immer nur so machtvoll sein, wie ihre Mitgliedsstaaten ihnen Macht zubilligen. Und die USA, China oder Russland sind mächtiger als die UNO und übergehen die UNO, sofern es ihren nationalen Interessen entspricht. Die einen mehr, die anderen weniger, aber alle tun es. Überfallene Staaten haben das Recht, die UNO als System gegenseitiger kollektiver Sicherheit um Hilfe gegen den Aggressor zu bitten. Das ist der Kernauftrag der UNO. Nur, sie bekommen die Hilfe der UNO in der Regel nicht: Erstens, da das Vetorecht im UN-Sicherheitsrat vom Aggressor (sofern die Aggression von einem der fünf ständigen Mitglieder ausgeht) selbst genutzt werden kann. Und zweitens ist die Vorstellung, die UNO würde dem Irak, Jugoslawien oder der Ukraine gegen die USA, gegen die NATO oder gegen Russland zur Hilfe eilen, doch sehr illusorisch. Selbst wenn sie es politisch wollte, sie könnte es allein materiell nicht.

In der politischen Praxis stellt sich das staatenzentrierte Weltsystem auch heute trotz UNO und anderer internationaler (regionaler oder globaler) Regierungsorganisationen und trotz permanenter Bekenntnisse zum Internationalen Recht immer noch relativ anarchisch dar. Das Recht des Stärkeren dominiert den Staatenverkehr wie in den letzten Jahrhunderten, und die Bekenntnisse zur Stärke des Rechts und der internationalen Rechtsstaatlichkeit sind faktisch Lippenbekenntnisse, die die wahre Machtpolitik bemänteln sollen.

Diese Realität hat in der Politikwissenschaft auch einen Namen: Die (neo-)realistische Denkschule. Diese beschreibt das Staatenverhältnis als einen steten Kampf um Machtzuwachs und Machtsicherung von Staaten. In der (neo-)realistischen Denkschule sind alle Mittel erlaubt, um die Macht des eigenen Staates in der internationalen Machthierarchie der Staaten zu sichern bzw. auszubauen. Und selbst das Internationale Recht spielt darin nur eine marginale oder schlimmer noch instrumentelle Rolle. Das Internationale Recht dient dann nicht mehr dem Ziel, ein gerechtes, stabiles und berechenbares Staatenverhältnis zu befördern und zu garantieren, in dem die souveränen Rechte auch kleiner Staaten geschützt sind. Es dient den Großmächten vielmehr als ein perfides Machtinstrument, um schwache Staaten im Zweifel zu knebeln. Besonders humoristische Vorlagen bieten politische Vertreter von Großmächten, wenn sie sich vor laufender Kamera Sorgen um das Internationale Recht machen, demnach ein anderer, ihnen nicht kooperativ erscheinender Staat gerade mal wieder das Recht breche und man sich dem entgegenstellen müsse.

Sie tun das in vollem Bewusstsein, dass auch sie nicht rechtskonform handeln, es hält sie aber nicht davon ab, das Internationale Recht dann „zu verteidigen“. In diesen leider eher regelmäßig vorkommenden Fällen handelt es sich dann um eine besonders platte Propaganda mit dem Ziel, die eigene Öffentlichkeit zu benebeln. So verteidigt der Westen die territoriale Integrität des einen Staates (Beispiel Ukraine und Georgien), untergräbt oder attackiert jedoch die territoriale Integrität eines anderen Staates (Beispiel Jugoslawien und Serbien), ohne darin überhaupt einen rechtlichen Widerspruch zu entdecken. Warum das sogenannte Selbstbestimmungsrecht nach westlichem Verständnis für die Kroaten, Slowenen, Bosniaken und Albaner Vorrang vor der territorialen Integrität Jugoslawiens hat, den Serben jedoch dieses Recht in Bosnien und dem Kosovo nicht zugestanden wird, ist nicht glaubhaft zu vermitteln, weil es nicht vermittelbar ist. Und umgekehrt Russland: Warum Moskau das Kosovo diplomatisch nicht anerkennt mit dem richtigen Hinweis, es verletze die territoriale Integrität Serbiens, aber zugleich Süd-Ossetien und Abchasien diplomatisch anerkannt hat und damit selbst die territoriale Integrität Georgiens substanziell verletzt, ist selbstverständlich eine machtpolitische Entscheidung und keine rechtliche Erwägung.

Und weiter: warum die Dislozierung taktischer Nuklearwaffen der USA in Europa angeblich völkerrechtlich konform sei, aber die gleiche Maßnahme Russlands in Weißrussland nicht. Die Liste machtpolitisch motivierter Doppelstandards mit einem Höchstmaß an Lächerlichkeit in ihrer Begründung ließe sich unendlich verlängern. Doppelstandards sind keine Unfälle, sondern gehören zu zentralen Mitteln des Instrumentenkastens des (neo-)realistischen Politikverständnisses.

Wenn man die Theorie des (Neo-)Realismus verstanden hat, versteht man auch die gegenwärtige Weltpolitik und ihr enormes Eskalationspotential. In Zeiten eines so massiven Epochenbruchs gilt die Anwendung aller Mittel, auch militärischer Mittel, in den Augen der Strategen im Westen wie auch in Russland und China als angemessen und legitim. Geradezu harmlos nimmt sich dagegen schon die vorsätzliche Missachtung von staatlicher Souveränität und Neutralität gegenüber kleineren Staaten aus.

In Kriegszeiten erlauben Großmächte keine Grauzonen mehr, keine Wackelkandidaten, unsichere Kantonisten oder Schaukelpolitiken. Wenn es um das Ganze geht, lautet die Losung, um es mit den einfachen Worten des damaligen US-Präsidenten George Bush jr. im Kontext des Terroranschlages in New York zu formulieren:

„Jede Nation in jeder Region muss nun eine Entscheidung treffen. Entweder sie sind mit uns oder auf der Seite der Terroristen.“

Kurzum, souveräne nationalstaatliche Entscheidungen kleinerer Staaten werden in solchen weltpolitischen Situationen nicht mehr akzeptiert. Die einzige Wahl besteht noch darin, sich anzuschließen oder unfreiwillig als Gegner mit allen denkbaren Folgen klassifiziert, mindestens aber als moralisch verkommen diffamiert zu werden. Krisen- und Kriegszeiten sind jene Zeiten, in denen Menschen ihre düsterste Seite offenbaren – auch und gerade in der Politik.

Titelbild: Shutterstock / Alisusha